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Titel: Sarrazin: „Deutschland wird immer ärmer und dümmer!“

Datum: 24. August 2010 um 9:00 Uhr
Rubrik: Anti-Islamismus, Demografische Entwicklung, Rechte Gefahr
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Kein Wunder, wenn Leute wie Sarrazin Deutschland systematisch zu verdummen versuchen, müsste man hinzufügen. „Deutschland schafft sich ab“ so heißt das Buch des ehemaligen Berliner Finanzsenators und heutigen Bundesbank-Vorstands und nach wie vor SPD-Mitglieds. Und ein ehemals renommierter Verlag wie die Deutsche Verlagsanstalt, der nun zum Bertelsmann-Verlagsimperium Random House gehört, druckt auch noch ein solches Machwerk. Der Verlag findet es aus Werbezwecken auch passend, dem Blatt, das die niedrigsten Instinkte der Deutschen zu wecken versucht, die Vorabdruckrechte zu geben. Seit gestern wird einem Millionenpublikum mit dicken Balkenüberschriften Sarrazins sozialdarwinistische Infamie eingeimpft. Knapp 90 Prozent der über 36.000, die sich an einer elektronischen Abstimmung beteiligt haben, sind der Meinung: „Ja, Sarrazin legt die Finger in unsere Wunde! Und er hat Recht!“ So dumm sind jedenfalls die sich an der BILD-Umfrage beteiligenden Deutschen schon jetzt. Wolfgang Lieb

Demagogie der Rechtspopulisten

Nach der bewährten demagogischen Methode seiner rechtspopulistischen Gesinnungsgenossen, etwa des Niederländers Geert Willders, des französischen Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pan oder einige der italienischen Neofaschisten, spielt sich Thilo Sarrazin als der Verkünder schonungsloser Wahrheiten auf, der Alle, die nicht seinen plumpen Parolen folgen, als „Kleingeister“ beschimpft (und damit diese Beschimpfung unverfänglich wirkt, stützt sich Sarrazin auf ein Zitat von Ferdinand Lassalle, einem der Gründer der Sozialdemokratie).

Um das Gefühl der Überlegenheit bei seinen deutschen Lesern zu wecken, appelliert Sarrazin an den Stolz der Deutschen; an den „Stolz auf den Fleiß und die Tüchtigkeit seiner Bürger“ in den „wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch sehr erfolgreichen Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg“. Die Jahrzehnte dieses Erfolgs hätten aber „die Sehschärfe der Deutschen getrübt für die…Fäulnisprozesse im Innern der Gesellschaft“. Selbstzufriedenheit und „Fäulnis“, Motive, die man schon in Hitlers üblem Machwerk „Mein Kampf“ nachlesen konnte: „Während aus künstlich gehegten Friedenszuständen öfter als einmal die Fäulnis zum Himmel emporstank“, heißt es dort.

„Die Deutschen aber schaffen sich allmählich ab“, schreibt Sarrazin und redet dann über die „Nettoreproktionsrate“ von „0,7 oder weniger, wie wir sie seit 40 Jahren haben“. Das bedeute ja nichts anderes, „als dass die Generation der Enkel jeweils halb so groß ist wie die der Großväter“. Wenn die Geburtenzahl weiter so sinke, dann werde die Zahl der Geburten in Deutschland „in 90 Jahren (!)“ bei rund 200.000 bis 250.000 liegen. Und, damit die Angst noch auf den richtigen Feind projiziert wird, fügt Sarrazin hinzu: „Höchstens die Hälfte davon werden Nachfahren der 1965 (!) in Deutschland lebenden Bevölkerung sein“ – also zu der Zeit als unser Land noch reinrassig deutsch war.

Katastrophen-Rechnungen

Seit Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) die Bevölkerungslehre begründet hat, wurden die demografischen Entwicklungen oft in düstersten Farben gemalt. Mal war es die Bevölkerungsexplosion die Angst machen sollte, dann wieder an der Wende zum 20. Jahrhundert die Angst vor der „Entvölkerung“. Wäre es nach den Berechnungen der zu allermeist reaktionären Bevölkerungswissenschaftler gegangen, müssten wir entweder angesichts der von ihnen berechneten Überbevölkerung längst verhungert oder aber mangels Fruchtbarkeit längst ausgestorben sein – Motto: nach dem Mensch kommt der Wolf – das Spiel mit menschlichen Urängsten.

Unzweifelhaft gibt es in Deutschland seit dem Baby-Boom der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts eine niedrige Geburtenrate. Aber wenn man auf die derzeitige Geburtenraten in Europa schaut, dann schafft sich nicht nur Deutschland ab, sondern laut Eurostat würden sich dann in Europa 10 andere Länder weit vorher abgeschafft haben, weil sie derzeit niedrigere Geburtenraten haben als wir.

Aber was hat eine solche Katastrophen-Rechnung, in 90 Jahren (!) hätten sich „die Deutschen…quasi abgeschafft“ für einen Sinn. Rechnen wir doch einmal genauso schlicht wie Sarrazin dagegen und legen seine „knallharte Analyse“ (Bild) zugrunde: Seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre sank in Deutschland die Geburtenzahl von über 1,3 Millionen auf 650.000 im Jahr 2009. Wäre die Geburtenfreudigkeit ungebrochen geblieben, dann hätten wir – vorsichtig gerechnet – mehr als 40 Jahre eine halbe Million Kinder mehr, also 20 Millionen mehr Menschen. Man stelle sich das einmal vor, bei derzeit schon über 3 Millionen statistisch erfassten Arbeitslosen und einer „stillen Reserve“ von 6 bis 7 Millionen Menschen. Man stelle sich vor wie noch viel schlimmer als heutzutage das mit den Kinderbetreuungs- oder Ausbildungsplätzen oder mit dem numerus clausus an den Hochschulen aussähe. Welche Katastrophe wäre das für die zwischenzeitlich mehr geborenen Kinder.

Sie werden mir vielleicht vorhalten, meine Rechnung sei blödsinnig. Da haben Sie völlig Recht. Sie ist so blödsinnig, wie die Rechnung von Herrn Sarrazin. Nur ist sie sogar realistischer, als Sarrazins Vorhersage, was in 90 Jahren der Fall sein wird.

Hat nicht die Zurückhaltung vieler Familien, Kinder in diese Welt zu setzen, auch etwas mit der Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft, mit fehlenden Kindergartenplätzen, zu großen Schulklassen, zu wenig Ausbildungs- und Studienplätzen, der hohen Jugendarbeitslosigkeit und der Unsicherheit einen Arbeitsplatz zu bekommen, mit dem man eine Familie auch ernähren kann?

Warum ist eigentlich die Geburtenziffer in der ehemaligen DDR von 1,5 im Jahr 1990 auf 0,77 bis 1994 abgesackt und warum liegt sie nach wie vor in den neuen Ländern hinter Westdeutschland?

Nach Sarrazin hätte sich Frankreich schon halb abgeschafft und die USA wären verschwunden

Und noch etwas: Mit dem ausschließlichen schielen auf die Geburtenziffer, wird von der viel entscheidenderen Frage abgelenkt: Was wäre so schrecklich für unser Land, wenn die Bevölkerung abnähme. Deutschland ist ein sehr dicht besiedeltes Land, 231 Menschen leben pro Quadratkilometer. Im Nachbarland Frankreich sind es weniger als die Hälfte, nämlich 105 Einwohner pro Quadratkilometer. Ist deshalb die „Grand Nation“ schon halb abgeschafft? An die Weltmacht USA mag man gar nicht erst denken, sie müsste nach Sarrazins Berechnungen mit 32 Einwohner pro Quadratkilometer quasi schon verschwunden sein.

Beschimpfung der Kritiker

Sarrazin bedient sich eines weiteren rhetorischen Tricks aller Demagogen: Er macht seine möglichen Kritiker madig, er wirft ihnen vor, sie stellten Denktabus auf oder sie scheuten die Wahrheit, weil sie Gefangene der politischen (gemeint ist: der demokratischen) Korrektheit.

So macht der die Generation der Achtundsechziger madig, weil sie angeblich erst bereit gewesen seien „vernünftig“ über die demografische Entwicklung zu diskutieren, als sie „Angst um ihre Rente bekommen hat“.

Sarrazin ist schlicht ignorant oder er setzt auf das schlechte Gedächtnis seiner Leser. Seit Jahren wird mit Modellrechnungen über die Bevölkerungsentwicklung Panik gemacht. Gab es nicht den Bestseller des FAZ-Herausgebers „Das Methusalem-Komplott“, wurde nicht im Fernsehen über den „Aufstand der Alten“ eine furchterregende „Doku-Fiktion“ ausgestrahlt. Hat nicht schon vor 10 Jahren der Spiegel ein Heft mit dem Titel „Raum ohne Volk“ herausgegeben. Schon in den 70er Jahren gab es im Bundeskanzleramt unter Helmut Schmidt ein Referat, das sich mit der demografischen Entwicklung befasste, weil schon damals mit den gleichen Parolen wie heute mit der Bevölkerungspolitik politische (meist „braune“) Süppchen gekocht wurden. Welche Katastrophenszenarien malen uns denn die Miegels, die Raffelhüschens oder die Birgs seit langer Zeit an die Wand, um die Privatisierung der Rente oder die Rente mit 67 zu propagieren? Auf paradoxe Weise hat Sarrazin Recht, eine „vernünftige“ Diskussion war das nie. Sie wurde immer politisch missbraucht. Man denke nur an die aktuelle Diskussion über die Rente mit 67.

Neonazistische Argumentationsmuster

Geradezu die Tonart der Neonazis schlägt Sarrazin mit dem Satz an: „Manche mögen dieses Schicksal (dass sich die Deutschen quasi abgeschafft hätten, WL) als gerechte Strafe empfinden für ein Volk, in dem einst SS-Männer gezeugt wurden – nur so lässt sich die zuweilen durchscheinende klammheimliche Freude über die deutsche Bevölkerungsentwicklung erklären.“ Das ist ein typisches Argumentationsmuster der Rechtsradikalen, die in Deutschland ein falsches Schuldbewusstsein gegenüber dem NS-Regime unterstellen und damit nicht nur den Nationalsozialismus verklären sondern diejenigen, die sich der Verantwortung gegenüber der unheilvollen Geschichte stellen, als Feinde der Deutschen bzw. des deutschen Volkes verunglimpfen. Die Bild-Zeitung streicht diesen Satz Sarrazins bezeichnenderweise auch noch dick heraus.

Rassenhygienische und sozialeugenische Konnotationen

Ganz typisch für die Demagogie Sarrazins ist die (mehr oder weniger geschickte) Vermischung von Demografie und Migration. „Die sozialen Belastungen einer ungesteuerten Migration waren stets tabu“, schreibt er, um dann gleich Satz anzuschließen, dass eben die Menschen „intellektuell mehr oder weniger begabt, faul oder fleißiger, mehr oder weniger moralisch gefestigt sind“. Das ist juristisch als Volksverhetzung nicht angreifbar formuliert, aber der Leser wird unter der Hand auf das Feindbild Ausländer gelenkt. So geschickt und subkutan spritzen auch die Funktionäre der Neo-Nazi-Parteien ihr Gift in die Gehirne ihrer Anhänger, wenn sie Hass säen wollen.

Neben die rassenhygienischen Anklänge, die von Sarrazin dabei angestoßen werden, treten noch die sozialeugenischen. So spielt Sarazzin auf die längst überholte Mär an, dass „die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen“ und wir deshalb „als Volk (?) an durchschnittlicher Intelligenz verlieren“.

Mit dieser penetranten, aber frei erfundenen Behauptung Akademikerinnen seien mit 40 oder gar 43 Prozent weit überdurchschnittlich kinderlos, wurde schon das „Elterngeld“ begründet. Dabei liegt die Kinderlosigkeit von Akademikerinnen nur knapp über dem Durchschnitt aller Frauen, nämlich etwa bei 25 Prozent. Bei Abiturientinnen und Hochschulabsolventinnen liegt die Geburtenrate seit einigen Jahren sogar höher als im Durchschnitt.

Auch die Legende, dass Migrantinnen mehr Kinder bekämen als die deutsche Frau, ist ja inzwischen zerstört. Frauen der zweiten Migrantengeneration haben sich dem Geburtenverhalten ihrer deutschen Geschlechtsgenossinnen nahezu angepasst.

Auch die besondere Abschätzigkeit Sarrazins gegenüber dem Bildungsehrgeiz türkischer Migranten ist ein dummes Vorurteil: Bei gleicher Leistung und sozialer Herkunft wechseln türkische Kinder sogar häufiger auf Realschule oder Gymnasium als deutsche.

Die Justiziare der Deutschen Verlagsanstalt werden es verhindert haben, dass Sarrazin nicht wie in früheren spontanen Äußerungen ausdrücklich die „kleinen Kopftuchmädchen“ oder die weniger gebildeten Zuwanderer „aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika“ nennt. Aber der geneigte Leser kann sich denken, wer gemeint ist: die Unterschicht und die Zuwanderer, vor allem aus der Türkei. So wenn Sarrazin etwa schreibt: „So wurde viel zu lange übersehen, dass die Alterung und Schrumpfung der deutschen Bevölkerung einhergeht mit qualitativen Veränderungen in deren Zusammensetzung. Über die schiere Abnahme der Bevölkerung hinaus gefährdet vor allem die kontinuierliche Zunahme der weniger Stabilen, weniger Intelligenten und weniger Tüchtigen die Zukunft Deutschlands.

Der gestrige Auszug aus dem Buch Sarrazins schließt mit dem Satz:
„Ich glaube, dass wir ohne einen gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation (!) unsere gesellschaftlichen Probleme nicht lösen werden.“

Alles schon einmal dagewesen

„Denn sowie erst einmal die Zeugung als solche eingeschränkt und die Zahl der Geburten vermindert wird, tritt an Stelle des natürlichen Kampfes um das Dasein, der nur den Allerstärksten und Gesündesten am Leben lässt, die selbstverständliche Sucht, auch das Schwächlichste, ja Krankhafteste um jeden Preis zu „retten”, womit der Keim zu einer Nachkommenschaft gelegt wird, die immer jämmerlicher werden muss, je länger diese Verhöhnung der Natur und ihres Willens anhält.
Das Ende aber wird sein, dass einem solchen Volke eines Tages das Dasein auf dieser Welt genommen werden wird…“.

Nein, das letzte Zitat war nicht von Sarazzin, sondern von Hitler. Aber wo liegt der Unterschied?

Sarrazin ist nicht nur selbst dumm und will mit seinem Buch die Deutschen auf sein Niveau von Dummheit ziehen, was noch viel schlimmer ist: Er ist gefährlich gerade für die Deutschen. Und die Bild-Zeitung trägt zur Verbreitung dieser Gefahr bei.


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