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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Zum Bundestagswahlprogramm der Partei der Linken
Datum: 12. Mai 2009 um 9:20 Uhr
Rubrik: Das kritische Tagebuch, DIE LINKE, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wahlen
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
In letzter Zeit liest man allenthalben die oft nur vorgespiegelt fürsorgliche Frage, warum die Krise der Linken nicht in die Hände spielt. Heribert Prantl begründet dieses erklärungsbedürftige Phänomen in der Süddeutschen Zeitung damit: „Wenn die Leute in der Klemme sitzen, dann wollen sie nicht immer nur hören, warum das so ist. Sie wollen wissen, wie sie da wieder herauskommen. Dazu ist von der Linkspartei nicht viel zu hören.“ Ein ausgewiesener Realo aus der Linkspartei, das Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus Carl Wechselberg, wirft seiner eigenen Partei im Spiegel vor, sie biete den „Bürgern und Wählern, die sich in der Krise existentiell bedroht sehen“ keine „echte Antworten und Konzepte“ und keine „politische Strategie zu deren Umsetzung“.
Auch der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering schlägt im ZDF in die gleiche Kerbe: Die Linke habe ihren Höhepunkt überschritten, sie „hat keine Orientierung an den Lebenswirklichkeiten, sie versucht sozialpopulistischer sein als die anderen.“
Umso interessanter ist es, das Bundestagswahlprogramm [PDF – 320 KB] einmal danach abzuklopfen, ob die Linke tatsächlich keine Antworten und Konzepte oder keine Orientierung an der Lebenswirklichkeit hat. Wolfgang Lieb
„Konsequent sozial. Für Demokratie und Frieden.“ ist das Programm überschrieben. Das ist nun wirklich keine abgrenzende Schlagzeile, denn für sozial halten sich selbst die FDP, die CDU und die SPD ohnehin. Und Demokratie und Frieden ist für die anderen so selbstverständlich, dass sie das gar nicht mehr für erwähnenswert halten – und für Frieden kämpft nach Auffassung selbst der Grünen die Bundeswehr schließlich auch im Afghanistan, im Kosovo und anderswo in der Welt. Die von der Linkspartei gewählten Worte sind also auch von den anderen schon längst besetzt.
Ähnlich wie das Lafontaine häufig tut, stützt sich das Programm gleich zu Beginn auf ein Zitat einer unverfänglichen Autorität. Diesmal muss der Nobelpreisträger für Ökonomie Joseph Stiglitz herhalten: „Der neoliberale Marktfundamentalismus war immer eine politische Doktrin, die gewissen Interessen diente…“ Gegen solche Zitate, wie auch später etwa noch der Rekurs auf das Ahlener Programm der CDU aus dem Jahre 1949, auf Antoine de St. Exupéry, auf Karl Marx oder Jane Fonda ist in der Sache nichts zu sagen, doch sie belegen das immer wieder durchschimmernde schlechte Gewissen der Linken. Sie meinen offenbar ihre Glaubwürdigkeit unter Berufung auf anerkannte Autoritäten stützen zu müssen.
Die Linke fordert einen „Schutzschirm für die Menschen“ (bzw. „einen Schutzschirm zur Rettung von Arbeitsplätzen, Löhnen und Sozialeinkommen“) und weitet damit die DGB-Forderung nach einem „Schutzschirm für Arbeit“ ins Allgemeine aus.
In der Krisenanalyse dürften die Kritiker der Linken kaum Ansatzpunkte finden, bis auf die Tatsache, dass hier eine etwas härtere Tonart angeschlagen wird. Den anderen Parteien wird in ihrer praktischen Politik pauschal ein „Weiter-So“ vorgehalten, was diese – zumindest verbal -heftig bestreiten. (Leider) etwas neben der Stimmungslage der gesamten Bevölkerung liegt die Einschätzung, dass es große Sorge gäbe, dass die Maßnahmen der Bundesregierung nicht ausreichten, oder dass gar Wut herrsche. Sorge und Wut gibt es in der Bevölkerung sicherlich, doch sie richten sich (noch) nicht gegen die Regierenden oder die regierenden Parteien oder gar gegen die FDP – und das ist gerade das Mobilisierungsproblem für die Linke. Sie muss – machtpolitisch notgedrungen – auf ihren indirekten Einfluss setzen: „Je stärker DIE LINKE, desto sozialer unser Land.“
Die Linke beansprucht für sich, die „einzige konsequent soziale Schutzmacht“ zu sein und greift mit dem Wort „Schutzmacht“ auf ein altes Motiv aus Johannes Raus Zeiten zurück (die SPD sei die Schutzmacht der kleinen Leute).
Wie die Gewerkschaften unterstellt Die Linke als Ursache für die Finanzkrise die Umverteilung der Finanzvermögen von unten nach oben: „Diese privaten Reichtümer wurden zum Treibstoff für den raketenhaften Aufstieg der Investmentfonds, der Hedgefonds, für die Weltmacht Finanzwirtschaft. Weil diese Fonds Hunderte von Milliarden Euro einsammelten, gewannen sie Macht über die Politik.“
So sehr man die Spaltung der Gesellschaft in arm und reich beklagen muss – wir haben das auf den NachDenkSeiten des Öfteren beschrieben -, die Finanzkrise ist jedoch ganz wesentlich eine Folge des von der Politik geförderten Eindringens von Wetten, Glücksspiel und Kettenbriefen in die angeblich so solide Finanzwirtschaft.
Die Linke macht sich für die große Zahl der Bürgerinnen und Bürger nicht verständlicher (und sympathischer), wenn sie formuliert, dass „gerade in den letzten zehn Jahren … sich die Regierungen in den Dienst des Kapitals gestellt“ hätten. Der Begriff des „Kapitals“ ist ein viel zu abstrakter, als dass der „Normalbürger“ (jedenfalls im Westen Deutschlands) damit wirklich etwas anfangen könnte. Warum belegt man nicht an Hand von ganz konkreten Beispielen, dass mindestens seit der Wende 1982 eine falsche Wirtschaftspolitik betrieben wurde, die auf der Ideologie basierte, dass es „der Wirtschaft“ besser gehen und der Staat sich heraushalten solle? Und dass schließlich alle Politikfelder nach dieser Ideologie ausgerichtet worden sind.
Immer wieder heißt es „der Kapitalismus“ (später jedoch abgeschwächt nur noch „der Finanz-Kapitalismus“) habe dieses und jenes Übel bewirkt. Zwar sind die Übel (Lohndruck, Profitgier, ökonomische Ungleichgewichte, Zerstörung von Arbeitsplätzen etc.) korrekt beschrieben, doch wird mit „dem“ Kapitalismus nur ein verbaler Kampfbegriff, sozusagen als Drohkulisse, aufgebaut, ohne dass man bereit wäre (oder das auch nur will), die Systemfrage klar zu benennen.
Vermutlich ist es diese Lücke, in die die Gegner der Linken locker hineinstoßen und ihr vorwerfen können, sie habe keine Alternative zur herrschenden Politik, oder noch härter, sie wolle doch nur zurück zum historisch gescheiterten (realen) Sozialismus.
Was nämlich als „klare“ oder „echte Alternative“ angeboten wird, nämlich „eine andere Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen“ hört sich zwar gut an, es ist jedoch kein greifbares (Alternativ-)Projekt, mit dem sich eine große Zahl von Menschen mit Herz und Verstand identifizieren könnte. Es wird zurecht kritisiert und attackiert, doch es fehlt die konkrete Utopie einer menschlicheren Gesellschaft, auf die die Menschen ihre Hoffnungen projizieren könnten.
Das Bundestagswahlprogramm der Linken bricht bei der Ausformulierung einer Zukunftsvision abrupt ab und geht unmittelbar zu den „Sofortmaßnahmen“ über: Einem „Zukunftsfonds Arbeitsplätze“, „einem öffentlichen Investitionsprogramm Arbeitsplätze“, der Befestigung der sozialen Sicherungssysteme, der Stärkung des öffentlichen Eigentums bis zur Millionärsteuer und der Vergesellschaftung von Banken“. Diese Forderungen mögen viele unterschreiben, sie wirken jedoch unverbunden. Es fehlt sozusagen der Kitt, der sie zusammenhält.
Die zahlreichen Einzelvorschläge kann man an dieser Stelle beim besten Willen gar nicht alle aufführen, man muss sie von Seite 6 bis Seite 40 selbst überfliegen. Da ist von einem 100 Milliarden Investitionsprogramm, einem 100 Milliarden Zukunftsfonds für Unternehmen zur Weiterentwicklung von sozialen und ökologischen Produkten, von der Erhöhung des Hartz-Regelsatzes auf 500 Euro bis zum gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro geradezu akribisch alles angesammelt, was das linke Herz begehrt.
Mit Blick auf den DGB fordert auch die Linke „Gute Arbeit“ und mehr „Wirtschaftsdemokratie“, darüber hinaus wird ein „Verbot von Massenentlassung bei allen Unternehmen, die nicht insolvenzgefährdet sind“, gefordert. Beim Anteil der erneuerbaren Energien bis 2020 und beim Atomausstieg überholt die Linke gar die Grünen. Von der Verkehrspolitik, der Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, der Familienpolitik, einer neuen Politik für den Osten Deutschlands, einem Pakt für eine Sozialstaatsgarantie und dem massiven Ausbau der Sozialsysteme, der Wohnungspolitik bis hin zur sozialen Integration, zur Bildungs- und Medienpolitik wird kaum eine andere Partei so viele Einzelforderungen zusammentragen können, wie sie im Wahlprogramm der Linken aufgelistet wurden.
Die Linke bietet aus schlechter Erfahrung gewieft auch eine Gegenfinanzierung ihrer zahlreichen Forderungen an. Es ist ein radikales Umverteilungsprogramm (man könnte auch von einem Rückverteilungsprogramm sprechen) von oben nach unten:
Bis 12.000 Euro brutto steuerfrei, Kapitalerträge statt mit 25 % Pauschalsteuer zum persönlichen Steuersatz versteuern, Spitzensteuersatz ab 84.000 Euro auf 53% anheben, Ehegattensplitting abschaffen, Erhöhung der Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer als Millionärssteuer für Privatvermögen von über einer Million in Höhe von 5%, Börsenumsatzsteuer oder Rücknahme der Senkung der Körperschaftssteuer. Damit sollen rund 260 Milliarden Euro eingenommen werden, mit denen die Vielzahl der Projekte finanziert werden könnten, so heißt es.
In der Außen- und Sicherheitspolitik soll die NATO durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands ersetzt werden, und bis dahin soll jedenfalls keinem Ausweitungsversuch der NATO zugestimmt werden. Es sollen keine Auslandskriegseinsätze der Bundeswehr mehr zugelassen werden, auch nicht unter UN-Mandat. In die europäischen Verträge solle eine soziale Fortschrittsklausel aufgenommen und die europäische Verfassung soll durch die Bürgerinnen und Bürger mitgestaltet und zur Abstimmung vorgelegt werden.
Man mag viele der Forderungen der Linken in ihrem Bundestagswahlkampf für falsch halten, aber dann müsste man sich der Mühe unterziehen und dagegen argumentieren. Man mag viele der Forderungen zumal in ihrer Gesamtheit für unrealistisch halten, aber dann müsste man deutlich machen, dass die politischen Kräfteverhältnisse nicht so sind, dass sie durchsetzbar sind.
Man mag viele der Forderungen im Großen wie im Detail für populistisch halten, aber dann dürften Parteien keine Wunschkataloge unabhängig von ihrer Durchsetzbarkeit mehr vorlegen, sondern müssten von vorneherein auf mögliche Koalitionspartner schielen. Und gerade dieses Schielen auf Regierungsbeteiligungen und Koalitionsmöglichkeiten hat die übrigen Parteien doch so konturlos und so angepasst werden lassen. Es gab an der Basis der SPD und bei den Grünen, ja sogar ein Stück weit auch in der CDU gar nicht mehr den Mut, einmal unabhängig von Machtkalkülen zu formulieren, was man eigentlich will und wofür man steht.
(Der Populismus-Vorwurf von Franz Müntefering an die Linke ist – nebenbei bemerkt – ein bemerkenswertes Eingeständnis: Wenn er der Linken vorhält, sie versuche populistischer zu sein als die anderen, so gibt er immerhin zu, dass die anderen eben auch populistisch sind, die Linke eben nur populistischer.)
Auf solche pragmatischen Kalküle nimmt das Bundestagswahlprogramm der Linken kaum Rücksicht, insofern ist es ein eindeutiges Oppositionsprogramm. Es gibt keine andere Partei, mit der nur ein Bruchteil der dort aufgelisteten Forderungen durch- und umgesetzt werden könnte.
Das ist wohl auch der Führungsspitze der Partei klar. Sie hat die radikale Konsequenz daraus gezogen, dass es im kommenden Bundestag weder zu einer Koalition noch zu einer sonst wie gearteten Zusammenarbeit mit der SPD und damit auch nicht zu Rot-rot-Grün kommen wird.
Deshalb war Die Linke frei von Rücksichtnahmen auf Realisierungschancen des überwiegenden Teils ihrer Vorschläge. Das wird zwar für die konkrete Regierungspolitik in der kommenden Legislaturperiode nicht viel bewirken, aber dennoch kann das Programm wirken, weil es Alternativen in einer schier unendlichen Zahl von Maßnahmen aufzeigt, von denen wohl selbst Die Linke nicht erwartet, dass sie auf absehbare Zeit verwirklicht werden könnten. In die gesellschaftliche Debatte eingebracht könnten diese Vorschläge jedoch die anderen Parteien zur Auseinandersetzung zwingen. Die Linke will einen Pflock in die politische Landschaft einrammen, an dem sich die anderen Parteien messen lassen sollen, wenn sie auf abschüssigem Gelände in den Alltagsauseinandersetzungen immer weiter talabwärts trudeln.
Es gibt im politischen Kräfteverhältnis immer eine Art Gummiband-Effekt, d.h. wenn auf der Linken ein Stück des Gummibandes gekappt wird, rutscht das politische Spektrum nicht nur um das abgeschnittene Stück nach rechts, sondern die Vielfalt verengt sich insgesamt um ein Mehrfaches. Das konnte man beobachten, als die SPD ihren Kurswechsel hin zur Agenda-Politik vollzog. Da war nicht nur die SPD nach „rechts“ gerückt, sondern die Grünen und die Union gleich mit, und nur die FDP hat ihren Pol auf der wirtschaftsliberalen Seite verteidigt und die anderen Parteien zu sich hingezogen.
Warum sollte dies nicht umgekehrt eine Partei auf der Linken genauso betreiben? Sie hat mit dieser Vorgehensweise bisher schon – auch dank der Krise – das politische Spektrum wieder erheblich erweitert. Konjunkturprogramme, Mindestlohn, ja sogar der Ausbau des Sozialstaats sind wieder zu politischen Themen, ja in einzelnen Elementen sogar zur Regierungspolitik geworden. Gysi hat ja nicht Unrecht, wenn er sagt „Links wirkt“.
Die Linke wird mit ihrem Bundestagswahlprogramm vielleicht nicht diejenigen ansprechen, die von dieser Partei praktische Politik erhoffen oder erwarten. Insofern ist es unsicher, ob sie solche Menschen erreichen wird, die von der Politik eine konkrete Verbesserung ihrer Situation einfordern. Aber sie kann diejenigen erreichen, die nicht resignieren, sondern darauf bauen, dass über eine Veränderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses auf Dauer eine andere Politik als die vorausgegangene wieder möglich wird.
Jedenfalls kann niemand der Linken mehr vorwerfen, sie habe keine Vorschläge.
Sie hat eher so viele, dass sie kaum mehr ein geschlossenes Bild abgeben. Sie hat zwar nicht auf einen Realitätsbezug (schon gar nicht in ihrer Analyse der Krise) verzichtet, aber auf einen Bezug zu irgendeiner Regierungsbeteiligung. Doch wer dem Programm das vorwirft, verkennt, dass es dieses Ziel gar nicht verfolgt.
Die Linke setzt auf eine ganz andere Strategie: Sie setzt auf eine Stärkung, damit die anderen Parteien reagieren, weil sie um ihre Wählerinnen und Wähler fürchten.
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