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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Verbarrikadierte Demokratie – Politik schafft sich ab
Datum: 29. Oktober 2010 um 9:26 Uhr
Rubrik: Das kritische Tagebuch, Erosion der Demokratie, Finanzpolitik, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Stabilitätspakt, Dienst- und Niederlassungsfreiheit, Unabhängigkeit der Bundes- und Europäischen Zentralbank, Schuldenbremse, automatische Sanktionsmechanismus bei Verstößen gegen verschärfte Stabilitätsregeln, auch auf vielen anderen Feldern erleben wir, wie sich die Politik hinter unumstößlichen Prinzipien, unbeeinflussbare Verfahren oder zwingend umzusetzende Gesetze verbarrikadiert. Man erhofft sich damit die Begründung für unliebsame Entscheidungen ersparen und sich vor einer politischen Auseinandersetzung schützen zu können.
Das Vorgehen beim Aufbau solcher Barrikaden ist immer das gleiche. Man gibt ein paar allgemeine, oftmals als hehre Ziele verpackte und vor allem populistisch eingängig Parolen vor, schafft damit ein unveränderbar erscheinendes Prinzip und wenn dann konkrete politische Entscheidungen anstehen, argumentiert man, dass man dabei sich den unumstößlichen Zwängen unterordnen müsse.
Die Politik schafft sich damit selber ab. Die Demokratie wird hinter die von der Politik aufgebauten Barrikaden eingesperrt. Wolfgang Lieb
– Der Euro-Stabilitätspakt wurde mit dem Ziel begründet, für einen „stabilen Euro“ zu sorgen. Wer könnte sich schon gegen eine stabile Währung aussprechen.
Dass damit eine souveräne und vor allem aktive Finanzpolitik der Staaten zur Überwindung gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte, also etwa eine aktive Konjunkturpolitik eingeschränkt, ja sogar unmöglich wird, wurde nicht gesagt. Man hat schlicht geleugnet, dass mit dem Maastricht-Vertrag ganz Europa ein Verzicht auf makroökonomische Politikinstrumente auferlegt und auf eine Sparpolitik festgelegt wurde, mit der dann nachfolgend Einschnitte in den Wohlfahrtsstaat als unumgänglich erklärt werden konnten. In nahezu jeder Haushaltsdebatte seit 1992 wurde die Einhaltung des Maastricht-Vertrages als nicht mehr in Frage zu stellende Begründung für die Kürzung von staatlichen Leistungen (vor allem im Sozialbereich) herangezogen.
Wäre der Stabilitätspakt in der Finanz- und Wirtschaftskrise eingehalten worden, wäre keine defizitfinanzierten Konjunkturprogramme aufgestellt, keine Kurzarbeiterzuschüsse bezahlt oder keine Schulden für Rettungsschirme aufgebaut worden, wir wären in einer Katastrophe gelandet.
– Die sog. „Schuldenbremse“ folgt der gleichen Logik, wie der EU-Stabilitätspakt. Mit ihr wird die staatliche Neuverschuldung nicht nur wie im Maastricht-Vertrag auf die Höhe von 3,0 Prozent sondern auf 0.35 Prozent des Bruttosozialprodukts beschränkt. Die Länder sollen sogar zum Ausgleich von Defiziten sogar keinerlei Kredite mehr in ihre Haushalte mehr einstellen dürfen.
Auch bei Einführung der „Schuldenbremse“ wurde mit den weitverbreiteten Ängsten vor einer weiteren Staatverschuldung Stimmung gemacht ergänzt um das dramatisierende Argument, dass wir nicht auf Kosten und damit auf die Zukunft „unserer Kinder“ leben dürften. Mit dem ziemlich schlichten Bild der „schwäbischen Hausfrau“, die nicht mehr ausgeben könne, als sie einnehme, wurde ein eindimensional auf staatliche Einsparpolitik ausgerichtetes finanzpolitisches Konzept durchgesetzt, dass nirgendwo in der Welt praktiziert wird (und dort, wo es eingeführt wurde, wie in der Schweiz im Jahre 2003 bei der ersten größeren Belastung de facto wieder außer Kraft gesetzt wurde).
Mit diesem Kreditfinanzierungsverbot wird einer aktiven makroökonomischer Wirtschaftspolitik und einer aktiven Zukunftsvorsorge eine verfassungsrechtliche Barriere vorgeschoben [PDF – 32 KB]. Gepaart mit einer in der Bevölkerung gleichfalls stets populären Steuersenkungspolitik werden damit nicht nur die wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume auf die Arbeitsmarktpolitik, sprich auf die Senkung der Löhne und den Abbau von Arbeitsschutzvorschriften eingeengt, sondern gleichzeitig noch der Sozialstaat und staatliche Daseinsvorsorge (Privatisierung) zurückgedrängt. Das gestern verabschiedete unsoziale Sparpaket wurde beispielsweise vor allem mit den verfassungsrechtlichen Zwängen der „Schuldenbremse“ begründet.
Albrecht Müller hat auf den NachDenkSeiten immer wieder belegt, dass mit einer eindimensionalen Sparpolitik einzelwirtschaftliche Betrachtungen auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge übertragen werden, die Erfahrung aber zeigt, das Schuldenzuwächse nicht mit Sparabsichten, sondern mit der Verbesserung der Konjunktur reduziert werden können.
Die Bundesregierung geht nun sogar so weit, dass die Strangulierung wirtschafts- und finanzpolitischer Handlungsfähigkeit auch noch in verschärfter Form auf die europäische Ebene übertragen wird. Am liebsten wären Merkel und Westerwelle, wenn ein „Automatismus“ von (Geld-)Strafen und der Kürzung von Förderprogrammen oder über einen Stimmrechtsentzug einzelner Mitgliedstaaten und darüber hinaus der Einleitung von Insolvenzverfahren für verschuldete Staaten greifen würde, ohne dass es dazu noch einer politischen Entscheidung der Regierungschefs bedarf. Einmal abgesehen, dass sich die Merkel bei ihrem Vorgehen auch zusammen mit dem französischen Präsidenten wie Elefanten im europäischen Porzellanladen angestellt haben, einigten sich jetzt der EU-Gipfel auf eine Vertagung und den Auftrag an den Präsidenten des Europäischen Rates Van Rompuy bis Dezember eine Änderung des EU-Vertrages für einen permanenten Krisenmechanismus auszuloten.
– Auch die Begründung für die „politische Unabhängigkeit“ der Europäischen Zentralbank folgte diesem Muster. Gerade in Deutschland mit seinem kollektiven Trauma der ersten Weltwirtschaftskrise ist die Angst vor einer Inflation besonders verbreitet und Geldwertstabilität geradezu ein Selbstzweck. Wer sollte sich also dagegen aussprechen können.
Anders als noch im deutschen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahr 1967 als über eine sog. „konzertierte Aktion“ zwischen Regierung, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und der Bundesbank ein Konsens über die gesamtwirtschaftlichen Ziele angestrebt werden sollte – also ein Ausgleich zwischen Preisniveaustabilität, hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und angemessenem Wirtschaftswachstum gesucht werden sollte – wurde die Europäische Zentralbank institutionell auf das Primat des Ziels der Preisstabilität festgelegt. Und damit bloß kein Staat politischen Druck ausüben konnte (damit etwa über eine Niedrigzins- oder lockere Geldpolitik die Wirtschaft angekurbelt werden könnte) wurde die EZB für politisch sakrosankt erklärt. Anders als die „Fed“, also das Zentralbankensystem in den USA war die EZB mit ihrer auf das Primat der Preisstabilität beschränkten Handlungsfähigkeit nicht mehr in der Lage und auch nicht mehr Willens für eine Balance zwischen den Zielen der Bekämpfung von Inflation und makroökonomischer konjunktureller Stabilisierung zu sorgen.
De facto wurde auch mit der politischen Unabhängigkeit der EZB und ihrer auf die Geld- und Zinspolitik ausgerichteten Handlungsbeschränkung eine ökonomische Doktrin institutionalisiert, nämlich der sog. Monetarismus. Dieser vor allem von Milton Friedmann und seinen Chicago Boys begründete Ansatz, der die Geldpolitik ins Zentrum stellt, folgt dem Glauben an die Selbstregulierung des privaten Sektors und sieht staatliche Interventionen in das Wirtschaftsgeschehen immer als schädlich an. Auch der Arbeitsmarkt ist für den Monetarismus nichts anderes als ein Kartoffelmarkt. Danach beseitigt sich die Arbeitslosigkeit von selbst, wenn nur der Preis für die Arbeit (= der Lohn) niedrig genug ist, damit er noch ein passendes Arbeitsangebot findet.
Mehrfach hat die EZB mit ihrer Hochzinspolitik wegen angeblicher Inflationsgefahren konjunkturelle Aufschwungphasen abgewürgt, sie ist mitverantwortlich für die relativ schwachen Wachstumsraten der letzten zwei Jahrzehnte und damit auch Mitverursacher der wachsenden Arbeitslosigkeit.
– Auch die im europäischen Vertragsrecht festgeschriebene Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit wurde der Freiheit von Unternehmen und gewerblich Selbständigen und mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer begründet. Wer wollte diesem Pathos der Freiheit schon etwas entgegensetzen. Freiheit ist ja immer gut.
Es ging aber eigentlich nur um die Einführung der Dominanz liberaler Wirtschafts(freiheits)rechte, mit denen nach ihrer vertraglichen Verankerung auch mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs die nationale Politik aus übergeordnetem Recht gezwungen war nationale Standards am Arbeitsort etwa bei Arbeits-, Qualifikations- und Sozialvorschriften, bei Sicherheitsstandards, Gesundheits- und Umweltschutzbestimmungen abzubauen.
Man könnte noch eine Vielzahl von politischen Festschreibungen und Gesetze bis hin zu Stuttgart 21 anführen mit denen sich die Politik dauerhaft gebunden hat und sich dann der argumentativen und damit der politischen Auseinandersetzung mit dem Hinweis auf nicht mehr veränderbare Zwänge entzieht.
Was als unumstößlich vorgegeben vorgeschoben wird, wenn es dann um konkrete Entscheidungen geht, sind jedoch Festschreibungen von ökonomischen Glaubenssätzen und deren anschließende Exekution im politischen Handeln. Nun könnte man der Politik nicht vorwerfen, dass sie in ihrem Programm verkündeten Glaubensbekenntnissen folgt. Ein Problem für die Demokratie entsteht dadurch, dass solche Festschreibungen (wie etwa Verfassungsänderungen oder vertragliche Bindungen auf EU-Ebene) nicht nur schwer rückholbar sind, sondern vor allem, dass sie demokratische Gestaltungsoptionen und Handlungsmöglichkeiten über eine ganze Epoche einengen, ja sogar ausschließen.
Das heißt zugleich, dass eine Demokratie ihren Gestaltungsspielraum und damit ihre Handlungsfähigkeit einschränkt und die politische Verfügungsmasse immer mehr aus ausgedünnt wird.
Alle Vorschläge die etwa gegen den EU-Stabilitätspakt oder gegen die nun im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse gemacht werden, können so von vorneherein als undurchführbar und damit als unrealistisch, ja sogar als gesetzeswidrig diskriminiert werden. Sogar wenn diejenigen, die solche Festlegungen eigenhändig festgeschrieben haben, selbst erkennen, dass es zu Fehlentwicklungen kommt – wie etwa bei der bildungspolitischen Kleinstaaterei durch die Föderalismusreform – können sie diese nicht wieder korrigieren.
Im Ergebnis bleibt nur eine Fortsetzung des einmal festgelegten Kurses und damit eine Lähmung des politischen Systems der Demokratie. Denn auch durch eine Wahl veränderte Parteienmehrheiten sind an die (Vor-)Festlegungen gebunden. Die schönen Parteiprogramme vor den Wahlen sind in der Regierung kaum das Papier wert, auf das sie gedruckt wurden. Das politische System hat sich hinter den selbst aufgebauten Barrikaden eingesperrt. Das spüren die Menschen, wenn laut Umfragen die Hälfte der Deutschen mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, unzufrieden sind. Dass es immer weniger zur entscheiden gibt, führt dazu, dass immer weniger Menschen von ihrem demokratischen Stimmrecht Gebrauch machen. Dass sich die Politik selbst eingemauert hat, führt zu allgemeiner Politik- und Politikerverdrossenheit und baut eine Stimmungslage in der Bevölkerung auf, in der sich immer mehr nach einer starken Führerfigur sehen, die diese Mauern einfach umwirft.
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat den Begriff „Postdemokratie“ geprägt. Er beschreibt damit zwar die formale Fortexistenz demokratischer Institutionen, hinter deren Fassade aber eine weitreichende Selbstaufgabe der Politik stattgefunden hat.
In einer Gesellschaft gibt es aber kein Vakuum der Macht. In dem Maße, in dem die Politik ihre Macht selbst aufgegeben hat, hat es eine Verlagerung der Macht- und Entscheidungszentren auf die ökonomischen Eliten gegeben. Die mächtigen Oligopole haben sich mit ihrer einzelbetrieblichen Unternehmenslogik gegen gesamtwirtschaftliche ökonomische Ansätze durchgesetzt. Die Eindimensionalität der ökonomischen Denkwelt, wie sie sich etwa beim europäischen Stabilitätspakt oder bei der „Schuldenbremse“ durchgesetzt hat, entspricht dem „Weltbild“ der ökonomischen Eliten. Sie haben es mit Hilfe der Mehrheit der Ökonomen, mit Unterstützung unkritischer Medien und mit politischer Korruption geschafft, das neoliberale Leitbild zur Staatsräson zu machen.
Die Klientelpolitik der derzeitigen Bundesregierung zugunsten von Energiekonzernen, der Pharmaindustrie, der Versicherungswirtschaft oder der Banken ist nur ein Abbild dieser Staaträson.
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