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Titel: NRW: Schwarz-Gelb abgestraft – linke Mehrheit – Regierung offen

Datum: 10. Mai 2010 um 8:59 Uhr
Rubrik: CDU/CSU, SPD, Wahlen
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Rüttgers und seine Partei sind um über 10 % mit 34,6 % auf das schlechteste Ergebnis abgestürzt. Die FDP hat sich gegenüber 2005 minimal verbessert (6,7%); gemessen an der Bundestagswahl vom September ist sie allerdings um über 8% abgesackt. Die SPD ist gemessen an ihrer epochalen Niederlage vor 5 Jahren (Peer Steinbrück erzielte 37,1%) noch einmal um über 2% zurückgegangen, aber gegenüber der Europawahl (25,6%) oder der Bundestagswahl (28,5%) hat sie sich mit 34,5% etwas erholt. Die Grünen haben mit 12,1% ihr bestes Ergebnis erzielt und ihren Stimmenanteil seit der letzten Landtagswahl fast verdoppelt. Die Linke ist sicher in den NRW-Landtag gekommen (5,6%) und sitzt nun nach NRW in 13 Landtagen. Die Wahlbeteiligung ist auf 59,3% und damit auf den zweitschlechtesten Wert zurückgegangen. Der Wahlverdruss nimmt weiter zu.
Welche Regierungskoalition es geben wird, ist offen.
Da die FDP (bisher) sowohl die „Ampel“ als auch „Jamaika“ ausgeschlossen hat, ergibt sich folgende Konstellationen: Rot-Grün und Schwarz-Grün sind gleichauf, haben aber mit jeweils zusammen 90 Sitzen jeweils keine Mehrheit [PDF – 70 KB]. Die SPD muss sich also entscheiden: Entweder Große Koalition oder einen Politikwechsel mit den Grünen und der Linken – sei es als Duldung oder als Koalition. Wolfgang Lieb

Rüttgers ist abgestürzt

Es war der erwartet lange Wahlabend. Überraschend war eigentlich nur, dass die CDU deutlich mehr verloren hat, als alle erwartet haben. (Mich selbst eingeschlossen.) Das Wahlergebnis ist ein Fiasko für den amtierenden Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers und aller Voraussicht nach das vorläufige Ende seiner politischen Karriere. Das heißt: Wieder ein möglicher Opponent von Angela Merkel weniger und dennoch wird die Kritik an der Kanzlerin aus den eigenen Reihen zunehmen.

Rüttgers der noch vor wenigen Monaten als der sichere Wahlsieger galt, ist abgestürzt. Sein wichtigstes Thema, die Kampagne gegen Rot-Rot-Grün hat nicht verfangen. Im Gegenteil, mit dem Schüren von Ängsten gegen die Linke hat er selbst die wenigen Erfolge seiner Regierungszeit und seine inhaltlichen Botschaften verdrängt. Sein selbst stilisiertes Image als „Arbeiterführer“ und „Johannes-Rau-Epigone“ und damit auch sein Amtsbonus sind zerstoben: Er hat eben alle diese inszenierten Bilder nicht ausgefüllt. Er verkörperte keine Perspektive und wirkte daher am Ende geradezu erstarrt. Sein unpolitischer Wahlkampf, der nur auf „Stabilität“ setzte, konnte in Zeiten größter Unsicherheit und Instabilität nur scheitern. Da Rüttgers mit keinem Thema mit Bezug zu Nordrhein-Westfalen glaubwürdig war, haben ihm die – eher nebensächlichen – Spendenaffären seiner Partei und die Querschüsse aus seiner eigenen Kulisse so stark zugesetzt. Er stand letztlich ganz allein da und zum Schluss lag Rüttgers (40%) sogar im Kandidatenvergleich hinter der bis vor kurzem wenig bekannten und als aussichtslos gehandelten Kandidatin Hannelore Kraft (43%).
Rüttgers wollte und musste den Alleindarsteller spielen, denn kaum jemand in seinem Kabinett strahlte irgendwelchen Glanz ab und so muss er nun auch alleine die Verantwortung für das Desaster seiner Partei tragen.

Große Parteien erodieren

Obwohl für 55% der Wählerinnen und Wähler die Landespolitik für wichtiger hielten als die Bundespolitik (41%), hat Schwarz-Gelb in Berlin den Düsseldorfer Farbenträgern einen kräftigen Gegenwind verschafft. Die Taktik der Kanzlerin, die Hilfen für Griechenland oder die im Raum stehenden Sparmaßnahmen hinter den Wahltag in NRW zu verschieben, ist nicht aufgegangen. Das Zögern hat die Menschen eher noch unsicherer und ängstlicher gemacht als sie es ohnehin schon sind. Die erschreckend schlechte Wahlbeteiligung von unter 60% ist sicherlich auch damit zu erklären, dass viele Menschen das Vertrauen verloren haben, dass die derzeitige Politik überhaupt noch in der Lage ist die Krisen zu meistern. Das ist sicherlich ein Hauptgrund, dass in NRW auch Schwarz-Gelb in Berlin abgestraft wurde und dass auch die (noch etwas) größeren Parteien und damit auch die SPD weiter erodierten. Der Anteil der beiden Volksparteien ging von 81,9% auf 69% zurück.

Verzögerungstaktik von Angela Merkel ging nicht auf

Alle diejenigen, die bislang Merkel eine taktische Meisterleistung mit ihrer Verzögerungstaktik bescheinigten, werden vermutlich nunmehr umschwenken und der Kanzlerin eine wesentliche Mitschuld an dem Debakel in NRW zuschreiben.
Westerwelle verkündete zwar großspurig das Wahlergebnis sei ein „Warnschuss für die Regierungsparteien“ (also keineswegs für die FDP), doch alle diejenigen, die von den Berliner Koalitionären vor die Mikrofone gehen mussten, haben nicht mit einer Silbe angedeutet, was sie aus dem Denkzettel gelernt haben. Nur die CSU hat z.B. der Kopfpauschale eine Absage erteilt.

FDP erhielt eine Abfuhr

Wenn die FDP nicht doch noch aus „staatpolitischer Verantwortung“ wortbrüchig wird und mit den Grünen und/oder der SPD zusammengeht, dann ist sie in der Opposition gelandet. Die Episode des blassen FDP-Hardliners Andreas Pinkwart ist beendet.
Dessen radikaler Umbau der Hochschullandschaft zu „unternehmerischen Hochschulen“ und sein Credo „privat vor Staat“ haben eine Abfuhr erteilt bekommen. Die Ein-Themen-Partei für Steuersenkungen ist zur „Null-Themen-Partei“ (Andrea Nahles) geworden. Sind früher einmal CDU-Wähler zur FDP gewandert, um das sich selbst so nennende „bürgerliche Lager“ zu stärken, so hat die FDP von den CDU-Verlusten von über 10 Prozent überhaupt nicht profitiert.
Die NRW-FDP hat sich im Wahlkampf nicht getraut damit zu werben, bei welchen Entscheidungen sie Rüttgers auf ihren Kurs gezwungen hat, weil sie wusste, dass sie damit nicht punkten kann. Dadurch hat sie den Ansehensverlust ihres Alleindarstellers Westerwelle mit voller Breitseite abbekommen. Die NRW-FDP war mit gefangen mit Westerwelles Polemik gegen die Hartz IV-Empfänger („spätrömische Dekadenz“), der Bloßstellung als Klientelpartei (Mehrwertsteuerentlastung der Hoteliers) und vor allem dem von fast zwei Dritteln der Bevölkerung als irrsinnig betrachtete Festhalten an einer Steuersenkung in einer Verschuldenskrise.

Die Grünen sind die Gewinner

Die Grünen haben es dank ihrer Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann am besten verstanden, landespolitische Themen zu besetzen. Hilfen für die überschuldeten Kommunen, Energiewende (raus aus Kohle und Atom) und die „Lebenslüge“ des Festhaltens an der Hauptschule haben offenbar bei den Grünen-Wählerinnen und Wählern und darüber hinaus gezündet. Dass die Grünen die Linke weder tabuisiert noch dämonisiert haben, hat ihnen nicht geschadet. Im Gegenteil sie haben ihren Stimmenanteil gegenüber der letzten Wahl nahezu verdoppelt.

DIE LINKE stabilisiert sich als fünfte Partei

Die NRW-LINKE musste nicht lange zittern, sie war von den ersten Prognosen bis zu den letzten Hochrechnungen stabil im Düsseldorfer Landtag. Die Kampagne gegen die von Rüttgers noch am Wahlabend als „extremistisch“ beschimpfte Partei hatte ihre Wirkung verfehlt. Ihre Spitzenkandidatin Bärbel Beuermann und Wolfgang Zimmermann konnten sich am Wahlabend gelassen zurücklehnen und erklären, dass an der Linken ein Politikwechsel in NRW nicht scheitern würde und dass nun die SPD beweisen müsse, dass sie für eine andere Politik „regierungswillig“ ist.

Rot-Grün nur mit Unterstützung der Linken

Zu welcher neuen Landesregierung es nun in NRW kommt ist völlig offen.

Noch ist ungeklärt, um wie viele Stimmen (es dürften nicht viel über tausend sein) Rüttgers die Nase vor Kraft hat. Der amtierende Ministerpräsident hat – nach seinem Rücktrittsangebot – schon am Wahlabend vorlaut erklärt, dass ihn sein Vorstand einstimmig aufgefordert habe, Verhandlungen über eine Regierungsbildung zu führen. Er übernehme die Verantwortung dafür, dass „es in NRW weiter stabil bleibt“.

Ob es sich Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann bieten lassen werden, dass der abgestrafte Wahlverlierer Rüttgers der Einladende für Koalitionsgespräche sein kann, bleibt fraglich. Doch was nützte es, wenn nun SPD und Grüne über eine Regierungsbildung sprächen: sie hätten keine Mehrheit im Landtag, um Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin zu wählen. Das ginge nur mit Unterstützung der Linken. Die Frage ist also, ob sich Rot-Grün von der Linken tolerieren ließe.

Für die Grünen scheint das kein großes Problem zu sein. Löhrmann ist damit immer tabufrei umgegangen und die Bundesgeschäftsführerin der Grünen, Steffi Lemke, hat in der „Elefantenrunde“ klipp und klar erklärt, dass die Grünen „die Politik der CDU im Bund und in NRW“ nicht mittragen würden.

Schwarz-Grün nur mit Tolerierung durch die SPD

Schwarz-Grün hätte im Düsseldorfer Landtag aber auch keine Mehrheit. Eine Regierung von CDU und Grünen müsste sich von der SPD tolerieren lassen, was die paradoxe Situation einer rot-grünen Mehrheit in einer von der CDU geführten schwarz-grünen Regierung heraufbeschwören würde.

Entweder eine linke Mehrheit oder eine große Koalition

Realistischerweise bleibt also nur eine irgendwie gearteten Zusammenarbeit zwischen einer linken Mehrheit im Parlament oder eine große Koalition zwischen CDU und SPD.
Hannelore Kraft hat eine Kooperation mit der Linken – anders als ihre hessische Kollegin Andrea Ypsilanti – nie völlig ausgeschlossen. Aber würde ihr ihre eigene Partei folgen?

Nagelprobe für die SPD

Hannelore Kraft muss befürchten, dass unter den gewählten SPD-Abgeordneten mehr als „Die Vier“ in Hessen sind, die eine Zusammenarbeit mit der Linken nicht mittragen würden. Es wäre also nicht einmal sicher, ob sie selbst mit den 11 Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin gewählt würde. In der NRW-SPD gibt es einen stärkeren und einflussreicheren Flügel als in Hessen, der Kraft in den Rücken fallen dürfte, wenn sie auf die vorhandene linke Mehrheit setzen würde. Es dürfte ein Trommelfeuer der durch und durch gegen die Linke gepolten Medienlandschaft in NRW geben. Man würde darauf verweisen, dass laut Umfragen selbst zwei Drittel der SPD-Anhänger gegen ein Bündnis mit der Linkspartei seien.

Die SPD-Rechte, also der Montan- und Wirtschaftsflügel der Sozialdemokraten, der ja in vielen Aufsichtsräten sitzt, wird massiv auf eine große Koalition mit der CDU drängen. Auch der DGB und die großen Industriegewerkschaften, sehen in einer solchen Koalition, die beste Option für sich. Hannelore Kraft hätte nur dann eine Chance, diesem Druck einigermaßen zu widerstehen, wenn sie mit aller Härte auf die von ihrer Partei beschlossenen inhaltlichen Positionen beharrte und mit der CDU in essentiellen Punkten nicht zu einer Verständigung käme.

Die CDU dürfte sich auf ihren hauchdünnen Vorsprung stützen und den Ministerpräsidenten für sich beanspruchen. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, dass man – um das Gesicht zu wahren – wie in Thüringen den amtierenden Ministerpräsidenten zum Rückzug zwingen wird. Was auch der CDU nicht schwer fallen dürfte, denn Rüttgers hat in seiner Partei viele Gegner, die nur darauf gewartet haben, ihn abzuservieren. Dann stellte sich nur noch die Frage, wer das Amt des Ministerpräsidenten einnimmt.

Wer wird Ministerpräsident?

Die CDU hat jedenfalls aus der bisherigen Kabinettsriege keinen vorzeigbaren Kandidaten. Der für die SPD vielleicht akzeptable bisherige Arbeits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann hat gewiss nicht die Statur für dieses Amt. Andreas Krautscheid gilt als Rüttgers Mann fürs Grobe und mit ihm wäre das von der SPD bekämpfte „System Rüttgers“ nicht beseitigt. Käme noch „Integrationsminister“ Armin Laschet in Frage. Der wäre zwar vermutlich für die SPD hinnehmbar, aber mit seiner Integrationspolitik und seinen familienpolitischen Positionen der -jetzt im Landtag wieder stärker gewordenen – ländlich-konservativen CDU nur schwer vermittelbar.

Die SPD könnte vielleicht auch, den Preis gegenüber dem Wahlverlierer CDU derart hoch treiben, dass sie das Amt des Ministerpräsidenten für sich beansprucht und so Hannelore Kraft ins Spiel bringen könnte. Wenigstens in einer Art „israelischen Lösung“, indem man die Amtszeit zwischen CDU und SPD untereinander aufteilt. D.h. eine Hälfte stellt die SPD die Ministerpräsidentin und die andere Hälfte besetzt die CDU dieses Amt.

Große Koalition zerstört die Glaubwürdigkeit eines „Neuanfangs“ der SPD

Käme es nach Thüringen zu einer weiteren großen Koalition nun auch noch im größten Bundesland, dann wäre die Glaubwürdigkeit eines „Neuanfangs“ der SPD nach Müntefering und mit Gabriel, die ja gerade in NRW erste zarte Früchte getragen hat, vollends verloren. Der weitere Niedergang der SPD bei kommenden Wahlen wäre kaum noch aufzuhalten und eine noch dramatischere Niederlage bei der Bundestagswahl 2013 wäre vorprogrammiert.

Und das alles, weil man in der SPD davor Angst hat, dass in einer rot-rot-grünen Koalition vielleicht ein Minister und ggf. ein Staatssekretär der Linken hingenommen werden müsste.
Wen das abschreckt, der belegt, dass er einen Politikwechsel nicht will.

Das dürfte den Grünen und der Linke auf Dauer nur Recht sein, weil es sie weiter stärkt.


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