Die Gefahr für unsere Demokratie geht nicht von den Armen, sondern von der Armut aus
Zur Vorbereitung für ein Referat „Armut gefährdet unsere Demokratie“ habe ich Ergebnisse von Meinungsumfragen über die Zustimmung zu unserer Demokratie und zur Einschätzung der gegenwärtigen Politik gesammelt. Die Ergebnisse sind eindeutig: Eine Gefahr für die Demokratie geht nicht von den Armen und an den gesellschaftlichen Rand Gedrängten aus, sondern von einer Politik, die immer mehr Armut zulässt und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich nicht aufhält, sondern vertieft hat. Diese Datensammlung wollte ich Ihnen gerne zur Kenntnis bringen. Wolfgang Lieb
Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie wächst – aber Zustimmung zum Grundgesetz steigt
Im Deutschlandtrend von infratest dimap (veröffentlicht am 3. 11. 2006) wurde gefragt „Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert alles in allem sehr zufrieden/zufrieden?“
46% der Westdeutschen und 68% der Ostdeutschen (Durchschnitt 51 %) gaben an, dass sie weniger oder gar nicht zufrieden sind, wie die Demokratie in Deutschland tatsächlich funktioniert. Das ist der niedrigste Zustimmungswert, der je im ARD-Deutschlandtrend gemessen wurde.
Nach einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie des Münchner Instituts Polis/Sinus [PDF – 248KB] Gesellschaft für Sozial- und Marktforschung mbH (veröffentlicht am 8. Juli 2008) antworten auf die Frage „Was glauben Sie, wie gut funktioniert die Demokratie bei uns in Deutschland?“ 4 von 10 Deutschen, die Demokratie funktioniere „weniger gut“ oder gar „schlecht“.
Auch im sog. Eurobarometer der EU ist die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland deutlich gesunken. Waren etwa 1979 80%, 1990 81%, 2000 immerhin noch 71% mit der Demokratie im Lande zufrieden, so waren es 2006 nur noch 55%.
Andererseits:
Anlässlich des 60. Jahrestags des Grundgesetzes hat das Institut für Demoskopie Allensbach gefragt:
„Finden Sie das Grundgesetz im Großen und Ganzen gut oder nicht gut?“
Darauf antworteten 82 %, sie fänden die Verfassung gut. 1955 waren nur 30% dieser Meinung und 1972 waren es 52 %. Allerdings in den neuen Ländern äußern sich zurzeit nur 58% positiv über das Grundgesetz.
Auch nach der Polis/Sinus-Studie der FES findet die große Mehrheit der Bundesbürger (78 %), dass unsere Gesellschaftsordnung verteidigenswert ist (25 % vorbehaltlos, weitere 53 % mit Einschränkungen).
II. Staatsverdruß oder Politikverdruß bzw. Politikerverdrossenheit
In den Medien wurden die Umfragen mit den ziemlich negativen Bewertungen über das Funktionieren unserer Demokratie mit den Überschriften „Demokratieverdruß“ oder „Demokratie als Auslaufmodell“ aufgegriffen (z.B. im Spiegel).
Der Politologe Franz Walter sprach gleichfalls im Spiegel) von „Staatsverdruß“.
Demokratieverdruß eine leichtfertige Interpretation:
Es war eindeutig nach der Art und Weise des Funktionierens der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland gefragt worden. Damit, wie sie bei uns tatsächlich funktioniert, sind 46% im Westen und 68% im Osten nicht zufrieden. Dass darunter auch solche sind, die mit dem demokratischen System insgesamt nicht einverstanden sind, will ich nicht bestreiten. Aber die Zahlen sagen darüber nichts.
Schaut man sich die Umfragen etwas genauer an, dann ist es eigentlich nicht verwunderlich, warum so viele Menschen mit dem „Funktionieren der Demokratie“ unzufrieden sind:
Die Unzufriedenheit mit dem „Funktionieren der Demokratie“ korreliert ziemlich exakt mit den Werten auf die Frage „Finden Sie, dass es in Deutschland alles in allem eher gerecht oder eher ungerecht zugeht?“ (ARD Deutschlandtrend, infratest diamap) Danach finden 56 % der Befragten, dass es in Deutschland eher ungerecht zugeht.
Nach der Polis/Sinus-Studie der FES ist die Mehrheit der Bundesbürger (57%) reformskeptisch eingestellt: 35 Prozent sprechen sich für eine Reformpause aus, weitere 22 Prozent fordern gar eine Rückgängigmachung von Reformen der letzten Jahre.
Mehrheit gegen die Reformen der letzten 8 Jahre
58 Prozent halten die Hartz-Reformen alles in allem für nicht gut, nur 31 Prozent bezeichnen sie aus jetziger Sicht als gut (ZDF-Politbarometer August 2007).
78 Prozent sind für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für alle Branchen (ebd.)
Gleichfalls 78 Prozent sind gegen die Rente mit 67.
In einer jüngsten Umfrage 2009 von TNS Emnid sind 78% für den Verbleib der Bahn im öffentlichen Eigentum und nur 20% für die Teilprivatisierung.
73% glauben nicht daran, dass durch die Lockerung des Kündigungsschutzes und eine Ausweitung der Probezeit auf 24 Monate in ihrem Betrieb neue Arbeitsplätze geschaffen würden (S. 46).
Zu vielen weiteren Reformen der Agenda 2010, etwa zur Rentenreform, zur Arbeitslosenversicherung etc., ist die Haltung der Bevölkerung gleichfalls mehrheitlich ablehnend.
Nach der gewiss reformfreudigen McKinsey Studie „Perspektive Deutschland“ (2006) hält die Hälfte der Teilnehmer die bisherigen „Reformen“ nicht für erfolgreich, und kaum jemand (15%) glaubt davon profitieren zu können (S. 34).
Mehrheit für Sozialstaat und für mehr sozialen Ausgleich
Nach der genannten McKinsey Studie sind 76% der Befragten der Ansicht, dass die sozialen Unterschiede schrumpfen sollten. Nicht einmal jeder Dritte hält die Vermögensverteilung für gerecht. Sogar nur 60 Prozent der Parlamentarier sind laut Spiegel davon überzeugt, dass das Vermögen in Deutschland gerecht verteilt ist.
Alle Umfragen zeigen, dass eine große Mehrheit in der Bevölkerung am Sozialstaat, an einer solidarischen Gesellschaft festhalten will.
Wenn die Politik in zentralen Fragen der sozialen Sicherheit dauerhaft gegen den Mehrheitswillen regiert, ist die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie nicht verwunderlich.
Nehmen wir nur einmal die besonders unzufriedenen Ostdeutschen:
Den Menschen ist versprochen worden, dass der Beitritt zur bundesrepublikanischen Demokratie ihnen mehr Glück und „blühende Landschaften“ (Kohl) bringt. Mehr als ein Fünftel von ihnen ist aber heute arbeitslos und sieht keine berufliche Perspektive mehr. Ihre Familien, Dörfer und Städte leiden unter der Abwanderung von jungen Leuten und gerade der beruflich Qualifizierteren, und die Mehrheit – auch im Westen – leidet unter der zunehmenden Ungerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Und darunter, dass für sie wichtige staatliche Angebote wie Jugendzentren oder Fürsorgemaßnahmen heruntergefahren und ausgedünnt werden. Die gerade für die Schwächeren wichtigen öffentlichen Leistungen sind ein Opfer der Entstaatlichungs- und Privatisierungsideologie. Die schönen Reden der Politiker von „Freiheit“ und „Eigenverantwortung“ wirken auf immer mehr Menschen angesichts ihrer täglich erfahrbaren Perspektivlosigkeit wie Hohn.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Politiker die Interessen der Großen bedienen und bei den Kleinen zulangen. Die Vermögenssteuer wurde gestrichen, die Gewinne der „Heuschrecken“ sind steuerfrei gestellt worden, die Spitzensteuersätze und die Unternehmenssteuern wurden gesenkt; im Gegenzug wird wurden die Renten drastisch gekürzt und bei Neurentnern besteuert, die Pendlerpauschale, der Sparerfreibetrag, die Steuerfreiheit von Feiertags- und Nachtzuschlägen wurden beschnitten und es wurde die Mehrwertsteuer, die gerade die niedrigen Einkommensbezieher am stärksten trifft, um drei Punkte erhöht.Die Reformen haben zwar gegriffen, aber überwiegend in die Taschen der „Kleinen Leute“. Dies alles vor dem Hintergrund, dass sich in den letzten Jahren die Vermögensumverteilung von unten und von der Mitte nach oben beschleunigt hat. Nach einer im Januar 2009 vom DIW veröffentlichten Studie haben die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung in den letzten fünf Jahren noch mal satte drei Prozentpunkte zugelegt. Sie besitzen nun über 61 Prozent des gesamten Vermögens. Das reichste ein Prozent der Bevölkerung vereinigt inzwischen 23 Prozent allen Vermögens auf sich.
Die ärmeren 70 Prozent besitzen hingegen zusammen nur neun Prozent des gesamten Vermögens. 27 Prozent der Erwachsenen haben überhaupt nichts auf der hohen Kante beziehungsweise Schulden.
Die Schulden der ärmsten zehn Prozent sind größer geworden. Sie sind im Durchschnitt mit rund 15.000 Euro verschuldet
(DIW Wochenbericht 4/2009 [PDF – 67 KB]).
Auch die gewiss wirtschaftsfreundliche OECD konstatierte im Herbst letzten Jahres, dass in Deutschland Einkommensungleichheit und relative Armut in den vergangenen Jahren stärker gewachsen sind als im OECD-Schnitt.
Der Anteil der Menschen, die in relativer Armut leben – d.h. mit weniger als der Hälfte des Medianeinkommens auskommen müssen – liegt mittlerweile knapp über dem OECD-Schnitt, während die Armutsquote Anfang der 90er Jahre noch rund ein Viertel geringer war als im OECD-Mittel (siehe OECD-Bericht [PDF – 67 KB]).
Die Lohnquote – der Anteil der Arbeitnehmerentgelte (d.h. der Bruttolöhne incl. Lohnsteuern, Sozialabgaben und incl. AG-Anteile an Sozialversicherungsbeiträgen) am Volkseinkommen lag noch Anfang der 80er Jahre bei 76%. Bis zum Jahr 2000 ist der Anteil auf 72,2% nur langsam zurückgegangen. In den letzten 7 Jahren seit dem Jahr 2000 hingegen brach die Lohnquote regelrecht ein: im Gesamtjahr 2007 auf nur noch 64,6% (Destatis)! Zum Vergleich: Die USA haben seit Jahrzehnten eine konstante Lohnquote von etwa 70%!
Was steckt hinter diesem scheinbar harmlosen Rückgang der Lohnquote um rd. 8%? Nun, dieser Rückgang bedeutet schlicht, dass die Arbeitnehmer und mit Ihnen die Sozialversicherungssysteme und der Staat auf nunmehr jährlich 135 Milliarden Euro (in den letzten 4 Jahren insgesamt über 400 Milliarden Euro) verzichten zugunsten der Unternehmer und Vermögenden (siehe NachDenkSeiten).
Selbst Bundespräsident Köhler spricht vom „Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wenn die Einkommen der einen stark steigen, die der anderen dagegen eher stagnieren“.
Die Schere zwischen Managern und Mitarbeitern öffnet sich seit Jahren immer weiter. 1987 verdienten Dax-Vorstände im Vergleich zum Durchschnittsgehalt der Beschäftigten noch das 14-Fache, 2006 war es das 44-Fache. Einschließlich Aktienoptionen beträgt das Verhältnis bei der Telekom 47, bei Siemens 59, bei Volkswagen 61, bei Lufthansa 94 (Focus Money).
Die Bruttolöhne und -gehälter gingen in den Jahren zwischen 2002 und 2005 real von durchschnittlich 24.873 Euro auf 23.684 Euro und damit um 4,7% zurück (laut Drittem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung).
Rund 1,6 Millionen Haushalte sind überschuldet (Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung).
Während im Jahr 2002 8,8% der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich tätig waren, waren es 2005 bereits 9,3% (Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung). Das Risiko, in Deutschland einkommensarm zu sein, lag der amtlichen Erhebung LEBEN IN EUROPA zufolge im Jahr 2005 in Deutschland vor Sozialtransfers bei 26%. Nach Sozialtransfers betrug es noch 13% (Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung).
Nach einer anderen Statistik des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die Basis für den ersten und zweiten Armutsbericht (2001 und 2003) war, stieg die Zahl der Armen sogar von 16 Prozent im Jahr 2003 auf 18 Prozent 2005 (siehe Börse online).
Das gestiegene Armutsrisiko bezieht sich dabei nicht mehr nur auf die Schicht am unteren Ende der Gesellschaft. Das Problem greift bis in die Mitte der Gesellschaft hinein [PDF – 48 KB].In den vergangenen 15 Jahren nahm die Zahl der Haushalte im mittleren Einkommensbereich um 14 Prozent ab. Die Zahl der Haushalte mit niedrigen Nettoeinkommen stieg um 27 Prozent (Böckler Impuls [PDF – 71 KB]).
Zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen zählen Arbeitslose (43%), Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung (19%) und Alleinerziehende (24%). Das Armutsrisiko ist in Ostdeutschland (15%) höher als in Westdeutschland (12%) (Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung).
Unter allen abhängig Beschäftigten liegt der Anteil von Niedriglöhnen (unterhalb von zwei Dritteln des Medians) 2006 bei gut 22% (6,5 Millionen Beschäftigte) – d.h. mehr als jede/r Fünfte ist gering bezahlt. Gegenüber 1995 ist der Niedriglohnanteil in Deutschland damit um gut 43% gestiegen. Der durchschnittliche Stundenlohn der Niedriglohnbeziehenden ist seit 2004 gesunken, während er in den Vorjahren gestiegen ist (Quelle: IAQ-Report).
Im Januar 2009 hatten etwa 5,794 Millionen erwerbsfähige Frauen und Männer Anspruch auf Arbeitslosengeld (SGB III) bzw. Arbeitslosengeld II (Quelle: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufsbildungshilfe e.V.).
War 1965 nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren auf Sozialhilfe angewiesen, ist es heute mehr als jedes sechste. Mittlerweile gelten 14 Prozent aller Kinder offiziell als arm. Schätzungsweise 5,9 Millionen Kinder lebten in Haushalten mit einem Jahreseinkommen der Eltern von bis zu 15.300 Euro. Dies entspreche rund einem Drittel aller Kindergeldberechtigten Kinder. Seit Einführung von “Hartz IV” hat sich die Kinderarmut verdoppelt “Kinderreport 2007″ des Deutschen Kinderhilfswerks. Siehe auch
Im Durchschnitt erreichen Männer eine Versichertenrente von 1.029 €, Frauen dagegen nur 629 €. In den alten Ländern fallen die Unterschiede zwischen Männern (1.074 €) und Frauen (598 €) noch größer aus, in den neuen Ländern (Männer: 862 €; Frauen: 748 €) entsprechend geringer (Altersvorsorge in Deutschland 2005 im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Bund und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales [PDF – 1,3 MB]).
Während heute noch 25 Beitragsjahre (wohlgemerkt) mit einem Durchschnittseinkommen erforderlich sind, um in der Altersrente überhaupt erst einen Anspruch auf Altersrente in Höhe der Grundsicherung von 660 Euro im Monat zu erreichen, müssen es 2030 bereits 30 Jahre sein (siehe NachDenkSeiten).
NRW Sozialminister Karl-Josef Laumann: „Wer heute für sieben Euro in der Stunde arbeitet, muss 44 Jahre arbeiten, um eine Rente oberhalb der Armutsgrenze zu bekommen.“
(zum NRW Armutsbericht).
Die ehemalige DGB-Vizechefin Engelen-Kefer: „Aus einer jüngeren OECD-Studie geht hervor: Deutschland liegt im internationalen Vergleich beim Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung nach den Reformen der letzten Jahre für den so genannten Eckrentner mit 45 Beitragsjahren und Durchschnittseinkommen mit 39,9 Prozent des durchschnittlichen Bruttoeinkommens 2030 weit unten. (Heute beträgt das Rentenniveau noch 48,7 Prozent vom durchschnittlichen Bruttoeinkommen.) Zu berücksichtigen ist hierbei, dass in Zukunft immer weniger Arbeitnehmer überhaupt 45 beitragspflichtige Beschäftigungsjahre und über so lange Zeit ein Durchschnittseinkommen erzielen.“
Ermittlungen des vor allem im Osten beheimateten großen Sozialverbandes Volkssolidarität (um 400.000 Mitglieder) besagen, dass „ungefähr 8 % der Rentner im Bereich oder unterhalb der Armutsgrenze leben“ (derzeit in NRW zum Beispiel 615 € als Single, 1045 Ehepaar). 2030 könnten bis zu 25 % der Vollzeitbeschäftigten in Altersarmut geraten, wenn sie dann in Rente gehen. Ursache seien geringe Beitragsleistungen zur Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und fehlende Möglichkeiten zu privater Vorsorge durch Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung.
Die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie schlägt um in eine Politikerverdrossenheit
Regelmäßig werden von Demoskopen Umfragen zum Ansehen bestimmter Berufsgruppen durchgeführt; dabei schneiden Politiker regelmäßig sehr schlecht ab. Nach einer Umfrage des IfD Allensbach „Vor welchem Beruf haben Sie besonders viel Achtung“ nennen gerade 6% die Politiker, das ist der zweitschlechteste Wert aller Berufsgruppen (Quelle: Statista).
Die Zweifel nehmen zu, ob Parteien und Politiker, die in den Parlamenten die Interessen ihrer Wählerschaft vertreten sollen, bei der Entscheidungsfindung ihre Aufgabe als Delegierte des Volkes wahrnehmen oder vernachlässigen. 47% meinen, die Politiker machen was sie wollen, deshalb sei es sinnlos, zur Wahl zur gehen. 51% sagen, alle Parteien sind gleich. Es ist egal, wen man wählt. Nur 23% halten die führenden Politiker für glaubwürdig, 49% für überwiegend nicht und 28% für gar nicht glaubwürdig. 44% sagen, die Politiker ließen sich bei ihrer Tätigkeit vor allem vom Erhalt der Macht leiten, und 24% meinen, es ginge den Politikern nur um den Erhalt ihrer Privilegien
(Initiave ProDialog, diamap abrufbar: http://wordpress.35xxx.de/?p=757).
Zum Glaubwürdigkeitsverlust hat sicherlich auch der „Drehtüreffekt“ beigetragen. So sind etwa von den 44 Ministern und Staatssekretären, die nach dem Regierungswechsel ihren Posten abgeben mussten, 12 in eindeutige Lobbytätigkeiten gewechselt, weitere 3 üben Tätigkeiten aus, die Lobbyaspekte beinhalten (Quelle: LobbyControl; siehe dazu auch unter dem Suchwort „Drehtür“ in den www.nachdenkseiten.de mit zahllosen weiteren Beispielen).
Politik-/Parteienverdrossenheit
Rückläufige Mitgliederzahlen, hoher Altersdurchschnitt der Mitglieder (2003 sind 45,7 Prozent der CDU-Mitglieder über 60 Jahre alt, 42,2 Prozent bei der SPD) und eine Abnahme der Stammwählerschaft.
1990 hatten die Sozialdemokraten noch mehr als 940.000 Mitglieder, die CDU fast 780.000. Die Sozialdemokraten haben seither fast 400.000 Mitglieder verloren.
Ende Mai 2008 lagen die Sozialdemokraten auf Grund ihres dramatischen Mitgliederschwunds mit 531.737 eingeschriebenen Anhängern nur hauchdünn vor der CDU, die noch 531.299 Mitglieder verzeichnete. Ende Juni besaßen nur noch 529.994 Menschen ein SPD-Parteibuch.
Wahlbeteiligung erreicht fast überall historische Tiefstwerte
Insgesamt 47 Prozent der Befragten können sich durchaus vorstellen, an der nächsten Bundestagswahl nicht teilzunehmen (siehe Polis/Sinus).
2006 gingen in Berlin 58 Prozent zur Wahl. 15% aller Wähler haben SPD gewählt, 12,1% CDU, die Koalition aus SPD und Linke ist von 25,1% aller Berliner gewählt worden.
In Mecklenburg-Vorpommern sahen die Zahlen im Jahr 2006 ähnlich aus.
In Sachsen-Anhalt gingen 2006 über 55%, in Baden-Württemberg über 46% und in Rheinland-Pfalz rd. 42% der Wahlberechtigten nicht mehr zur Wahl. Bei den Kommunalwahlen in Hessen waren die aktiven Wähler in der Minderheit. Der wiedergewählte Ministerpräsident Wolfgang Böhmer fand gerade mal die Zustimmung von rund 15% seiner Landsleute, und der überaus populäre „Landesvater“ Kurt Beck hatte die Stimmen von einem guten Drittel der Rheinland-Pfälzer.
Die Wahlbeteiligung in der ziemlich spektakulären Wahl im mit 18 Millionen einwohnerstärksten Bundesland Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 war mit 63 Prozent die zweitschlechteste aller Landtagswahlen. Auch bei der Kommunalwahl in NRW im Jahr 2004 lag die Wahlbeteiligung nur bei etwas über der Hälfte der Wahlberechtigten.
In Thüringen beteiligten sich 2004 knapp 54 Prozent an der Wahl, und die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen im gleichen Jahr lag in Brandenburg bei 56% und in Sachsen bei 59%. Das hieß umgekehrt: 44 bzw. 41% der Menschen in diesen ostdeutschen Ländern blieben zu Hause. Kein Wunder, dass die NPD 9,2% und die DVU 6,1% erreichten.
Auch bei den letzten Landtagswahlen in Bayern (Wahlbeteiligung 58%) und in Hessen (Wahlbeteiligung 65%) erreichte die Beteiligung Tiefstwerte.
Ärmere Menschen beurteilen das Funktionieren der Demokratie weit überdurchschnittlich kritisch
73% der Arbeitslosen, 63% der Hartz-IV-Haushalte, 61% der Ostdeutschen, 60% der Haushalte mit einem Nettoeinkommen von unter 700 Euro beurteilen die demokratische Praxis in Deutschland kritisch (siehe Polis/Sinus Studie).
Nun ist es alles andere als erstaunlich, dass gerade solche Menschen mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden sind, denen es schlecht geht oder denen es in den letzten Jahren schlechter gegangen ist. Die These der Studie, dass „Armut bzw. soziale Disparität zu Demokratieverdruß“ führen, ist auch historisch nichts Neues; man denke nur an das Ende der Weimarer Republik.
Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis nicht mit Verdruß über die Demokratie als Staatsform verwechseln
Einleitend wurde schon darauf hingewiesen, dass die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie wächst, während die Zustimmung zum Grundgesetz steigt. Der Rückschluss, dass „aus persönlichem Misserfolg…Staatsferne“ werde, ist empirisch kaum haltbar (so allerdings der Auftraggeber der polis/Sinus-Studie und Leiter der Abteilung gesellschaftspolitische Information der Friedrich-Ebert-Stiftung Frank Karl im ZDF).
Die Unzufriedenheit mit der Demokratie wird als Ausdruck eines persönlichen Versagens gewertet und nicht etwa mit dem politischen Handeln in Verbindung gebracht. Frank Karl sieht in der Distanz großer Teile der Bevölkerung zur Demokratie nicht etwa eine „Politiker- oder Politikverdrossenheit“ oder eine „aktuelle Verärgerung“ über „einige politische Maßnahmen und Projekte“ oder „über das eine oder andere was nun gerade geschehen ist“, sondern „alarmierend“ sei „eine gewisse Systemdistanz“. Jemand dem es schlecht geht, der distanziere sich von der Demokratie, meinte Karl im Deutschlandfunk (Download der Studie [PDF – 248 KB]) .
Wie schon bei der ebenfalls von der FES in Auftrag gegebenen Erhebung [PDF – 88KB] von TNS Infratest Sozialforschung vom Februar/März 2006, aus der sich damals eine Debatte über die „Unterschicht“ speiste, werden Ursache und Wirkung verkehrt. Es werden die Betroffenen stigmatisiert, anstatt dass die Gründe analysiert werden, warum große Teile des „abgehängten Prekariats“ unzufrieden sind mit dem Funktionieren der Demokratie.
Diese stigmatisierende Interpretation halte ich nicht nur für falsch, sondern sogar für höchst gefährlich. Sie leistet nicht nur einer weiteren Spaltung der Gesellschaft Vorschub, sondern schürt geradezu antidemokratische Ressentiments. So hat etwa der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer in einer Langzeitstudie herausgefunden, dass etwa die „Arbeitslosenfeindlichkeit“ inzwischen die „Fremdenfeindlichkeit“ als Symptom „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ offenbar ablöste.
Die Opfer der Reformpolitik werden so unter der Hand zu schlechten Demokraten abgestempelt. Nicht die Tatsache, dass sich finanziell Schwächere ungerecht behandelt fühlen, ist demnach alarmierend, sondern dass sich 47 Prozent der Befragten durchaus vorstellen können, an der nächsten Bundestagswahl nicht teilzunehmen.
Aus der polis/sinus-Studie ergibt sich meines Erachtens vielmehr eindeutig, dass die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie weniger aus einer „Systemdistanz“ ergibt sondern in viel höherem Maße daraus, dass – wie Karl in dem DLF-Interview auch einräumt – der „Reformbegriff als hoffnungsmachend verbrannt“ ist. Dass jeder, wenn er Reform hört, nur noch daran denkt, sein Portemonnaie gut festzuhalten.
So ist es wenig überraschend, dass die Mehrheit der Bundesbürger (57 %) reformskeptisch eingestellt ist.
Dass es sozial gerecht zugeht, ist für die Deutschen ein konstituierender Bestandteil der Demokratie. 85% meinen, dass soziale Gerechtigkeit bedeutet, dass „jeder bei einem unverschuldeten Verlust seines Arbeitsplatzes abgesichert ist“. Und gerade diesen Eindruck, dass es sozial gerecht zugeht, hat die Mehrheit von der Unterschicht bis zur Mittelschicht verloren, und deshalb geht sie auf Distanz zu einer Demokratie, der etwa 53 % der Ostdeutschen keine Problemlösungskraft mehr zutrauen.
Weil zunehmend mehr Menschen nicht nur den Eindruck haben, sondern die Erfahrung machen, dass die „Demokratie“ (genauer die Politik), die wir in Deutschland haben, ihre Probleme nicht mehr lösen kann, wenden sie sich von der Politik (und eben (noch) nicht von der Demokratie) ab. Es sind wiederum die Prekarisierten, die am politischen Geschehen nur noch desinteressiert sind (25 %).
Wenn 82% der Deutschen glauben, dass das Volk politisch nichts zu sagen habe (DIE ZEIT, 18.01.2007 Nr. 04), dann ist die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie kaum erstaunlich. Dieter Roth von der Forschungsgruppe Wahlen, der schon vor 2004 eine umfangreiche Studie über die politische Partizipation in Deutschland erstellt hat, warnt deshalb zu Recht vor voreiligen Schlüssen: „Bei aller Unzufriedenheit wird die Demokratie als optimale Staatsform nicht in Frage gestellt.“ Selbst von denen, die die Ergebnisse der realen Demokratie beklagten, antworteten zwei Drittel auf die Frage, ob sie die Demokratie für die beste Staatsform in Deutschland halten, mit Ja.
Nicht die Demokratie, sondern die Regierung bekomme schlechte Noten (DIE ZEIT ebd.).
Verdruß am Funktionieren der Demokratie ein Nährboden für Neonazis
Zwar gibt es in Deutschland zum Glück noch immer eine überwiegende Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform; wer aber meint die Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis und die Alarmsignale wie Politik-, Politiker- oder Parteienverdrossenheit oder auch sinkende Wahlbeteiligung auf Dauer in den Wind schlagen zu können, stellt auf Dauer nicht nur demokratische Wahlen, sondern die Demokratie insgesamt zur Disposition.
Schon jetzt zeigen Untersuchungen, dass der Frust über die Politik einen Nährboden für Neonazis bereitet.
Es sind keineswegs nur die Ausgegrenzten und Armen in der Gesellschaft, sondern bis weit in die Mitte der Gesellschaft sind rechtsextreme Tendenzen verbreitet. So meinen etwa 15,4% der Deutschen, ein “Führer”, der Deutschland mit starker Hand regiert, wäre durchaus “zum Wohle aller“. Dass Ausländer nur hierher kämen, um den Sozialstaat auszunutzen, halten 36,9% für eine zustimmungsfähige Aussage. Und gar 39,1% meinen, Deutschland sei “in einem gefährlichen Maß überfremdet” (siehe “Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer Einstellungen”. Eine Studie von Oliver Decker, Katharina Rothe, Marliese Weißmann, Norman Geißler und Elmar Brähler unter Mitarbeit von Franziska Göpner und Kathleen Pöge. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin, Mai 2008).
Die Gefahr für unsere Demokratie geht also nicht von den Armen, sondern allenfalls von der Armut aus.
Es sind auch nicht die Glatzen aus MeckPom, die die Demokratie gefährden. Die viel größere Gefahr geht von den erlebten massiven Defiziten der Politik aus.
Es sollte mehr als ein Denkzettel für die Politik sein,
- wenn sich 44% vom Staat allein gelassen fühlen,
- wenn 61 Prozent meinen, es gibt keine Mitte mehr, nur noch ein Oben und Unten
- wenn 39 Prozent befürchten, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein
- wenn 14 Prozent sich in jeder Hinsicht als Verlierer der gesellschaftlichen
Entwicklung und gesellschaftlich ins Abseits abgeschoben sehen (so die TNS Infratest Sozialforschung vom Juli 2006 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung [PDF – 323 KB]).