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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Hinweise des Tages
Datum: 19. Februar 2010 um 8:47 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Heute unter anderem zu folgenden Themen: Mindestlohn; Armut wächst rasant; Streit über Regelsätze; das Märchen vom Absturz; mehr Geld nur in wenigen Fällen; Berlin senkt weiter Steuern; wer zu viel Steuern senkt; Bankenregulierung – Fehlanzeige; Pflicht zur Altersvorsorge; Datenhafen für die Informationsfreiheit; Stipendien für die Falschen; Privatschulkette in Nöten; Madrid kennt Putschisten an; Manchmal sagt ein Bild … (MB/WL)
Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.
Anmerkung unseres Lesers J.D.: Dass es sich beim IfW um einen neoliberalen Think-Tank handelt wird in dem Artikel mal wieder komplett unterschlagen. Der Einstieg in den Bericht ist ebenfalls manipulierend: ein gepierceter und “merkwürdig” riechender 20-jähriger Arbeitsloser bittet am Sozialamt um einen Zuschuss. Ein Schelm, wer bei diesem Einstieg böses denkt. Die Verfasserin des Artikels, Anne Seith, übernimmt die Argumentation des IfW ohne kritisch zu hinterfragen. Absenkung der Hartz IV-Sätze soll das Lohnabstandsgebot wiederherstellen. Dass viele Ökonomen dies als falsche Schlussfolgerung ansehen, wird mit keiner Silbe erwähnt. Statt die Löhne im Niedriglohnsektor anzuheben, wird vielmehr für eine weitere Verarmung der Unterschicht plädiert. Die Zahlen des IfW sind auch nicht gerade ein neuer Informationsgewinn – sie geistern schon in ähnlicher Form seit Anfang des Jahres in der Medienlandschaft herum. Auch wenn in einem Absatz die Fallmanager davon reden dürfen, dass arbeitsunwillige Arbeitslose eher die Ausnahme sind, ist dies mal wieder ein unerträglicher und amateurhafter Artikel über Hartz IV.
Ergänzende Anmerkung MB: Der Spiegel ist hier mal wieder auf dem Niveau einer Bild-Zeitung für Möchtegern-Intellektuelle. Amateurhaft ist das aber nicht, sondern bewusste und absichtliche Agitation.
Anmerkung Orlando Pascheit: Während sich die FTD nicht schämt mit der Schlagzeile aufzumachen: “OECD gibt Westerwelle recht”, hat der Tagespiegel die Studie gründlicher analysiert. Allerdings hat die OECD-Studie wie auch die Diskussion darüber eine starke Schlagseite, die Konzentration auf die finanziellen Anreize für Hartz-IV-Bezieher, eine Arbeit aufzunehmen. Ohne auf Anreizstrukturen an sich einzugehen, sollte doch aber zuerst zur Kenntnis genommen werden, dass die Konjunktur auch neue Arbeitsplätze in größerem Umfang hergeben muß. Der Arbeitsmarkt ist nicht getrennt von der Dynamik der Güter- und Kapitalmärkte zu sehen. Selbst das beste Anreizsystem kann 3,6 Mio. Arbeitslose, besser 4,8 Millionen Unterbeschäftigte nicht auf 1 Mio. offene Arbeitsstellen (optimistische Annahme) verteilen.
Anmerkung MB: Herr Prantl, Herr Leyendecker, geben Sie Ihrem Kollegen Hulverscheidt doch bitte dringend Nachhilfe. Das Institut zur Zukunft der Arbeit ist ein Arbeitgeber-dominierter Lobby-Think-Tank voller einschlägiger Politiker/innen, Arbeitgeber-Lobbyisten/innen und Aktivisten der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Der berüchtigte Arbeitsmarktpolitik-Direktor Hilmar Schneider wollte sogar mal Arbeitslose versteigern lassen, um die Kosten für Sozialausgaben gegenzufinanzieren. Wenn solche „Studien“ aus dieser Ecke kommen, kann das eigentlich nur unseriös sein.
Quelle 2: NachDenkSeiten, Hinweise des Tages vom 10.11.2009
Ergänzende Anmerkung WL: Das DIW schreibt in einer Studie gestern: „Die zunehmende Spreizung der bedarfsgewichteten Haushalts-Nettoeinkommen war Folge einer Polarisierung der Einkommensverteilung hin zu den Rändern und einer entsprechenden Schrumpfung der mittleren Einkommensklassen.“ Das IZA schreibt nun, dass der Absturz des Mittelstands ein Märchen ist. Der Präsident des DIW und der Direktor des IZA ist Klaus F. Zimmermann, um die Koordination der Forschung in seinen beiden Instituten scheint er sich nicht sehr zu kümmern.
Aussagekräftig wäre nur die Verfolgung des Verlaufs vom Arbeitslosengeld I über den Abbau der Ersparnisse und des Vermögens bis zur Bedürftigkeit und einem Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Dass vor dem Absturz ins Arbeitslosengeld, die Betroffenen auch Billigjobs angenommen haben ist sicherlich der traurige Regelfall.
Hätte das IZA Recht, wäre übrigens das Lamento von Westerwelle über die Leistungsträger in der Mitte, um die sich angeblich niemand kümmert, als wohlfeile Propaganda entlarvt.
Anmerkung F.F.: Auch der Focus greift den Armutsbericht der DIW heute morgen auf. Natürlich ohne vorher den Leser zu belehren, auf das er ja nicht glaube, was er da liest …:
“Wer ist arm in einem reichen Land wie Deutschland? Jemand, der keine Wohnung oder nicht genug zu essen hat? Mit Sicherheit. Doch die Europäische Union hat eine Definition ausgegeben, mit der die Armut für Statistiker fassbar wird: Arm ist, wem weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in einem Land zur Verfügung stehen. Nach dieser Definition müsste es eigentlich keine Armen geben: Wenn die Spanne der Einkommen nicht breit aufgefächert wäre, lägen die niedrigsten Einkommen nicht um mehr als 40 Prozent unter dem mittleren Wert. Soweit zur Theorie und der idealen Welt. In der Praxis sieht das anders aus.”
Das schlägt einem das Fass die Krone ins Gesicht. Hier fordert die neoliberale Schreiber-Zunft des Focus neuerdings offenbar allen ernstes, man möge die Klientel der elitären Reichen aus der Definition der EU für Armut und in der Rechnung für die Bestimmung des “mittleren” Einkommens unberücksichtigt lassen. Statistik-Fälschung ist offenbar der nächste herbeigewünschte Schritt der Neoliberalen, könnte man den Zerfall einer sozialen Marktwirtschaft besser dokumentieren?
Angesichts der Ergebnisse der DIW-Studie stellt diese Forderung kein Wunder dar: Wie oben schon beschrieben waren in Deutschland im Einkommensjahr 2008 bereits 11,5 Millionen Menschen arm. Und der Trend in den letzten 15 Jahren sei “deutlich”. “Immer mehr Menschen in Deutschland sind arm, und immer weniger schaffen es, der Armutsfalle zu entkommen”, zitiert Focus das Fazit zur Studie.
Dennoch scheinen die Worte der Studien-Autoren von den Münchner Redakteuren nicht begriffen worden zu sein: “Aufwärtsmobilität aus der Armut heraus ist seltener geworden“, eine „Verfestigung von Strukturen und zunehmende Ungleichheit” sei festzustellen. Immer mehr Menschen sind von Armut bedroht, wenige verdienen immer mehr, und die mittlere Einkommensklasse schrumpft.
Ergänzende Anmerkung WL: Die hervorragenden Focus-Journalistin und der über den Beitrag entscheidende Chefredakteur habe offenbar nicht verstanden, worüber sie schreiben. Sie gehen vom Durchschnittseinkommen und nicht vom Mittleren Einkommen, dem Median aus. Beim mittleren Einkommen fallen die Ausreißer kaum oder nur in geringem Umfang ins Gewicht. Lesen Sie dazu noch einmal die gute Erläuterung zum Median in BildBlog.
Anmerkung MB: Das sagt ausgerechnet Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth. Erst vor zwei Jahren wurde der Gewerbesteuersatz in Frankfurt am Main deutlich gesenkt, was der Stadt jährliche Einnahmeverluste von 100 Millionen Euro bescherte.
Quelle 2: Handwerkskammer Rhein-Main
Quelle 3: Rhein-Main-Bündnis
Ergänzende Anmerkung Orlando Pascheit: Wenn die Bundesregierung meint, den Forschungsstandort Deutschland über Steuersenkungen fördern zu können, warum sollen dann die sowieso klammen Länder dafür aufkommen. Es dürfte doch nicht allzu schwierig sein, z.B. als Ausgleich bei den so genannten Gemeinschaftssteuern den Verteilungsschlüssel zu ändern.
Anmerkung MB: Die Sinns, Rürups und Raffelhüschens werden schon die Laptops warm laufen lassen, um ihre neuesten Pseudo-Studien auszubrüten, welche die Kunden kommerzieller Altersvorsorge dann über ihre Raten quersubventionieren. Schade, dass sich die Verbraucherzentralen da so unsensibel instrumentalisieren lassen. Einige der Leserkommentare sind toll. „Interessanter Vorschlag für die Millionen im Niedriglohnbereich… sonst kaufen die nur noch Ferraris…;-). Vielleicht setzt Guido ja eine ERGO-Gruppen-Steuer gleich um. 20 % gehen dann direkt an seinen Finanzdienstleister und Versicherer.“
Passend dazu:
Wikileaks: Verrat auf Nummer Sicher
Mal kommen so die geheimen Richtlinien für das Lager in Guantánamo ans Licht und offenbaren, dass die US-Regierung bewusst Gefangene vor dem Roten Kreuz verstecken lässt. Mal erfährt die Welt auf demselben Weg von einem Gutachten der britischen Ölfirma Trafigura, wonach diese mit der illegalen Deponierung toxischer Schlämme zigtausende Bewohner der Elfenbeinküste vergiftet hat. Dann wieder erscheinen auf der Webseite Papiere, die belegen, wie höchste Polizeioffiziere in Kenia in die Ermordung von Regierungsgegnern verstrickt sind. Und auch in Deutschland machte Wiki- leaks Schlagzeilen, zuletzt im vergangenen Dezember mit einem Report von Feldjägern der Bundeswehr, die schon einen Tag nach dem Bombenangriff in Kundus über Opfer in der Zivilbevölkerung berichtet hatten, während der Verteidigungsminister dies monatelang leugnete. All diese und hunderte weiterer spektakulärer Enthüllungen der letzten drei Jahre von Peru bis Australien haben eines gemeinsam: Die Informanten, die Hinweisgeber oder „whistleblower“ wie sie in der englischsprachigen Welt heißen, wagten es nicht, sich direkt den Medien zu offenbaren, weil sie bei einer möglichen Enttarnung um ihren Job, ihre Freiheit oder sogar ihr Leben fürchten mussten. Dank Wikileaks können sie dennoch gefahrlos ihr Gewissen erleichtern oder ihre Anklagen in die Öffentlichkeit tragen. Diese Sicherheit, meint Alan Rusbridger, der skandalerfahrene Chefredakteur der britischen Tageszeitung „Guardian“, mache Wikileaks zu „einem enorm mächtigen Instrument“. Das werde weltweit „den Journalismus verändern“, erwartet Rusbridge.
Quelle: Tagesspiegel
Anmerkung Orlando Pascheit: Der Haupteinwand gegen WikiLeaks lautet, dass durch die gewährte Anonymität nicht garantiert werden könne, dass die veröffentlichten Dokumente echt oder falsch seien. Ich finde, Richtigstellungen kann man ruhig den betroffenen Firmen oder Regierungen überlassen. Auf jeden Fall sind die Veröffentlichungen eine gute Ausgangsbasis für journalistische Recherche. Dem veröffentlichten Feldjägerbericht zu Kunduz, der bereits früh über zivile Opfer informierte, hat niemand widersprochen.
Ergänzung: Mehr Informationen zum Thema soziale Ungleichheit beim Hochschulzugang liefert ein Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Artikel dazu im Böckler Impuls. Ein weiteres Gutachten beleuchtet Benachteiligungen im Studium aufgrund der sozialen Herkunft der Studierenden. Alle von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Expertisen zum Reformbedarf im tertiären Bereich finden Sie hier im Überblick. Wie sich die Probleme lösen lassen, damit befasst sich das neue Leitbild “Demokratische und Soziale Hochschule” [PDF – 808 KB]. Auf Einladung der Hans-Böckler-Stiftung skizziert ein Kreis von renommierten Bildungsforschern, Hochschulpraktikern und gewerkschaftlichen Bildungsexperten darin ein reformiertes Hochschulsystem, das soziale Barrieren beim Hochschulzugang und im Studium beseitigt, die Begabungspotenziale beruflich Qualifizierter ohne Abitur optimal erschließt, wissenschaftliche Freiheit und hohe Qualität in Lehre und Forschung garantiert und den Arbeitsplatz Hochschule attraktiv erhält. Auf dem 3. Hochschulpolitischen Forum, das die Hans-Böckler-Stiftung am Mittwoch, den 24. und Donnerstag, den 25. Februar in Berlin veranstaltet, wird das neue Leitbild vorgestellt. 150 Wissenschaftler, Studierende, Gewerkschafter und Politiker debattieren darüber, wie das Leitbild in die Hochschul-Praxis umgesetzt werden kann. Das Programm des Forums finden Sie hier [PDF – 271 KB].
Anmerkung Orlando Pascheit: Die Macht des Faktischen in der Politik und die Interessen Spaniens. Spanien folgt nur der zentralen Ideologie der EU: der Markt hat Vorfahrt.
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