12. BILD: Wer arbeitet, ist der Dumme!

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So lautete am 11.2.08 in Riesenlettern die Schlagzeile von BILD. „Immer mehr Arbeitnehmer bekommen weniger Geld als Hartz-IV-Empfänger“ und „Ohne Arbeit hätten wir 1 Euro mehr!“ wird eine Familie aus Dortmund zitiert. BILD stützt sich dabei auf eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und Vergleichsgrafiken des Bundes der Steuerzahler und nicht zuletzt schreibt Hugo Müller-Vogg noch einen Kommentar „Mehr Netto, damit sich Arbeit lohnt“.
Wieder einmal sollen Arbeitnehmer gegen Arbeitslose ausgespielt werden. Wolfgang Lieb

Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass ein wirtschaftswissenschaftliches Forschungsinstitut die Löhne mit den Sozialleistungen nach Hartz IV vergleicht.
Leider habe ich die von BILD zitierte Studie im IfW-Internetangebot nicht gefunden, so dass ich die Aussage – „mit Hartz IV stehen viele finanziell besser da als mit einem Vollzeitjob“ – nicht überprüfen kann. Solche Aussagen, dass Hartz-IV-Leistungen höher liegen sollen als Vollzeitlöhne erscheinen ja periodisch immer wieder. So hat etwa im Mai 2006 Ulrich Jörges, der stellvertretende Chefredakteur des Stern, unter der Überschrift „Der Kommunismus siegt“, „Arbeit wird verhöhnt, Nichtstun belohnt“ eine Polemik gegen den Sozialstaat und gegen Hartz IV-Empfänger geschrieben. Professorin Helga Spindler hat sich damals für die NachDenkSeiten der Mühe unterzogen, dem Wahrheitsgehalt an Hand der Statistik der Bundesagentur für Arbeit nachzugehen, und dabei herausgefunden, dass der von Jörges ausgerufene „Kommunismus“ in extremen Sonderfällen, nämlich bei 147 Familien in Deutschland oder 0,1% der sog. Bedarfsgemeinschaften ausgebrochen war. (Siehe dort).

Aber nehmen wir einmal an, die Aussagen des Kieler Instituts (dass „ein Paar mit drei Kindern eine Bruttoarbeitslohn von 2567,89 Euro bekommen müsste, um netto genauso viel zu haben, wie eine vergleichbare Hartz-IV-Famlie“) wären seriös berechnet und repräsentativ, dann stellt sich die Frage, was wollen uns diese Ökonomen damit sagen.
Ist ihr erkenntnisleitendes Interesse etwa, dass die Löhne zu niedrig sind, um einen „Anreiz für Arbeit“ zu schaffen? Oder wollen sie damit sagen, dass die Leistungen nach Hartz IV zu hoch sind, so dass es sich (ökonomisch) nicht lohnt zu arbeiten?

Die Antwort darauf, kann man den „wissenschaftlichen“ Aussagen des IfW zwanglos entnehmen:
Das Kieler Institut und spezielle sein Präsident, Prof. Dennis J. Snower sind bekannt dafür, dass sie vehemente Anhänger der These vom Arbeitsmarkt als einem Kartoffelmarkt sind, d.h. sie vertreten die Lehre, wenn der Preis der Arbeit nur niedrig genug ist, dann wird der Arbeitsmarkt geräumt und die Arbeitslosigkeit ist beseitigt. So z.B. Präsident Snower: „Die jüngsten wirtschaftspolitischen Vorschläge – eine Verlängerung der Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung oder eine Einführung von Mindestlöhnen – würden alle weniger statt mehr Beschäftigungsanreize schaffen.“

Die ökonomische Schule von Snower, Sinn, Straubhaar und anderen vertritt den Standpunkt, dass zu hohe Hartz IV-Leistungen ein sich an der Nachfrage nach Arbeit orientiertes freies Schwanken der Löhne nach unten verhindert. Das hinter diesem „Preismechanismus“ stehende schlichte gedankliche Konstrukt lautet: Preis (Lohn) runter, Angebot (Arbeit) auf dem Markt (Arbeitsmarkt) geräumt!
(Mit dieser eindimensionalen Denklogik habe ich mich erst unlängst auseinandergesetzt und deswegen will ich meine Kritik hier nicht wiederholen.)

BILD liefert einen „Finanzcheck“ „Hartz IV oder Vollzeitjob“: Einem Nettoverdiener von 1.200 Euro, dessen Frau einem Minijob mit 150 Euro nachgeht, kommt inklusive Kindergeld auf monatlich rund 1.500 Euro. Die vergleichbare „Bedarfsgemeinschaft“ einer Hartz-IV-Familie bekäme einen Grundanspruch von 673,30 Euro (das IfW nennt den Betrag von 624 Euro), 208 Euro Kinderzulage und „maximal 620 Euro für die ortsübliche Miete und die Heizkosten“, also auf 1501,30 Euro. „Lohnt sich die Arbeit denn wirklich nicht mehr?“, fragt BILD voller Mitgefühl für die Mehrzahl ihrer Leserinnen und Leser.

Es wird dabei suggeriert, dass die „maximal“ 620 Euro Miet- und Heizkostenzuschuss sozusagen der Normalfall und damit diese Adddition ein realistischer Vergleichswert zum Einkommen eines Lohnempfängers wäre. Dieser Maximal-Zuschuss wird allerdings – wie die schon zitierte Helga Spindler aus der Statistik entnommen hat – nur bei einer ganz geringen Zahl von Familien gewährt. Nämlich vielleicht für den Fall, dass die „Bedarfsgemeinschaft“ etwa in einer Stadt wohnt, wo der Mietspiegel sehr hoch ist und keine billigere Mietalternative besteht oder angeboten werden kann. Aus den meisten Regionen weiß man jedoch, dass Hartz-IV Haushalte schon bei viel geringeren Mieten zur Kostensenkung oder zum Umzug aufgefordert werden. Ja es gibt den sogar im Fernsehen dokumentierten Fall, dass bei einer Familie, die in einer „zu großen“ Wohnung wohnte, mangels billigerer Alternativen die Türen zu einzelnen Zimmern zugemauert wurden, damit der rechnerisch zustehende Flächenbedarf nicht überschritten wurde.

BILD vergleicht also einen Niedrigverdiener mit einem Nettostundenlohn von etwa 7,50 Euro mit einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft, die im Ausnahmefall einen maximalem Wohn- und Heizkostenzuschuss in Anspruch nehmen könnte. Diese Rechnung ist genau so unseriös, wie die gleichfalls in diesem Beitrag gemachte Angabe, wonach der zitierte Arbeitnehmer von seinem Wohnort Dortmund bis zu seiner Arbeitsstelle in Wuppertal „jeden Tag 100 Kilometer hin, 100 Kilometer zurück“ fährt. Auf jeder Straßenkarte oder auf jeder Entfernungstabelle hätte der Autor des Artikels nachschauen können, dass zwischen diesen beiden Ruhrgebietsstädten gut gerechnet etwa 50 Kilometer liegen.
Aber eine solide Rechnung hätte ja die Skandalgeschichte kaputt gemacht.

Um die Glaubwürdigkeit der Schlagzeile zu untermauern, druckt BILD neben einigen unbelegten Zahlen aus der IfW-Studie auch noch Vergleichsgrafiken des „Bundes der Steuerzahler“ ab. Mit den aufgeführten Säulengrafiken soll z.B. belegt werden, dass eine vierköpfige Hartz-IV-Familie gerade mal einen Euro weniger bekommt als ein ordentlich beschäftigter Arbeitnehmer mit einem Bruttogehalt von 1.621 Euro.
Auch bei diesem Vergleich liegt die Manipulationsmasse wieder bei dem zum Regelsatz addierten Miet- und Heizungszuschuss. Rechnerisch müssten diese Zulagen bei dieser Grafik gleichfalls deutlich über 500 Euro liegen.
Wie gesagt, solche Fälle mag es geben, aber dies als Normalfall hinzustellen, ist eine glatte Irreführung.

Was veranlasst nun den „Bund der Steuerzahler“ zu solchen irreführenden Vergleichen. Dazu muss man wissen, dass schon der Name dieses Bundes eine Täuschung ist. Er ist nämlich kein Interessenvertreter bzw. kein Anwalt der Steuerzahler, sondern eine kämpferische Lobbyorganisation für die Steuerinteressen von Unternehmen und des gewerblichen Mittelstands. 60 bis 70 Prozent seiner Mitglieder kommen aus diesem gesellschaftlichen Bereich. Dieser Bund und sein Vorsitzender Karl Heinz Däke ziehen schon seit Jahren gegen Steuern und Sozialabgaben zu Felde. Kein Wunder, dass etwa zur letzten Unternehmenssteuersenkung mit einer Bruttoentlastung von knapp 30 Milliarden nichts Kritischeres zu hören war, als dass diese Senkung immer noch zu gering ausgefallen sei.

Der ziemlich pharisäerhafte Vorsitzende Däke wird z.B. nicht müde, etwa die Diäten der Abgeordneten zu attackieren. Dass er selbst im Glashaus sitzt und als Präsident des BdSt drei Gehälter von mehr als 185.000 Euro pro Jahr kassiert hat und dazu noch für Vorträge Beträge in fünfstelliger Höhe einsackt, scheint ihm keineswegs die Schamesröte ins Gesicht zu treiben

Dem Steuerzahlerbund geht es auch nicht um Steuergerechtigkeit, sonst müsste er den Anstieg des Anteils der Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen von 1950 von 18,5% auf über 30% (BMF) schon längst als „Marsch in den Lohnsteuerstaat“ kritisiert haben. Und er dürfte vor allem nicht gleichzeitig wohlwollend hinnehmen, dass der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern von 1977 auf 2002 von 29% auf 14% gefallen ist (WSI-Info Nr. 3/2004).

Der BdSt will vor allem den „schlanken“, um nicht zu sagen den ausgehungerten Staat, er will Privatisieren und ihm wäre am liebsten, wenn statt (sozial gestaffelter) Steuern nur noch gleiche Gebühren für alle für die Leistungen der Daseinsvorsorge bezahlt werden müssten.
Vor allem aber geht es dem Steuerzahlerbund um die Senkung oder besser gleich Abschaffung der Sozialabgaben, Rente, Gesundheit oder Arbeitslosigkeit sollten privat finanziert werden und am besten mit einer für alle gleich hohen Kopfpauschale

Und hier treffen die ideologischen Linien mit BILD und ihrer seit Jahren andauernden Kampagne „Runter mit den Steuern! Runter mit den Abgaben!“ (so der Kommentar von Hugo Müller-Vogg) zusammen. Der BILD-Kolumnist gilt als Haus- und Hof-Berichterstatter der Bundeskanzlerin. Seine Lobeshymnen für Angela Merkel sind so orgiastisch, dass er von Spöttern und Kabarettisten gerne das „Kanzlerinnenzäpfchen” bezeichnet wird, deswegen ist es auch nahe liegend, dass er mal wieder den Merkel-Spruch „Mehr Netto vom Brutto“ nachplappert.

Selbst wenn die Berechnungen des IfW oder des Steuerzahlerbundes korrekt wären, warum kommen beide und warum kommt BILD eigentlich ausschließlich auf die Idee, die Steuern und Abgaben zu senken? Warum kommen sie nicht auf den Gedanken, dass die Löhne zu niedrig sind und der Abstand der Löhne zu den Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, die ja nicht mehr als „ein menschenwürdiges Dasein“ sichern sollen (§ 1 Sozialgesetzbuch), zu gering sein könnten?
Weder das IfW, noch der Steuerzahlerbund und natürlich auch nicht BILD kämen auf die Idee, darauf hinzuweisen, dass in Deutschland die Reallöhne von 1995 bis 2004 um 0,9 % gesunken sind, während sie in Schweden oder in England um ein Viertel (über 25%) gestiegen sind.

Nein, solche Vergleiche mit den Lohnsteigerungen in den Nachbarländern könnten ja die Arbeitnehmer nur auf falsche Gedanken bringen, etwa dass ihnen mehr Lohn zusteht als sie tatsächlich bekommen. Da könnten ja Lohnansprüche gegen die Arbeitgeberseite angemeldet werden und womöglich kollektiv erkämpft werden. Angesichts solcher Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit lenkt man doch lieber den Sozialneid auf diejenigen, die noch weiter unten in der sozialen Hierarchie stehen, nämlich auf die faulen Arbeitslosen, die „gleich im Bett liegen bleiben“, statt sich für einen Hungerlohn abzuschinden. Es gehörte eben schon immer zu den plumpsten Methoden der Herrschaftssicherung, dass die Herrschenden die Unterprivilegierten gegeneinander ausspielten.

Da sich BILD, IfW und BdST angesichts der seit Anfang der neunziger Jahre von knapp 73 % auf unter 67 % abgesackten Lohnquote dann doch nicht mehr trauen offen weitere Lohnsenkungen zu fordern, bleibt als Ausweg nur noch die Forderung nach Senkung der Steuern und Abgaben. „Damit der Lohn der Arbeit höher ist als staatliche ´Stütze`“ (Müller-Vogg)

Dass etwa in dem als skandalös dargestellten Vergleichsfall der Arbeitnehmer gar keine Lohnsteuer mehr bezahlen müsste, mag im Steuersenkungseifer schon mal übersehen werden. Auf die Frage, wie denn die Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung und die Rentenversicherung finanziert werden sollten, wenn nicht durch Abgaben, bleiben IfW, Steuerzahlerbund und BILD jede Antwort schuldig. Meinen sie wirklich, den Arbeitnehmern einreden zu können, dass wenn die gesetzlichen Sozialversicherungssysteme noch mehr ruiniert werden als dies ohnehin schon geschehen ist, die private Absicherung das Heil bringt? Müsste denn der als Beispiel gewählte Niedriglöhner weniger Kosten aufbringen, wenn er seine Risiken privat versichern und stattdessen weniger Sozialabgaben leisten müsste, bei denen der Arbeitgeber immerhin noch die Hälfte der Kosten trägt?

Und wenn dann die Steuern insgesamt immer noch weiter gesenkt werden sollen, wie soll dann der Staat die Bedürftigen noch am Existenzminimum absichern können?

Sowohl bei der Kampagne für weitere Steuersenkungen als auch bei der Senkung der sog. Lohnnebenkosten erweist sich, dass dahinter nicht bloß eine Milchmädchenrechnung sondern schiere Absicht steht: Der Staat in Deutschland mit einer Staatsquote von 44,3 % (2007), weit unter dem Durchschnitt der Euro-Zone und unter dem ach so liberalen Großbritannien (44,6%) soll weiter ausgeblutet werden, die gesetzlichen Vorsorgesysteme sollen weiter ausgehungert werden.
Wenn dann die Sozialsysteme vollends kaputt sind und der Staat (mangels Steuereinnahmen) nicht einmal mehr das Geld für die physische Existenzsicherung von Arbeitslosen hat, dann – so die Logik dieser Lehre – ist endlich der Zustand eingetreten, wo der Preismechanismus auf dem Arbeitsmarkt wieder funktionieren könnte und endlich wieder Niedrigstlöhne ohne die lästige Untergrenze der Hartz IV-Regelsätze einen „Anreiz für Arbeit“ schaffen könnten – zur Not auch unterhalb der Existenzfähigkeit der Arbeitnehmer. Das Problem der Arbeitslosigkeit löste sich dann biologisch durch Verhungern und Frühableben der „überzähligen“ Arbeitskräfte. Auf lange Sicht gäbe es dann wieder ein Gleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot. Aber wie sagte doch John Maynard Keynes schon vor langer Zeit: In the long run we are all dead.

Professor Sinn würde jetzt einwenden: Nein, so inhuman ist unsere Lehre gar nicht. Wir sind doch für Lohnsubventionen, falls der Lohn zum Überleben nicht reicht. Aber, wie sollten diese Lohn-Subventionen an die Arbeitgeber für deren großherziges Angebot eines Arbeitsplatzes mit einem Lohn unter dem Existenzminimum dann noch vom Staat finanziert werden können, wenn ihm gleichzeitig durch Steuersenkungen, die Finanzierungsbasis genommen wurde?

p.s.:

Wenn sich jetzt IfW und BdSt vorsichtig von dieser BILD-Story distanzieren und darauf hinweisen, dass es sich um ältere Zahlen handelt, so bestätigt das nur dass dieses Boulevardblatt bei seinen Kampagnen unseriös arbeitet.