Thesen für eine Podiumsdiskussion auf Fachtagung der Landesarbeitsgemeinschaft AWO NRW am 18.Februar in Düsseldorf. Wolfgang Lieb
Armut gefährdet unsere Demokratie
Zusammenfassende Thesen:
- Ambivalentes Bild: Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie wächst – aber Zustimmung zum Grundgesetz steigt auch.
- Es ist falsch, die Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis mit einem Verdruss über die Demokratie als Staatsform zu verwechseln.
- Richtig ist: Ärmere Menschen beurteilen das Funktionieren der Demokratie weit überdurchschnittlich kritisch.
- Diese kritische Haltung ist jedoch eher (noch) eine Politik-, Politiker- und Parteienverdrossenheit als Demokratieverdrossenheit.
- Bedenklich, ja sogar gefährlich ist die Politikverdrossenheit als Ausdruck persönlichen Versagens abzutun.
Dabei werden Ursache und Wirkung verkehrt.
Es werden die Betroffenen stigmatisiert, anstatt dass die Gründe analysiert werden, warum große Teile des „abgehängten Prekariats“ unzufrieden sind mit dem Funktionieren der Demokratie.
- Gefährlich halte ich diese Stigmatisierung vor allem deshalb, weil diese „persönliche Schuldzuweisung“ einer Spaltung der Gesellschaft Vorschub leistet.
Wilhelm Heitmeyer hat in seiner Langzeitstudie mit dem spröden Titel „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ festgestellt, dass etwa die „Arbeitslosenfeindlichkeit“ inzwischen die „Fremdenfeindlichkeit“ abgelöst hat.
BILD-Kampagne (Überschriften z.B. „Zu viele Arbeitslose drücken sich vor der Arbeit“ )
Eine große Mehrheit ist für den Sozialstaat und für mehr sozialen Ausgleich.
- Wenn die Politik in zentralen Fragen der sozialen Sicherheit dauerhaft gegen den Mehrheitswillen regiert, ist die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie nicht verwunderlich.
- Der Verdruss darüber spiegelt sich wieder in den abstürzenden Mitgliederzahlen der großen Parteien und in historisch niedrigen Wahlbeteiligungen.
- Es entwickelt sich eine Zweidrittel-Demokratie
Die einzige Partei, welche die neuen Armen heutzutage bilden, ist die Partei der Nichtwähler; sie wird immer größer, hat aber keine politische Kraft.
Es ist zu befürchten, dass sie exakt deswegen destruktive Energie entwickelt – weil nämlich Demokratie nicht mehr gut funktionieren kann, wenn ein immer größerer Teil der Gesellschaft nicht mehr dabei mitmacht. Eine Zwei-Drittel Demokratie ist eine Gefahr für den inneren Frieden. (Prantel, SZ, 17. 10.2006)
- Verdruss am Funktionieren der Demokratie ein Nährboden für Neonazis
Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie wächst – aber Zustimmung zum Grundgesetz steigt
Mehrere Umfragen (ARD-Deutschlandtrend von infratest dimap Ende 2006; eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie des Münchner Instituts Polis/Sinus 2008; der Eurobarometer der EU 2007) kommen übereinstimmend zu dem Befund, dass ungefähr die Hälfte der Deutschen mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert weniger oder gar nicht zufrieden sind.
Andererseits
hat das Institut für Demoskopie Allensbach festgestellt, dass über 80 % unser Grundgesetz für gut halten.
Auch die Polis/Sinus-Studie der FES kommt zu dem Befund, dass die große Mehrheit der Bundesbürger (78 %) unsere Gesellschaftsordnung für verteidigenswert hält.
Fälschlicherweise wurde die weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in den Medien als „Demokratieverdruss“ oder als „Staatsverdruss“ (Franz Walter) interpretiert.
Man sollte aber nicht den Fehler machen, Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis mit Verdruss über die Demokratie als Staatsform zu verwechseln.
Richtig ist
Ärmere Menschen beurteilen das Funktionieren der Demokratie weit überdurchschnittlich kritisch:
73% der Arbeitslosen, 63% der Hartz-IV-Haushalte, 61% der Ostdeutschen, 60% der Haushalte mit einem Nettoeinkommen von unter 700 Euro beurteilen die demokratische Praxis in Deutschland kritisch (siehe Polis/Sinus Studie).
Nun ist es alles andere als erstaunlich, dass gerade solche Menschen mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden sind, denen es schlecht geht oder denen es in den letzten Jahren schlechter gegangen ist. Die These der Studie, dass „Armut bzw. soziale Disparität zu Demokratieverdruss“ führen, ist auch historisch nichts Neues; man denke nur an das Ende der Weimarer Republik.
Geradezu gefährlich halte ich die Interpretation, die Unzufriedenheit nicht als Politik- und Parteinverdrossenheit zu betrachten, sondern als Ausdruck einer nur „aktuellen Verärgerung“ oder gar als Ausdruck persönlichen Versagens. Dabei werden Ursache und Wirkung verkehrt.
Die Opfer der Politik werden so unter der Hand zu schlechten Demokraten abgestempelt.
Es werden die Betroffenen stigmatisiert, anstatt dass die Gründe analysiert werden, warum große Teile des „abgehängten Prekariats“ unzufrieden sind mit dem Funktionieren der Demokratie.
Gefährlich halte ich diese Stigmatisierung vor allem deshalb, weil diese „persönliche Schuldzuweisung“ einer Spaltung der Gesellschaft Vorschub leistet.
Wilhelm Heitmeyer hat in seiner Langzeitstudie mit dem spröden Titel „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ festgestellt, dass etwa die „Arbeitslosenfeindlichkeit“ inzwischen die „Fremdenfeindlichkeit“ abgelöst hat.
Mich erstaunt diese „Arbeitslosenfeindlichkeit“ nicht:
Die zunehmende Entsolidarisierung der Gesellschaft unter dem Stichwort „Eigenverantwortlichkeit“ oder ganz konkret die Hartz-Reformen haben zu einem Paradigmenwechsel der politischen Behandlung der Arbeitslosigkeit geführt.
War Arbeitslosigkeit bis dato eher als Schicksalsschlag eines schlechten Arbeitsmarktes betrachtet worden, so legt die Parole vom „Fördern“ und vor allem vom „Fordern“ den Vorwurf nahe, als handle es sich bei einer Entlassung um ein persönliches Versagen.
Der Absturz in die Bedürftigkeit nach 12 bzw. 18 Monaten wurde bewusst als – wie das so beschönigend umschrieben wird – als „Anreiz“ zur Wiederaufnahme von Arbeit gedeutet.
Die Leistungen an die Arbeitslosen wurden gekürzt, um einen materiellen Druck zu schaffen, jenseits der „Zumutbarkeit“ jede Arbeit zu jedem Preis anzunehmen.
Die Kampagnen gegen den sog. Missbrauch von Sozialleistungen, in denen ein großer Teil der Hartz-IV-Empfänger sogar regierungsamtlich von „Schmarotzern“ oder „Parasiten“ gesprochen wurde, tat ein Übriges um Arbeitslose als Faulenzer oder Drückeberger zu denunzieren.
Siehe etwa auch die Kampagnen der Bild-Zeitung gegen sog. „Hartz IV-Abzocker“.
Sieht man die Studien genauer an, sagen die Befunde, dass eine Mehrheit der Bevölkerung viel eher politik- oder politikerverdrossen ist.
In allen Studien korreliert die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie mit der Unzufriedenheit mit der Politik bzw. mit politischen Entscheidungen der letzten Jahre.
- 56 % der Befragten, dass es in Deutschland eher ungerecht zugeht (Deutschlandtrend).
- 57 % sind reformskeptisch (Polis/Sinus)
- 58 Prozent halten die Hartz-Reformen alles in allem für nicht gut (ZDF-Politbarometer August 2007)
- 78 Prozent sind für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für alle Branchen (ebd.)
- Gleichfalls 78 Prozent sind gegen die Rente mit 67.
In einer jüngsten Umfrage 2009 von TNS Emnid sind 78% für den Verbleib der Bahn im öffentlichen Eigentum und nur 20% für die Teilprivatisierung.
73% glauben nicht daran, dass durch die Lockerung des Kündigungsschutzes und eine Ausweitung der Probezeit auf 24 Monate in ihrem Betrieb neue Arbeitsplätze geschaffen würden (S. 46).
Zu vielen weiteren Reformen der Agenda 2010, etwa zur Rentenreform, zur Arbeitslosenversicherung etc., ist die Haltung der Bevölkerung gleichfalls mehrheitlich ablehnend.
Nach der gewiss reformfreudigen McKinsey Studie „Perspektive Deutschland“ (2006) hält die Hälfte der Teilnehmer die bisherigen „Reformen“ nicht für erfolgreich, und kaum jemand (15%) glaubt davon profitieren zu können (S. 34).
Eine große Mehrheit ist für den Sozialstaat und für mehr sozialen Ausgleich.
Wenn die Politik in zentralen Fragen der sozialen Sicherheit dauerhaft gegen den Mehrheitswillen regiert, ist die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie nicht verwunderlich.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Politik die Interessen der Großen bedient und bei den Kleinen zulangt:
- Die Vermögenssteuer wurde gestrichen,
- die Gewinne der „Heuschrecken“ sind steuerfrei gestellt worden,
- die Spitzensteuersätze und die Unternehmenssteuern wurden gesenkt;
- im Gegenzug wird wurden die Renten drastisch gekürzt und bei Neurentnern besteuert,
- die Pendlerpauschale, der Sparerfreibetrag, die Steuerfreiheit von Feiertags- und Nachtzuschlägen wurden beschnitten und es wurde
- die Mehrwertsteuer, die gerade die niedrigen Einkommensbezieher am stärksten trifft, um drei Punkte erhöht.
Die Reformen haben zwar gegriffen, aber überwiegend in die Taschen der „Kleinen Leute“.
Dies alles vor dem Hintergrund, dass sich in den letzten Jahren die Vermögensumverteilung von unten und von der Mitte nach oben beschleunigt hat. Nach einer im Januar 2009 vom DIW veröffentlichten Studie haben die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung in den letzten fünf Jahren noch mal satte drei Prozentpunkte zugelegt.
- Diese 10 Prozent besitzen nun über 61 Prozent des gesamten Vermögens.
- Allein das reichste ein Prozent der Bevölkerung vereinigt inzwischen 23 Prozent allen Vermögens auf sich.
- Die ärmeren 70 Prozent besitzen hingegen zusammen nur neun Prozent des gesamten Vermögens.
- 27 Prozent der Erwachsenen haben überhaupt nichts auf der hohen Kante beziehungsweise Schulden.
- Die Schulden der ärmsten zehn Prozent sind größer geworden. Sie sind im Durchschnitt mit rund 15.000 Euro verschuldet.
(Quelle: DIW Wochenbericht 4/2009 [PDF – 430 KB])
Wenn Sie mir die Zeit dafür geben, kann ich Ihnen eine ganze Latte von Daten vortragen,
- wie die relative Armut in den zurückliegenden Jahren zugenommen hat (Anteil der Armen stieg von 16 Prozent im Jahr 2003 auf 18 Prozent 2005)
- wie die Lohnquote (der Anteil der Bruttolöhne inkl. Sozialversicherungsbeiträgen am Volkseinkommen) abgesackt ist (80er = 76%; 2007 = 64,6%)
- Wie sich die Schere zwischen Manager- und Durchschnittsgehälter geöffnet hat (1987 = 14-fache, 2006 = 44-fache)
- Wie die Brutto (!)-Reallöhne zurückgegangen sind (2002 bis 2007 um 4,7%)
- Dass der Anteil von Niedriglöhnen (unterhalb von zwei Dritteln des Medians) 2006 bei gut 22% (6,5 Millionen Beschäftigte) liegt.
- Wie die Verschuldung der Haushalte zugenommen hat (1,6 Mio. Haushalte)
- Wie die Zahl der Haushalte mit niedrigen Nettoeinkommen stieg (um 27 Prozent seit 15 Jahren)
- Dass 2009 5,794 Millionen erwerbsfähige Frauen und Männer Anspruch auf Arbeitslosengeld (SGB III) bzw. Arbeitslosengeld II haben
- Dass mittlerweile gelten 14 Prozent aller Kinder offiziell als arm gelten und schätzungsweise 5,9 Millionen Kinder lebten in Haushalten mit einem Jahreseinkommen der Eltern von bis zu 15.300 Euro.
- Wie das Rentenniveau (auf heute 48,7 Prozent des Bruttoeinkommens) gesunken ist und das Risiko der Altersarmut zunimmt (2030 auf 25 % der Vollzeitbeschäftigten)
Sie kennen diese Daten sicherlich alle:
- Auch die gewiss wirtschaftsfreundliche OECD konstatierte im Herbst letzten Jahres, dass in Deutschland Einkommensungleichheit und relative Armut in den vergangenen Jahren stärker gewachsen sind als im OECD-Schnitt.
Der Anteil der Menschen, die in relativer Armut leben – d.h. mit weniger als der Hälfte des Medianeinkommens auskommen müssen – liegt mittlerweile knapp über dem OECD-Schnitt, während die Armutsquote Anfang der 90er Jahre noch rund ein Viertel geringer war als im OECD-Mittel (siehe OECD-Bericht [PDF – 67 KB]).
- Die Lohnquote – der Anteil der Arbeitnehmerentgelte (d.h. der Bruttolöhne incl. Lohnsteuern, Sozialabgaben und incl. AG-Anteile an Sozialversicherungsbeiträgen) am Volkseinkommen lag noch Anfang der 80er Jahre bei 76%. Bis zum Jahr 2000 ist der Anteil auf 72,2% nur langsam zurückgegangen. In den letzten 7 Jahren seit dem Jahr 2000 hingegen brach die Lohnquote regelrecht ein: im Gesamtjahr 2007 auf nur noch 64,6% (Destatis)!
Zum Vergleich: Die USA haben seit Jahrzehnten eine konstante Lohnquote von etwa 70%!
Was steckt hinter diesem scheinbar harmlosen Rückgang der Lohnquote um rd. 8%? Nun, dieser Rückgang bedeutet schlicht, dass die Arbeitnehmer und mit Ihnen die Sozialversicherungssysteme und der Staat auf nunmehr jährlich 135 Milliarden Euro (in den letzten 4 Jahren insgesamt über 400 Milliarden Euro) verzichten zugunsten der Unternehmer und Vermögenden (siehe NachDenkSeiten: “Dramatischer Einbruch der Lohnquote: von 2000 bis 2007 um 8% gesunken!”).
- Selbst Bundespräsident Köhler spricht vom „Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wenn die Einkommen der einen stark steigen, die der anderen dagegen eher stagnieren“.
- Die Einkommens-Schere zwischen Managern und Mitarbeitern öffnet sich seit Jahren immer weiter. 1987 verdienten Dax-Vorstände im Vergleich zum Durchschnittsgehalt der Beschäftigten noch das 14-Fache, 2006 war es das 44-Fache. Einschließlich Aktienoptionen beträgt das Verhältnis bei der Telekom 47, bei Siemens 59, bei Volkswagen 61, bei Lufthansa 94 (Focus Money).
- Die Bruttolöhne und -gehälter gingen in den Jahren zwischen 2002 und 2005 real von durchschnittlich 24.873 Euro auf 23.684 Euro und damit um 4,7% zurück (laut Drittem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung).
- Rund 1,6 Millionen Haushalte sind überschuldet (Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung).
- Das Risiko, in Deutschland einkommensarm zu sein, lag der amtlichen Erhebung LEBEN IN EUROPA zufolge im Jahr 2005 in Deutschland vor Sozialtransfers bei 26%. Nach Sozialtransfers betrug es noch 13% (Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung).
- Nach einer anderen Statistik des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die Basis für den ersten und zweiten Armutsbericht (2001 und 2003) war, stieg die Zahl der Armen sogar von 16 Prozent im Jahr 2003 auf 18 Prozent 2005 (siehe Börse online).
- Das gestiegene Armutsrisiko bezieht sich dabei nicht mehr nur auf die Schicht am unteren Ende der Gesellschaft. Das Problem greift bis in die Mitte der Gesellschaft hinein [PDF – 48 KB].In den vergangenen 15 Jahren nahm die Zahl der Haushalte im mittleren Einkommensbereich um 14 Prozent ab. Die Zahl der Haushalte mit niedrigen Nettoeinkommen stieg um 27 Prozent (Böckler Impuls).
- Zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen zählen Arbeitslose (43%), Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung (19%) und Alleinerziehende (24%). Das Armutsrisiko ist in Ostdeutschland (15%) höher als in Westdeutschland (12%) (Dritter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung).
- Unter allen abhängig Beschäftigten liegt der Anteil von Niedriglöhnen (unterhalb von zwei Dritteln des Medians) 2006 bei gut 22% (6,5 Millionen Beschäftigte) – d.h. mehr als jede/r Fünfte ist gering bezahlt. Gegenüber 1995 ist der Niedriglohnanteil in Deutschland damit um gut 43% gestiegen.
- Der durchschnittliche Stundenlohn der Niedriglohnbeziehenden ist seit 2004 gesunken, während er in den Vorjahren gestiegen ist (Quelle: IAQ-Report).
- Im Januar 2009 hatten etwa 5,794 Millionen erwerbsfähige Frauen und Männer Anspruch auf Arbeitslosengeld (SGB III) bzw. Arbeitslosengeld II (Quelle: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufsbildungshilfe e.V.).
- War 1965 nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren auf Sozialhilfe angewiesen, ist es heute mehr als jedes sechste. Mittlerweile gelten 14 Prozent aller Kinder offiziell als arm. Schätzungsweise 5,9 Millionen Kinder lebten in Haushalten mit einem Jahreseinkommen der Eltern von bis zu 15.300 Euro. Dies entspreche rund einem Drittel aller Kindergeldberechtigten Kinder.
- Seit Einführung von “Hartz IV” hat sich die Kinderarmut verdoppelt (“Kinderreport 2007″ des Deutschen Kinderhilfswerks).
- Die ehemalige DGB-Vizechefin Engelen-Kefer: „Aus einer jüngeren OECD-Studie geht hervor: Deutschland liegt im internationalen Vergleich beim Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung nach den Reformen der letzten Jahre für den so genannten Eckrentner mit 45 Beitragsjahren und Durchschnittseinkommen mit 39,9 Prozent des durchschnittlichen Bruttoeinkommens 2030 weit unten. (Heute beträgt das Rentenniveau noch 48,7 Prozent vom durchschnittlichen Bruttoeinkommen.) Zu berücksichtigen ist hierbei, dass in Zukunft immer weniger Arbeitnehmer überhaupt 45 beitragspflichtige Beschäftigungsjahre und über so lange Zeit ein Durchschnittseinkommen erzielen.“
- Im Durchschnitt erreichen Männer eine Versichertenrente von 1.029 €, Frauen dagegen nur 629 €. In den alten Ländern fallen die Unterschiede zwischen Männern (1.074 €) und Frauen (598 €) noch größer aus, in den neuen Ländern (Männer: 862 €; Frauen: 748 €) entsprechend geringer (Altersvorsorge in Deutschland 2005 im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Bund und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales).
- NRW Sozialminister Karl-Josef Laumann: „Wer heute für sieben Euro in der Stunde arbeitet, muss 44 Jahre arbeiten, um eine Rente oberhalb der Armutsgrenze zu bekommen.“
- Ermittlungen des vor allem im Osten beheimateten großen Sozialverbandes Volkssolidarität (um 400.000 Mitglieder) besagen, dass „ungefähr 8 % der Rentner im Bereich oder unterhalb der Armutsgrenze leben“ (derzeit in NRW zum Beispiel 615 € als Single, 1045 Ehepaar). 2030 könnten bis zu 25 % der Vollzeitbeschäftigten in Altersarmut geraten, wenn sie dann in Rente gehen. Ursache seien geringe Beitragsleistungen zur Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und fehlende Möglichkeiten zu privater Vorsorge durch Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung.
Nimmt es angesichts dieser erschreckenden Entwicklung wunder, dass die Menschen mit den Politikern und den Parteien nicht nur unzufrieden sind, sondern dass Vertrauen verloren gegangen ist?
- 47% meinen, die Politiker machen was sie wollen, deshalb sei es sinnlos, zur Wahl zur gehen.
- 51% sagen, alle Parteien sind gleich. Es ist egal, wen man wählt.
- Nur 23% halten die führenden Politiker für glaubwürdig, 49% für überwiegend nicht und 28% für gar nicht glaubwürdig.
- 44% sagen, die Politiker ließen sich bei ihrer Tätigkeit vor allem vom Erhalt der Macht leiten
- Der Verdruss spiegelt sich wieder in den abstürzenden Mitgliederzahlen der großen Parteien und in historisch niedrigen Wahlbeteiligungen
1990 hatten die Sozialdemokraten noch mehr als 940.000 Mitglieder, die CDU fast 780.000. Die Sozialdemokraten haben seither fast 400.000 Mitglieder verloren. Ende Juni besaßen nur noch 529.994 Menschen ein SPD-Parteibuch, die CDU wurde mitgliederstärkste Partei.
Die Wahlbeteiligung erreicht fast überall historische Tiefstwerte
Verdruss am Funktionieren der Demokratie ein Nährboden für Neonazis
Zwar gibt es in Deutschland zum Glück noch immer eine überwiegende Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform; wer aber meint die Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis und die Alarmsignale wie Politik-, Politiker- oder Parteienverdrossenheit oder auch sinkende Wahlbeteiligung auf Dauer in den Wind schlagen zu können, stellt auf Dauer nicht nur demokratische Wahlen, sondern die Demokratie insgesamt zur Disposition.
Schon jetzt zeigen Untersuchungen, dass der Frust über die Politik einen Nährboden für Neonazis bereitet.
Es sind keineswegs nur die Ausgegrenzten und Armen in der Gesellschaft, sondern bis weit in die Mitte der Gesellschaft sind rechtsextreme Tendenzen verbreitet. So meinen etwa 15,4% der Deutschen, ein “Führer”, der Deutschland mit starker Hand regiert, wäre durchaus “zum Wohle aller“. Dass Ausländer nur hierher kämen, um den Sozialstaat auszunutzen, halten 36,9% für eine zustimmungsfähige Aussage. Und gar 39,1% meinen, Deutschland sei “in einem gefährlichen Maß überfremdet”
(siehe “Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer Einstellungen”. Eine Studie von Oliver Decker, Katharina Rothe, Marliese Weißmann, Norman Geißler und Elmar Brähler unter Mitarbeit von Franziska Göpner und Kathleen Pöge. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin, Mai 2008).
Die Gefahr für unsere Demokratie geht also nicht von den Armen, sondern allenfalls von der Armut aus.
Es sind auch nicht die Glatzen aus MeckPom, die die Demokratie gefährden. Die viel größere Gefahr geht von den erlebten massiven Defiziten der Politik aus.
Die Zweidrittel-Demokratie
Die einzige Partei, welche die neuen Armen heutzutage bilden, ist die Partei der Nichtwähler; sie wird immer größer, hat aber keine politische Kraft.
Es ist zu befürchten, dass sie exakt deswegen destruktive Energie entwickelt – weil nämlich Demokratie nicht mehr gut funktionieren kann, wenn ein immer größerer Teil der Gesellschaft nicht mehr dabei mitmacht. Eine Zwei-Drittel Demokratie ist eine Gefahr für den inneren Frieden.
Quelle: Prantl in der SZ vom 17. 10.2006