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Titel: Die Agitation zum sogenannten demographischen Problem geht weiter

Datum: 7. Januar 2004 um 16:19 Uhr
Rubrik: Demografische Entwicklung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik
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In dieser Woche erschien der SPIEGEL mit dem Titel “Der letzte Deutsche – Auf dem Weg zur Greisen-Republik”. Damit ist wieder einmal Niveau und Methode von BILD erreicht. Das ist nichts Neues. Am 17. Mai 2001 erschien bei SPIEGEL ONLINE: “Raum ohne Volk”. – Die übertreibende Irreführung der Republik scheint jedenfalls näher als ihre Vergreisung. Albrecht Müller.

Wenn man heute in Deutschland für Gelassenheit im Umgang mit der Bevölkerungsentwicklung eintritt und gegen die übliche Stimmungsmache vom angeblich sterbenden Volk antritt, tut man gut daran, mit einem persönlichen Bekenntnis zu beginnen:

Erstens: die eigene Kinderzahl übertrifft den Durchschnitt bei weitem; ich mag meine Kinder und Enkel.

Zweitens: Frauen und Familien, die Kinder haben wollen, sollten nicht an den Umständen scheitern; wir – die Öffentlichkeit, Bund, Länder, Gemeinden und andere – sollten ihnen helfen, Familie und Beruf verbinden zu können. (Siehe dazu auch den Tagebucheintrag vom 27. Dezember 2003)

Aber es macht keinen Sinn, in unserem dichtbevölkerten Land (s. Tabelle vom 27. Dezember 2003) die Stimmung anzuheizen, wie das der SPIEGEL und andere Medien immer wieder tun: “Überalterung”, “Vergreisung” oder “Greisen-Republik” oder “Land ohne Lachen”, “sterbendes Volk” oder “Raum ohne Volk”, und jetzt “Der letzte Deutsche” – das ist eine so übertreibende und verzerrende Wortwahl, dass man fragen muss, ob die Redaktion nicht mehr ganz bei Trost ist oder ob sie ihre Leserschaft schon für so überreizt oder gar für verblödet (das Wort stammt vom früheren Chefredakteur des SPIEGEL) hält, dass sie ihr diese Begriffe zynischerweise zumuten zu können glaubt.

Der Text selbst enthält einige sachliche Passagen, z.B. über die Gründe, warum in Deutschland Frauen Beruf und Muttersein so schlecht und nur unter großen Opfern miteinander verbinden können; und auch einen informativen Sonderbeitrag über die Regeln und Einrichtungen, die es unseren Nachbarinnen in Frankreich so viel leichter machen, beides zu verbinden.
Ansonsten ist der Text in der Attitüde unendlicher Aufgeregtheit und Dramatisierung geschrieben – schon beginnend mit einer falschen Darstellung der Einordnung Deutschlands beim internationalen Vergleich der Geburtenziffern und weiter bei der üblich gewordenen Übertreibung der Folgen des Anstiegs des Altersdurchschnitts:

“Die Bundesrepublik rangiert mit ihrer Geburtenrate unter 190 Staaten auf Platz 185”, so heißt es im Einstiegstext. Wenn man sich den internationalen Vergleich der Daten genauer anschaut, dann findet man: beim Vergleich der Geburtenanzahl pro Frau liegen 17 Staaten noch unter dem Wert für Deutschland (2001: 1,4) und 14 Staaten im Umfeld des Wertes von Deutschland (Quelle Fischer Weltalmanach 2004). Gut, auch der Platz 170, den sich Deutschland mit anderen Ländern teilt, ist kein vorderer Platz – die vorderen Plätze sind belegt von Ländern wie Angola, Ruanda, Kongo, Saudi-Arabien, Niger -; aber es fehlt dem 170. Platz in Kenntnis der vorderen Platzinhaber die total Dramatik, die die Einordnung im SPIEGEL suggeriert.

Die Rangordnung und Position Deutschlands vermag man besonders dann noch besser einzuordnen, wenn man sich die Länder Europas anschaut, die eine geringere Geburtenrate haben als Deutschland – also in der vom SPIEGEL für so wichtig gehaltenen Rangordnung hinter Deutschland liegen. Das sind neben Spanien vor allem ost- und mittel-osteuropäische Länder wie Russland, Weißrussland, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Ukraine – und auch das katholische Polen liegt hinter Deutschland und hat mit 1,3 eine sehr niedrige Geburtenrate, übrigens auch die neuen Bundesländer.
Dem Phänomen der Entwicklung in den Neuen Bundesländern geht der SPIEGEL nicht weiter nach. Er hätte dann nämlich beschreiben müssen, dass es offenbar einen engen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, Ungesichertheit der Arbeitsplätze und der sozialen Sicherungssysteme gibt. Eine solche Erkenntnis hätte so gar nicht zum sonstigen neoliberalen Reformeifer des SPIEGEL gepasst.

In der Tabelle 1 sind die Geburtenziffern im Zeitablauf für Alte und Neue Bundesländer getrennt ausgewiesen. An diesen Zeitreihen kann man interessante Beobachtungen machen, die die SPIEGEL-Redaktion leider nicht angestellt hat:

  • 1990 lag die Geburtenziffer mit 1,52 in der damaligen DDR/den Neuen Bundesländern höher als in den Alten Bundesländern.
  • Sie sackte bis 1993 und 1994 ab auf 0,77 und erholte sich dann bis heute langsam auf rund 1,21.
  • # Der Wert liegt immer noch unter dem West-Wert. Liegt das an mangelnder Zukunftszuversicht? Und/oder am vereinigungsbedingten Zusammenstreichen der Chancen für Frauen, ihre Kinder unterzubringen, wenn sie arbeiten wollen?
  • Zwischen 1965 und 1975 ging im Westen die Geburtenziffer von 2,51 auf 1,45 zurück – das ist der sogenannte Pillenknick.
  • # Bis 1980/81 hielt sie sich dann ungefähr auf diesem Niveau, sackte dann aber auf 1,28 ab. Warum wohl? Eine mögliche Interpretation: das war das Ergebnis steigender Arbeitslosigkeit und zugleich die Begleiterscheinung des Starts in Kohls und Lambsdorffs neoliberales Zeitalter mit “Freier Fahrt für freie Bürger”, “Jeder ist seines Glückes Schmied”, “Leistung muss sich wieder lohnen” und mit dem Teilersatz des Kindergelds durch die ungerechteren Kindersteuerfreibeträge durch Kanzler Kohl und seinen Familienminister Dr. Geißler.

Tabelle 1: Geburtenziffer (Geburten pro Frau 15-50 J.)

  Alte Bundesländer Neue Bundesländer
1950 2,10
1955 2,11
1960 2,37
1965 2,51
1970 2,02
1975 1,45
1980 1,44
1981 1,44
1982 1,41
1983 1,33
1984 1,29
1985 1,28
1986 1,35
1987 1,37
1988 1,41
1989 1,40
1990 1,45 1,52
1991 1,42 0,98
1992 1,40 0,83
1993 1,39 0,77
1994 1,35 0,77
1995 1,34 0,84
1996 1,40 0,95
1997 1,44 1,04
1998 1,41 1,09
1999 1,41 1,15
2000 1,41 1,21

Quelle: Statistisches Bundesamt (eigene Bereinigung auf zwei Stellen hinter dem Komma)

Zur Einordnung und Entschärfung der Dramatik des Älterwerdens unseres Volkes und der Rentenfinanzierungsproblematik noch ein paar Zahlen:

  • Mit einem (vorsichtig pessimistisch geschätzten) realen Wachstum von 1,5 Prozent ist unser reales Sozialprodukt in 30 Jahren schon um 56 Prozent höher als heute. Damit kann man die Verschiebungen in der Relation von arbeitender Bevölkerung zur Rentnergeneration gut ausgleichen.
  • Dafür spricht auch eine weitere, an anderer Stelle schon erwähnte Ziffer: 1,5 Prozent Wachstum der Arbeitsproduktivität reichen aus, um allen Gruppen – den Arbeitenden, den Alten wie auch den Kindern und Jugendlichen – im Durchschnitt der weiteren Jahre und Jahrzehnte einen Wohlstandsgewinn zukommen zu lassen. Selbst in den mageren 90er-Jahren wurden übrigens 1,5 Prozent Produktivitätswachstum übertroffen.
  • Wir haben auch in der Vergangenheit Alterungsprozesse erlebt, ohne dass das Land darunter zu leiden hatte: 1950 betrug der Anteil der unter 20-Jährigen 30,5 Prozent des gesamten Volkes. 1995 stellte diese Altersgruppe nur noch 21,6 Prozent. In diesen 45 Jahren hat also eine dramatische “Vergreisung” stattgefunden. Hat das jemand gemerkt?
  • Die mittlere Variante der Prognose des Statistischen Bundesamtes – veröffentlicht am 6. Juni 2003 – sieht für 2050 einen Rückgang der Bevölkerung Deutschlands von rund 82,5 auf dann gut 75 Millionen vor. Dieser mäßige Rückgang wird als eine dramatische Entwicklung (SPIEGEL: “schrumpfendes Volk”) und als Symptom des “Sterbens” betrachtet. Zur Einordnung dieser Zahl eine knappe Tabelle:

    Tabelle 2:

    Jahr Gesamtbevölkerung
    2050 75 (Mittlere Variante der Prognose für Deutschland
    1950 68,72 (Gesamtdeutschland)
    1950 50,8 (Bundesgebiet vor der Wiedervereinigung
    1939 43 (dito)

    Erläuterung:
    Im so dramatisch gesehenen Jahr 2050 liegt die Bevölkerungszahl nach der mittleren Prognose weit höher als 1950. Damals war es nicht leer in Deutschland. Und auch nicht 1939, als die Bevölkerungszahl im vergleichbaren Gebiet noch niedriger lag. Damals, 1939, sprachen Hitler und seine Helfer vom “Volk ohne Raum” und überzogen Europa mit einem furchtbaren Krieg; heute spricht der SPIEGEL im Blick auf die kommenden Jahre vom “Raum ohne Volk”. Dann werden im Gebiet von Deutschland des Jahres 1939 immer noch mehr Menschen leben als zu Hitlers Zeiten.

Diese wenigen Ziffern zeigen schon, wie bodenlos verrückt die Debatte verläuft. “Raum ohne Volk” und “Der letzte Deutsche” – diese Parolen grenzen wirklich an Volksverdummung.

Es gibt übrigens ein wirkliches demographisches Problem, das im SPIEGEL nicht angesprochen wird, obwohl es der politischen Fürsorge bedürfte: die Wanderungsbewegung der jungen und arbeitsfähigen Generation von Ost nach West.


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