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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: „Krieg dem Pöbel“. Die neuen Unterschichten in der Soziologie deutscher Professoren
Datum: 10. Oktober 2008 um 11:37 Uhr
Rubrik: Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die Entdeckung der „neuen Unterschicht(en)“ zu Beginn des neuen Jahrtausends ist kein soziologisches, kein wissenschaftliches Datum, sondern das Produkt einer der politischen Propaganda dienenden „öffentlichen Soziologie“, in der einige Wissenschaftler – vor allem Paul Nolte und Heinz Bude – als professorale Autoritäten, aber auch als aktiver Teil einer publizistischen Welle fungieren. Diese hat in Deutschland nicht zufällig im Jahr 2004 einen Höhepunkt erreicht: Sie begleitete und legitimierte die Einführung von „Hartz IV“: die Abkehr vom bis dahin dominierenden sozialstaatliche Ziel der Statussicherung hin zum Ziel der Existenzsicherung.
Eine Kritik des Lehrers in einer Abendhauptschule Hans Otto Rößer.
„Krieg dem Pöbel“ [1]. Die „neue(n) Unterschicht(en)“ in der „öffentlichen Soziologie“ deutscher Professoren
Von Hans Otto Rößer
Vorbemerkung
Wer, wie der Autor, als Lehrer in einer Abendhauptschule mit jungen Erwachsenen daran arbeitet, dass diese mit dem nachgeholten Hauptschulabschluss wenigstens formal einen leichten Zugewinn an sozialen Chancen erlangen, ist damit konfrontiert, dass selbst die Aufgabenvorschläge für die Abschlussprüfungen von Ressentiments gegenüber den Prüflingen bestimmt sind. Sie sehen in ihnen bzw. in den Angehörigen ihres „Milieus“ Mängelwesen, die Praktiken der Überwachung, der Ermahnung und des Bestrafens unterworfen werden müssen. [2] Diese Wahrnehmung wird in diesem Beitrag in die Kontinuität bürgerlicher Wahrnehmungen der „unteren Klassen“ gestellt und im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte über die sogenannten neuen Unterschichten/die neue Unterschicht (der beliebige Wechsel vom Singular in den Plural und umgekehrt ist bereits ein Symptom) diskutiert.
Das Konstrukt der „neuen Unterschicht(en)“
Die Entdeckung der „neuen Unterschicht(en)“ zu Beginn des neuen Jahrtausends ist kein soziologisches, kein wissenschaftliches Datum, sondern das Produkt einer der politischen Propaganda dienenden „öffentlichen Soziologie“ [3] (Bude 2008, S. 7), in der einige Wissenschaftler (v. a. Nolte 2004, Bude 2008) als professorale Autoritäten, aber auch als aktiver Teil einer publizistischen Welle fungieren. Diese hat in Deutschland nicht zufällig im Jahr 2004 einen Höhepunkt erreicht: Sie begleitete und legitimierte die Einführung von „Hartz IV“: die Abkehr vom bis dahin dominierenden sozialstaatliche Ziel der Statussicherung hin zum Ziel der Existenzsicherung. Die Lagen von Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gleichen sich auf dem Niveau der Sozialhilfe an. Diese Beschränkung der Transfereinkommen soll, verbunden mit weiteren Sanktionsmöglichkeiten (härtere Zumutbarkeitsklauseln, Leistungsentzug, Kontrollen usw.), die Betroffenen zur „Eigenverantwortung“ „aktivieren“ (vgl. Bescherer, Dörre, Röbenack, Schierhorn 2008, S.17; zur medialen Zurichtung des Themas vgl. Kessl 2005).
Dem „Paradigma“ des „aktivierenden Sozialstaates“ liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Verfestigung von aus dem Produktionsprozess Ausgeschlossenen zu relativ stabilen Armutsgruppen „neuer Unterschichten“ im Wesentlichen nicht auf Veränderungen des kapitalistischen Produktionsprozesses und einer sie befördernden Wirtschaftspolitik zurückzuführen sei, sondern auf zu hohe sozialstaatliche Transferleistungen. Diese begünstigten die Herausbildung eines „Sozialhilfeadels“, dessen „Unterschichtenkultur“ zunehmend auf Distanz zur Norm einer auf eigener Arbeit beruhenden individuellen Reproduktion gehe. Kessl schreibt den Begriff des „Sozialhilfeadels“ dem Mitinitiator des Bundesprogramms zur Stadtentwicklung „Soziale Stadt“, Rolf-Peter Löhr, zu, der im November 2002 innerhalb eines 12-seitigen Artikels im Stern mit der „Beobachtung“ zitiert wird, diese Menschen wüssten „gar nicht mehr, wie das ist, morgens aufstehen, sich rasieren, vernünftig anziehen und zur Arbeit fahren“. Wieder einmal wird eine Unterscheidung zwischen „anständiger“ und „verwerflicher“ Armut getroffen. Das Bild der „verwerflichen“ Armut stützt sich in der Regel nicht auf (eigene) empirische Forschung, sondern auf ein Medienbild. Die „öffentlichen Soziologen“ und die Medien, insbesondere BILD und das „Unterschichtenfernsehen“, bilden einen Kreislauf der wechselseitigen Beglaubigung und Legitimierung, wobei den Medien die Doppelrolle des Beweises und Symptoms zukommt (vgl. Winkler 2007, S. 107 f.; Heite u.a. 2007, S. 59-65).
Angesichts dieses Kontextes verwundert es nicht, dass man in diesen Texten und auch in denen der „wissenschaftlichen“ Stichwortgeber nichts über die Entstehungsbedingungen dieser „neuen Unterschicht(en)“ erfährt. Lediglich bei Heinz Bude findet man hierzu ein paar knappe Hinweise: „Die Gruppe der Ausgeschlossenen wächst im Gefolge einer funktionalen Arbeitsteilung, die die wissensbasierte und dienstleistungsorientierte Facharbeit zum Normalmodell einer industriellen Hochproduktivitätsökonomie werden lässt. […] Selbst die Lagerarbeit ist keine einfache Tätigkeit mehr, die man im Pack-an- und Hau-weg-Stil bewältigen könnte, sondern verlangt aufgrund der informationellen Darstellung der betrieblichen Abläufe gewisse systemanalytische Kompetenzen.“ (Bude 2008, S. 22) Budes „Stück öffentlicher Soziologie“ hat allerdings den Nachteil, zu einem Zeitpunkt zu intervenieren, als die neoliberale Jagd auf die Unterschichten-Gespenster ihre erste publizistische Welle schon hinter sich hat, sie hat jedoch auch den Vorteil, schon aus Gründen der Distinktion, klüger sein zu müssen als etwa Nolte oder andere Ghostbusters.
Mit diesen teilt er aber die „Einsicht“ oder besser den zynischen Realismus, dass die „neuen Unterschichten“ gekommen sind, um zu bleiben. „Es ist nicht zu erkennen, wie sie aus der Welt zu schaffen wären […].“ (Ebd., S. 20) Bereits Nolte polemisiert gegen die „Illusion“, „die Armut abschaffen, die Unterschicht kollektiv zu einer bürgerlichen Mittelklasse machen oder soziale Ungleichheit überhaupt aufheben zu können“ (Nolte 2004, S. 44)
Dieses Bekenntnis zu Klassen, Klassenunterschieden und Ungleichheit, das Plädoyer für Klassenbewusstsein „als ein Projekt bürgerlicher Aufklärung“ (ebd., S. 45) mag in einer Gesellschaft, der eingeredet wurde, die „soziale Marktwirtschaft“ sei etwas anderes als Kapitalismus und Klassengesellschaft, einen gewissen Sensationswert haben, in England oder in den USA oder sonst wo auf der Welt ist dieser deutsche Professorenmut ein alter Hut, so wie man zu dem Bekenntnis zu Klassen und Ungleichheit bei gleichzeitiger vehementer Ablehnung des Klassenkampfes (ebd., S. 44 und S. 55) bereits Einschlägiges in der „öffentlichen Soziologie“ von „Mein Kampf“ finden kann.
Wenn in diesem „Projekt bürgerlicher Aufklärung“ wie bei seinen Vorläufern die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft und ihr Geheimnis weitgehend unerhellt bleiben und über Genese und Struktur der „neuen Unterschichten“ kein Wort verloren wird, drängt sich die Frage auf, worauf sich der Befund eines „Neuen“ überhaupt bezieht.
Gemäß des interessierten Tunnelblicks einer „kulturalistischen Klassentheorie“ (so Kessl über Nolte) kann dieses „Neue“ nur in Verhaltensdispositionen liegen: Es gibt „die neuen Formen einer Alltagskultur der Unterschichten, die nicht mehr durchweg einer Assimilation an die bürgerlichen Mittelschichten folgt, sondern sich durch äußere Abgrenzung zu behaupten sucht […], sich damit aber zugleich auch verfestigt und einkapselt.“ (Nolte 2006, S.96) Bude sekundiert ihm: „So zeigt sich die Unterschicht als eine Kultur eigener Art […].“ (2008, S. 126)
Zum Beleg dieser zentralen These der gesamten „Unterschichtendebatte“ werden ganze Szenarien der „Barbarei“ entworfen: Tattoos und Piercings, dicke Kinder, Bewegungsmangel und Fehlernährung, Videotheken, Gameboy und Premiere-Abonnement, Tabak, Alkohol und Lottospiel, ungezügelte Vermehrung bei Unfähigkeit zur Erziehung („Armut macht Kinder“), Unterschichtenfernsehen [4]. Das Schlimmste: Sonntags gehen diese Leute nicht mehr in guten Anzügen, sondern in Jogginganzügen auf die Straße (Nolte 2004, S. 56). Man sieht jetzt, woher der Ex-Grüne Oswald Metzger, der inzwischen mithilfe der CDU Kälber sucht, die ihn wählen, seine Erkenntnis bezieht, Sozialhilfeempfänger sähen „ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen“ (siehe Eintrag bei Wikipedia mit weiterer Quellenangabe). Da es bei diesen Schreckgebilden um Erklärungshaltigkeit am wenigsten ankommt, bekommen im Vorüberschrei/b/t/en gleich auch noch die „68er“ und die DDR eine Mitschuld daran zugemessen, dass das „Leitbild der Verbürgerlichung in den unteren Schichten“ als Norm und kulturelle Praxis zerbröckelt sei (ebd., S. 67); Eva Herrmann lässt grüßen.
Heinz Bude, beim Versuch, aus publizistischen Standortnachteilen Distinktionsgewinne zu schlagen, mokiert sich über den „Auftritt neuer unbezähmbarer Gesellschaftstiere“ (Bude 2008, S. 116) und diagnostiziert: „Für die Perspektive der Mitte ist es typisch, dass sie den Abstand übertreibt und die Differenz dämonisiert.“ (Ebd., S. 120) Aber auch er sieht in den Augen männlicher Heranwachsender der Unterschichten eine Energie blitzen, „die zu allem fähig scheint“ (ebd., S. 10), und entdeckt an „Orten des städtischen Exils“ einen „Kult der spektakulären [?!] Lebensführung, an dem alle zivilisatorischen Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Korrektheit und Ordentlichkeit verblassen“ (ebd., S. 65). Das eint ihn mit seinem nie genannten, daher geheimen Konkurrenten um die Deutungshoheit über die „Unterschicht“ Nolte, der das unzivilisierte Verhalten der „Unterschicht“ mit dem „universalistischen Anspruch“ der bürgerlichen Werte „wie Leistung und Disziplin, Bildung und Benehmen, Höflichkeit und Toleranz“ konfrontiert (Nolte 2004, S. 66).
Der pragmatische Sinn dieser Szenarien besteht darin, den Abbau des Sozialstaates zu legitimieren. Bude beklagt, dass „individuell zuerkannte und verabreichte Zahlungen […] zur Züchtung einer Kultur der Abhängigkeit“ geführt hätten (Bude 2008, S. 16); die Einschränkung oder Streichung dieser Leistungen kann dann als Befreiung von Abhängigkeit verkauft werden. Transfereinkommen befördern die Faulheit, das Sich-bequem-Machen in der „sozialen Hängematte“. Sie führen zu einer „fürsorglichen Vernachlässigung“, und zwar „in sozialer und kultureller Hinsicht“ (Nolte 2004, S. 68 f.). Das Geld des Sozialstaates dürfe nicht für die konsumtiven Ausgaben des „Sozialhilfeadels“ vergeudet werden, sondern müsse „besser angelegt“ werden. Es müsse „in soziale Infrastrukturen investiert“ werden, „die kulturelle Grenzen aufweichen, Bildungsschranken durchbrechen, Verhaltensprobleme lösen können“ (Nolte 2006, S. 101). Noch rabiater formuliert Nolte 2004: Man müsse in die „Kulturen der Armut“ intervenieren, sie herausfordern und aufbrechen, mit diesen Interventionen schon frühzeitig beginnen, nicht erst in der Grundschule, sondern schon im Kindergarten, und diese Intervention mit „spürbaren Zumutungen für die Klienten“ bis hin zu „zero tolerance“ bewehren (S. 68-70).
Man kann diese Gewalt- und Bestrafungsphantasien eines deutschen Beamten in die Tradition einer Erziehung „des Armen zur Armut“ stellen, wie dies Kessl u. a. mit vergleichenden Hinweisen auf Pestalozzi tut (Kessl 2005 und 2007). Aber das ist nur ein geistesgeschichtlicher Befund. Im Epochenumbruch vom Feudalismus zum Kapitalismus konnte das Bürgertum noch die Illusion haben, dass die Armut mit Antritt seiner Herrschaft und der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse verschwinde. Heute kann jeder wissen, dass solche Erziehungsprogramme daran scheitern, dass die Versprechungen, die sie ihren ‚Klienten’ machen, nicht gehalten werden können. Heinz Bude ist auch hier einmal wieder immer schon da: „Das Programm der Aktivierung und Mobilisierung erzeugt unweigerlich eine Restkategorie von Menschen, die sich trotz aller Angebote und Anreize nicht aktivieren und mobilisieren lassen.“ (Bude 2008, S. 28) Dieser Realismus ist exemplarisch für Bude und den Qualitätsunterschied zwischen seiner und Noltes „öffentlicher Soziologie“. Bude kündigt die zitierte Einsicht mit einem Hinweis auf einen „perversen Effekt“ des „aktivierenden Sozialstaates“ an. Die Ausformulierung dieser Einsicht indes zeigt, dass die Wirkungslosigkeit der Aktivierungsmaßnahmen letztlich auf die Verweigerung der zu Beglückenden zurückgeführt wird. Damit gewährt sie einen Einblick in die ideologische Funktion dieser Phantasien einer kulturellen Erziehung der „Unterschichten“: Sie subjektiviert Armut zu einem selbstgewählten Los. Wer arm bleibt, ist selber schuld. Die letzte Konsequenz dieser „Moralisierung“ von Armut und sozialer Ungleichheit (Chassé 2007, S. 20, 22) wird trotz allem Zynismus nur angedeutet, aber nicht ausgesprochen: Wenn der herkömmliche Sozialstaat beseitigt werden muss, weil er angeblich die Armut und die sie verfestigende Kultur der Armut erst erzeugt, der durch ökonomischen Druck „aktivierende“ Staat aber nur begrenzt wirken kann, stellt sich doch die Frage, was mit denen gesehen soll, bei denen die menschenbeglückende Repression nicht verfängt. Logisch wäre die Antwort: Sie sind sich selber zu überlassen. So wie die Diagnose der „neuen Unterschichten“ alles andere als neu ist, sondern eine weitere Variante der Sinnverkehrungsthese darstellt, die zum eisernen Bestand einer Rhetorik der Reaktion gegenüber den Zivilisierungsschüben seit der Französischen Revolution gehört: „Erdacht, den Elenden zu helfen, wurden die Armengesetze zur Grundursache des Elends“ (Edward Bulwer-Lytton 1837, zitiert bei Hirschman 1995, S. 37; weitere Hinweise und Quellen bei Lindner 2008, S. 9-17) [5], so landet die ihr implizite Handlungsanleitung letztlich im Sozialdarwinismus: Wer sich nicht ‚aktivieren’ lässt, ist es nicht wert, aufgepäppelt zu werden, sondern verdient es, zugrunde zu gehen (vgl. kritisch Winkler 2007, S. 111 f.).
Bei Nolte versteckt sich dieser zynische Realismus hinter dem Selbstwiderspruch, kulturelle Aufstiegsversprechen zu machen und gleichzeitig der Armut eine unveränderbare Stabilität zu attestieren. Die „Bewegungsform“, die sich dieser Widerspruch sucht, besteht darin, dass dem Erziehungsprogramm mehr oder weniger stillschweigend ein Programm des Abschottens, Sich-selbst-Überlassens und der Repression unterlegt ist. Da das Sich-selbst-Einkapseln der Unterschichten ökonomisch auf Alimentierungen durch die Mittelschichten beruht, die sich damit aber nicht erkaufen können, dass die „Unterschichten“ aus ihrem Alltag verschwinden, anstatt ihre Wohn- und Einkaufswege zu kreuzen, sie zu belästigen, zu ängstigen und zu gefährden, müssen sie durch die Staatsapparate und gegebenenfalls durch Sicherheitsdienste und Bürgerwehren „eingekapselt“ werden. Die Tragweite dieser Phantasie einer modernen „Einhegung“ wird bei Nolte da deutlich, wo er sich zu den „politischen Perspektiven“ einer „riskanten Moderne“ äußert. Noltes „kulturalistische Klassentheorie“ hebt an mit der Verabschiedung des „Traums von der sozialen Harmonie“ (2006, S. 89), unter den er nicht nur Sozialismus und Kommunismus und den Faschismus (!?) subsumiert, sondern auch das Projekt des Wohlfahrtsstaates im Golden Age des Kapitalismus zwischen 1948 und 1973. Noltes „kulturalistische Klassentheorie“, die wie die von ihm kritisierte „homogene Volksgemeinschaft“ des europäischen Faschismus und deutschen NS Klassen befürwortet, aber den Klassenkampf verteufelt, endet mit der Absage an die „Utopie einer vollständigen Demokratisierung aller Lebensbereiche“. An ihrer Stelle komme es darauf an, den „Kern der Demokratie zu konsolidieren“ (ebd., S. 285). Wenn den „Unterschichten“ nur noch eine Perspektive „jenseits des Konsums“ angeboten werden kann, da die „Expansion des Wohlstandes […] kein Naturgesetz“ sei (ebd., S. 291 ff., S. 92), wenn es für sie nur die Perspektive einer imaginären, nicht einer realen Integration gibt, weil Armut und Ungleichheit nicht zu beseitigen sind, muss ihnen jede Einflussnahme auf den politischen Prozess verwehrt werden. 33 Jahre vor Nolte nannte die FAZ das, was bei ihm „Kern der Demokratie“ heißt, die „Essenz der Verfassung“.
Learning to Labour. Die Logik kultureller Formen: Einsicht und Selbstausschluss am Ende des Golden-Age-Kapitalismus
Die Seite 49 des Buches von Bude enthält ein bemerkenswertes Bekenntnis, nämlich dass „über das Denken, Fühlen und Wollen dieses Typs von Abgehängten und Bedrohten nichts bekannt ist“. Das bezieht sich auf das „abgehängte Prekariat“ in den östlichen Bundesländern und lässt Skepsis aufkommen gegenüber den ‚Reflexionen’ des Verfassers über Ostmänner an Tankstellen, lässt sich aber auch auf die ‚Beobachtungen’ und Beurteilungen anderer Gruppen der „Ausgeschlossenen“ beziehen. Von Nolte wäre ein solches Bekenntnis gar nicht erst zu erwarten, da für ihn die Eigensicht der Menschen, über die er schreibt und urteilt, keine Bedeutung hat.
Bude verhält sich demgegenüber zwiespältiger. Auf der einen Seite verfolgt er eine konsequente Außensicht und formuliert forsch und skrupellos Urteile, bei denen man durchaus und nicht nur aufgrund des zitierten Bekenntnisses fragen kann, wie es mit ihrer Erfahrungsbasis bestellt ist. So heißt es über die jungen Männer und Heranwachsenden der „Unterschicht“: „Diese von Stolz und Ehre bewegten Gruppen scheinen für das meritokratische Normalprogramm von mühsamer Leistungsvorlage und ungewisser Erfolgsprämierung nicht zugänglich, sie verschreiben sich lieber dem reinen Affekt, wo eine totale Expressivität ohne Zurückhaltung und Aufsparung den Ton angibt. Gerade die gutgemeinte, Verständnis vorgebende Aufklärung, dass das zu nichts führt und dass sie am Ende die Geschlagenen und Verlorenen sein werden, prallt an ihnen ab. Durch ihre scheinbare Immunisierung gegenüber dem, was die Mehrheitsklasse für richtig hält, machen sie sich in deren Augen zu ‚radikalen Verlieren’, die von Gefühlen von Feindseligkeit, Misstrauen und Verachtung getrieben sind. Bevor diese sich dem Normalverfahren der Leistungsauslese und der Erfolgsdosierung fügen, machen sie sich zum Schrecken für die anderen.“ (Bude 2008, S. 86 f.; Hervorhebungen d.V.)
Diese vier Sätze sind exemplarisch für ein Schreibverfahren, das das ganze Buch durchzieht. Im Bewusstsein der mangelnden empirischen Fundierung seiner Aussagen und im Bewusstsein der Vorurteilsprägung der „Perspektive der Mitte“ (ebd., S. 120, siehe auch oben) baut Bude in seine Aussagen über die Unteren immer wieder Distanzierungen und Relativierungen ein, die sie als Konstruktionen, als Fremdbilder erscheinen lassen. Zugleich aber nimmt er diese Relativierungen und Distanzierungen immer wieder zurück: Sätze, die so beginnen, dass man sie als Referat einer von Bude selbst skeptisch beurteilten Meinung lesen kann, werden so fortgesetzt, dass die Leserin oder der Leser zumindest dieser Fortsetzung, in der Regel aber dann auch rückwirkend der distanziert dargestellten vorausgehenden Teilaussage aus der Perspektive des Autors einen Wahrheitsgehalt zurechnen muss. Dieses Changieren zwischen Distanz und Affirmation kann nur deshalb ‚einigermaßen’ funktionieren, weil Bude darauf verzichtet, die von ihm richtig als Dämonisierung der „Unterschichten“ identifizierte „Perspektive der Mitte“ einer systematischen Kritik zu unterziehen. Die Relativierungen fungieren als Lizenz dafür, Vorurteile zur reproduzieren, und ermöglichen rhetorische Rückzüge, sollten einzelne Aussagen auf begründete und öffentlich wirksame Kritik stoßen. Wie man es aber dreht und wendet: Bude sagt auf S. 86 f. nicht mehr und nicht weniger, als dass die jungen Männer der „Unterschicht“ irrational sind, ihren Gefühlen ausgeliefert, denen sie ungezügelt Lauf lassen.
Andererseits wendet er sich deutlich gegen die „gängigen Defizithypothesen“ (ebd., S. 95), die blind sind für die Kompetenzen und die „das Anderssein“ zum „Defekt“ werden lassen (ebd., 102). Bude beruft sich in der Auseinandersetzung mit dieser Sichtweise auf die Ergebnisse der Untersuchungen des Centre for Contemporary Cultural Studies der Universität Birmingham unter Federführung von Paul Willis zum Verhalten von Arbeiterjugendlichen in englischen Gesamtschulen der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts (1979, 1982²; englische Ausgabe 1977). Er referiert die beobachteten Praktiken der Unterrichtsverweigerung ‚ausbildungsmüder Jugendlicher’, das „Rumhängen, Blödeln und Quatschen“ (Bude 2008, S. 93). Den „spezifischen sozialen Sinn“ sieht er darin, dass sie ein Mittel sind, Ansehen in der Gruppe zu erlangen und darüber hinaus dazu dienen, Langeweile und Furcht zu vertreiben. Diese Erklärung greift entschieden zu kurz. Etwas später erwähnt er unvermittelt und ohne jede Erläuterung, dass diese Jugendlichen durch ihren „Spaß am Widerstand“ „am Vollzug ihres eigenen Schicksals mitwirken“ (ebd., S. 102). Leserinnen und Leser, die Willis’ Buch nicht kennen, werden mit diesen Bemerkungen nichts anfangen können.
Bude lobt an dem Buch von Willis die „nach wie vor gültigen Beschreibungen“ (ebd., S. 139), schweigt aber zu der Fragestellung, dem Untersuchungsansatz und den Ergebnissen der Studie.
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts sind Paul Willis und seine Mitarbeiter der Frage nachgegangen, wie es kommt, dass Arbeiterkinder das mit bestem sozialdemokratischem Reformwillen auf den Weg gebrachte Angebot ablehnen, über die Bildungsangebote der Gesamtschule einen sozialen Aufstieg zu machen. Diejenigen, die am meisten für die neuen Chancen mobilisiert werden sollten, wiesen die Bildungsangebote am heftigsten zurück. Das überraschende und leider nicht ganz einfache Ergebnis der Untersuchungen von Willis an Gesamtschulen in Wolverhampton war: In den kulturellen Praxen der Störung und Verweigerung gibt es eine Logik „der Aufrichtigkeit und Illusionslosigkeit“, sie enthalten „Elemente einer profunden Kritik“, und zwar am sozialdemokratischen Glauben, „dass soziale Chancen durch Erziehung ‚gemacht’ werden könnten, dass sozialer Aufstieg hauptsächlich eine Frage des individuellen Strebens sei, dass Qualifikation von selbst Wege eröffne“ (Willis 1982, S. 197). Persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Gleichheit sind nicht dasselbe. Denn selbst wenn es vielen gelingen mag, die Arbeiterklasse zu verlassen oder innerhalb von ihr höhere Berufspositionen einzunehmen, löst sich dadurch die Klasse nicht auf: „Zwischen wirklicher Gleichheit im Leben […] und der bloßen Gleichheit der Chancen, diesem Banner der Bildungsreform, liegt eine ganze Welt.“ (Willis 1990, S. 11) Diesem Befund stimmt auch Bude zu, wenn er vom „Wahn einer schulischen und erzieherischen Abschaffung von sozialem Ausschluss“ spricht (Bude 2008, S. 105). Dieser „Wahn“ hat freilich „Methode“: Er „ersetzt“ nämlich nicht nur Sozialpolitik durch Bildungspolitik, sondern erlaubt es, das Scheitern eines sozialen Aufstiegs durch Bildung den Individuen zuzurechnen: „Faire Bildungschancen machen die teure, ineffiziente Sozialpolitik alten Stils entbehrlich. Wenn sich fast jeder selbst helfen könne, schwärmte schon Ludwig Ehrhard in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, bleibe die Aufgabe des Sozialstaates darauf beschränkt, Chancengleichheit und ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit zu garantieren. je durchlässiger das Bildungssystem, je leichter der soziale Aufstieg, desto schwieriger wird es für die Bequemeren, staatliche Transfers zu fordern. Sie müssen die Konsequenzen ihres Verhaltens selbst tragen.“ (Wirtschaftswoche Nr. 21, 14. 05. 1998, S. 31 [6])
Der Spaß am Widerstand gegen die Schule, die Verweigerung schulischer Leistungsanforderungen, das Lächerlichmachen der Lehrer und der Anpasser und Streber ratifiziert eine Erkenntnis: dass es einen sozialen Aufstieg für alle durch Bildung nicht geben kann, dass die beste Bildung nichts nützt, wenn der Arbeitsmarkt stockt. Das Vertrackte an den kulturellen Praxen der Anforderungsverweigerung, des Rausches usw. besteht darin, dass sich in ihnen Einsicht und Beschränkung durchdringen. Die Einsichten und der illusionslose Blick auf die Realität der betreuenden Institutionen befördern eine Praxis der Selbstverurteilung und des Selbstausschlusses. Im Eskapismus und den kleinen Rebellionen im Klassenzimmer, im Protest und der Subversion, die Paul Willis in den 70er Jahren am Schulverhalten englischer Arbeiterkinder in der Gesamtschule beobachtet hat, bereiten sich seine Akteure auf die Übernahme untergeordneter Berufsrollen in Formen besonders niedriger, schmutziger und perspektivloser Lohnarbeit vor. Das wäre die systemtheoretisch-funktionalistische Pointe und Antwort auf die Frage „How Working Class Kids Get Working Class Jobs“ (so der Untertitel der englischen Originalausgabe).
Die nicht-funktionalistische Pointe besteht darin, dass die Übernahme dieser Rolle, die Einrichtung in der Subalternität, nicht blind verläuft, sondern als Antizipation und insoweit auch als echtes Lernen („Learning to Labour“). Diese Übernahme resultiert nicht nur aus dem Spaß am Scheiß, der Ablehnung der langweiligen Streber und der Lehrer in der Schule, dem Versuch hier und jetzt soviel wie möglich vom Leben zu haben – bei Blindheit für das Morgen (oder auch Hellsicht: Was kann denn noch kommen??). In diesem Spaß werden eine ganze Menge Entscheidungen getroffen und dabei nicht nur Lernprozesse zurückgewiesen, sondern auch Lernprozesse gemacht. Das Lernen bezieht sich auf Formen von Männlichkeit und Körperlichkeit (u. a. Sexualität), auf das „Organisieren“ von Dingen und Gelegenheiten, auf das Leben und Überleben auf der Straße. Dieses Lernen trifft – wie jedes andere Lernen auch – eine Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem und reproduziert damit die einseitigen Aufspaltungen zwischen Lebensklugheit und „Schulgescheitheit“ [7]. Im Vergleich zwischen sich und den Strebern und Angepassten sehen sie nur die eigene Überlegenheit (sexuelle Erfahrungen, körperliche Stärke, Alltagsgewitztheit, Stärke auf der Straße, mehr Spaß und thrill) und „entwichtigen“ dabei die Kompetenzen der anderen, leugnen ihren Zukunftsbezug und schließen sich dabei von einem großen Teil geistiger Tätigkeit ab, die darüber hinaus nur in ihren subalternen oder deformierten Formen erfahren und wahrgenommen wird (die geborgte Macht der Lehrer, die „Bürohengste“ und „Sesselfurzer“ usw.). So vollzieht sich die Einübung in eine Form von Männlichkeit, die konform ist mit dem körperlichen Ausdruck von Arbeitskraft (labour). Es wird also etwas außerhalb und gegen die Schule gelernt, was für die Übernahme bestimmter Funktionen im Arbeitsprozess von Bedeutung ist. Es gibt, gerade im Blick auf die ‚unteren’ Ebenen der Industrie ein „Auseinandertreten von Erziehung und Produktion bei der Arbeiterklasse“ (Willis 1990, S. 20), und offenbar nicht nur dort. [8]
In der sozialen Dimension ist es eine Entscheidung zwischen den Langweilern und den Kumpels, mit denen es immer etwas zu lachen gibt. Auch darin ist ein Transfer enthalten, den Willis in einer späteren Reflexion von „Spaß am Widerstand“ „Isomorphie“ nennt. Arbeiterjugendliche wollen nicht so sehr die Jobs, die sie bekommen, sondern sie wollen in diesen Jobs mit den Leuten zusammen sein, mit denen sie bereits früher, in der Schule, Spaß hatten, anstatt mit karrieregeilen Langweilern in Büros, Verwaltungen oder Lehrerzimmern herumzusitzen. Und mit dieser Entscheidung lernt man zugleich Kumpelhaftigkeit, jene Kooperativität, die für den Vollzug subalterner Arbeiten so wichtig ist wie für die Kompensation ihrer Borniertheit. Die berufliche Tätigkeit wird entwichtigt und in Kauf genommen: Sie wird den sozialen Beziehungen in der Arbeit und in der Freizeit untergeordnet. Die Arbeit veranlasst dieses Zusammensein und erzeugt die finanziellen Ressourcen für seine Fortsetzung in der Freizeit. Dieses Verhältnis von Wichtigem und Unwichtigem findet sich auch in der Schule und erklärt, dass Unterrichtsschwänzen nicht immer identisch ist mit Schulschwänzen. Der Unterricht wird geschwänzt und das häufig in der Schule selbst, ihren Foyers, Hallen, Fluren und Höfen, die zum Raum selbstbestimmter Kommunikation werden. Wenn man also das Thema Unterrichtsschwänzen im Unterricht oder in einer Prüfungsarbeit aufgreift (und es spricht nichts dagegen, es zu tun), sollte man wenigstens die Gründe dafür ernst nehmen und ihnen eine Stimme zu geben, anstatt, wie im Prüfungstext der Fall, das Schwänzen als Vorschule der Kriminalität zu denunzieren.
Der „Spaß am Widerstand“, die Verhaltsweisen der Rebellion, Subversion, Verweigerung und Unterlaufung sind kollektive Praktiken der Bedeutungs- und Sinngebung gegenüber Institutionen und Mitschülern und eine Positionierung gegenüber dem Arbeitsleben. Die damit antizipierte Berufstätigkeit wird nicht als minderwertig oder als Scheitern erfahren. Sie ist mit einer bestimmten Vorstellung von Ehre und Stolz fest verknüpft. Dieser Zusammenhang unterscheidet sie von Verweigerungspraktiken unter den Bedingungen von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung. Obwohl sich die heutigen Bildungsverweigerer in den Haupt- und Sonderschulen genauso zu verhalten scheinen wie die englischen lads der 70er Jahre, steht hinter ihnen „nicht mehr“, wie Bude zutreffend konstatiert, „die psychische Stütze einer arbeiterlichen Stammkultur, die einen klaren Kanon hat, welche Techniken man zum Leben braucht und auf welche Bildung man getrost verzichten kann“ (Bude 2008, S. 128). Es fehlt vor allem das Rückgrat dieser „Stammkultur“, die Erfahrung einer trotz konjunktureller Schwankungen einigermaßen sicheren Integration durch Arbeit. Dieselben Verhaltensweisen bekommen heute einen anderen Sinn. Sie sind the same, but different. Sie sind nicht mehr ungebrochen und vor allem learning to labour, sondern Einübung in eine Gesellschaft, in deren produktivem Kern sie im besten Fall nur noch vorübergehend gebraucht werden. [9] Sie sind nicht mehr „nur“ eine Weise des Selbstausschlusses von Möglichkeiten individuellen Aufstiegs, sondern eine Weise des Selbstausschlusses von jeder Integration in Gesellschaft über eine existenzsichernde, Zukunftsplanung ermöglichende Arbeitstätigkeit, sie sind eine Weise der Selbsteinkapselung in Milieus der „Exklusion“ (vgl. Castel 2008, S. 69-86).
Deshalb kann man nur mit Vorbehalten von den „nach wie vor gültigen Beschreibungen von Paul Willis“ (Bude) sprechen. Gültig sind sie vor allem in methodologischer Hinsicht, in ihrer Subjektorientierung. Sie nehmen die Jugendlichen, deren Verhaltensweisen sie untersuchen, ernst, hören zu und versuchen zu „verstehen“. Das ist nicht in erster Linie eine ethische Haltung, sondern Resultat eines gesellschaftstheoretischen Ansatzes von Cultural Studies, der Individuen nicht als passive Träger von Strukturen begreift, sondern als Akteure, die auf die Anforderungen gesellschaftlicher Individualitätsformen eine aktive und kreative Antwort geben, wohlgemerkt: eine Antwort auf Verhältnisse, über die sie nicht verfügen, sondern in denen sie sich „sinnstiftend“ einrichten. Die Individuen werden daher als aktiv Aneignende begriffen in einem „Vorgang des Konstruierens und Konstruiertseins“ (Willis, 1990, S. 13).
In der Perspektive dieses Ansatzes betreibt die „Unterschichtendebatte“ in ihren wissenschaftlichen und journalistischen Facetten, denen wir dann als Textgrundlagen für die schriftlichen Hauptschulabschlussarbeiten begegnen, eine Exotisierung ihrer Untersuchungsobjekte zum ganz und gar Anderen. Dieses Verfahren des „Othering“ (jemanden zum „Anderen“ machen, herrichten) löst die Individuen „fein säuberlich aus ihren jeweiligen sozialen Bezügen“ heraus, „sodass jeder Kontext jenseits eines essenzialistisch gefassten Moralisch-Sittlichen, der das Verhalten der Untersuchungsobjekte erklären könnte, ausgespart“ wird (Habermas 2008, S. 116).
Eigensinnige Kunden? Empirische Untersuchungen zu subjektiven Orientierungen der „Ausgeschlossenen“
Die deutsche „Unterschichtendebatte“ kann nicht nur in den Kontext der bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition einer Rhetorik der Reaktion (Hirschman) gestellt werden, sie liest sich streckenweise wie eine Kopie der underclass–Debatte in den 1980er Jahren der USA, in der eine Verbindung von Auftragswissenschaft und Mediensturm die Anti-Sozialpolitik der Reagan-Administration rechtfertigte. Loïc Wacquant hat bereits 1996 einen lesenswerten Aufsatz verfasst, der diese Debatten rekonstruiert, und dabei an die zeitgenössische Kritik von Douglas G. Glasgow erinnert, der den Akteuren dieser Debatte die Geburt von drei „gefährlichen Mythen“ vorgehalten hat:
Diese nun auch in der deutschen „Debatte“ wieder aufgelegten Mythen widersprechen nicht nur den Erfahrungen der professionell mit diesen Menschen Befassten. Diese Erfahrungen haben mittlerweile selbst in die FAZ Eingang gefunden (vgl. Soldt 2008, S. 3) und sie werden durch neuere Ergebnisse empirischer Sozialforschung bestätigt.
Einschlägig sind hier die Untersuchungen des Sonderforschungsbereichs 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ am Institut für Soziologie der Universität Jena unter Leitung von Klaus Dörre, und zwar das Projekt „Eigensinnige Kunden. Der Einfluss strenger Zumutbarkeit auf die Erwerbsorientierung Arbeitsloser und prekär Beschäftigter“. In ihm geht es um Folgendes:
„Im Projekt wird die Transformation subjektiver Erwerbsorientierungen in den unteren Segmenten der Arbeitsgesellschaft im Zuge einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik untersucht. Im Mittelpunkt stehen die Wechselbeziehungen zwischen solchen Orientierungen bzw. Handlungsstrategien der betroffenen Personen und den Aktivierungsdiskursen sowie Instrumenten und Maßnahmen des Forderns und Förderns. In der ersten Projektphase liegt der Fokus auf folgenden Fragestellungen: Wie setzen sich die Adressaten einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik mit den veränderten, strengeren Anforderungen auseinander? Führt diese Auseinandersetzung zu Veränderungen von vorhandenen Erwerbsorientierungen? Warum orientieren sich bestimmte Gruppen weiter am ersten Arbeitsmarkt, während andere sich in Prekarität und Ausgrenzung einzurichten beginnen? Anders als die dezidiert effizienzorientierte Evaluationsforschung wollen wir diese Transformation aus der Perspektive der Adressaten aktivierender Arbeitspolitik rekonstruieren.“
In den Regionen Bremen, Bremerhaven (im Westen) und in Jena sowie im Saale-Orla–Kreis (im Osten) wurden bis jetzt 53 Experteninterviews mit relevanten Akteuren der arbeitsmarktpolitischen Praxis geführt und in denselben Gebieten bislang 99 Interviews mit „aktivierten“, langzeitarbeitslosen Leistungsempfängern. „In einer zweiten Projektphase ist eine Wiederholungsbefragung der Adressaten und die Ausweitung des interregionalen Vergleichs geplant. Zugleich soll das Projekt um eine internationale Vergleichsperspektive ergänzt werden.“
Der generelle Befund dieser Untersuchung lautet: Für das „Bild einer kulturell relativ homogenen, aufstiegsunwilligen Unterschicht“ und die „Diagnose einer kulturell verfestigten Unterschichtenmentalität“ gibt es keine empirischen Anhaltspunkte (Dörre 2008, S. 11). „In deutlichem Kontrast, ja häufig in krassem Widerspruch zur generalisierenden Passivitätsvermutungen, sind die von uns befragten Arbeitslosen und prekär Beschäftigten durchaus aktiv. In ihrer großen Mehrzahl streben sie unabhängig von strengen Zumutbarkeitsregeln nach einer regulären, Existenz sichernden und sozial anerkannten Erwerbsarbeit.“ (Ebd., S. 19) M. a. W.: Der erstaunliche Befund der Untersuchung besteht darin, dass Menschen, die aus der „Zone der Integration“ auf unabsehbare Weise ausgeschlossen sind und in die „Zone der Prekarität“ bzw. in die „Zone der dauerhaften Entkopplung“ abgerutscht sind, dennoch an den ideologischen Werten einer sozialstaatlich eingehegten Lohnarbeit festhalten, und zwar relativ unbeeindruckt von der lebenspraktisch strukturierenden Wirkung der Langzeitarbeitslosigkeit, also relativ unabhängig davon, ob und wann sie diese Erwerbsorientierung in eine praktische Lebensführung umsetzen können (ebd. S. 31). [10]
Allerdings bleibt die Erwerbsorientierung von der objektiven Lebenslage nicht unbeeinflusst, sondern erfährt, abhängig von den jeweiligen Chancen am Arbeitsmarkt, von Lebensalter und von biographischen Erfahrungen und akuter Lebenssituation usw., Ausprägungen und Modifizierungen, die die Jenaer Untersuchung zu drei Gruppen gebündelt hat:
Die „Um-Jeden-Preis-Arbeiter“ (S. 20 ff.): Zu ihnen zählen neben vielen Aufstockern und Selbstständigen auch junge, relativ gut ausgebildete Arbeitslose. Aus dem Interviewmaterial wird u.a. eine junge Frau zitiert, die zwischen ihrem ersten und zweiten Kind den Schulabschluss in der Abendschule nachgeholt und dann eine Ausbildung im zahntechnischen Bereich absolviert hat (S. 22). Die Autoren sehen in ihr ein Beispiel dafür, „dass der Aktivierungsimpuls nicht von strengen Zumutbarkeitsregeln ausging, sondern in einer normativen Grundorientierung tief verankert ist“ (S. 23).
Die „Als-ob-Arbeitenden“ (S. 23 ff.): Sie halten an der Erwerbsorientierung fest, suchen aber aufgrund anhaltender Erwerbslosigkeit und nach vielfältigen Enttäuschungserfahrungen nach Alternativen und Kompensationen. Es öffnet sich eine wachsende Kluft zwischen normativer Orientierung und gelebten Handlungsstrategien mit dem Zwang zur Aufrechterhaltung von Normalitätsfassaden (So tun, als gehe man zur Arbeit; der Ein-Euro-Job wird gegenüber Nachbarn und Freunden als Normalarbeitsverhältnis ausgegeben, ehrenamtliche Arbeit als Ersatz für Erwerbsarbeit). Die Tragfähigkeit solcher Überbrückungsversuche hängt entscheidend ab von der Wertschätzung, die die Betroffenen in ihrer ‚Ersatztätigkeit’ erfahren, und von dem Prestige, das sie ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich zumessen bzw. das diesem Bereich gesellschaftlich zugemessen wird.
Die Gruppe der bewussten „Nicht-Arbeiter“ (S. 25 ff.): Die Autoren subsumieren hierunter Formen des (temporären oder andauernden) (Selbst-) Ausschlusses und der Einkapselung aufgrund der Antizipation tatsächlicher oder vermeintlicher Chancenlosigkeit im Blick auf eine gesellschaftliche Integration durch Erwerbsarbeit. Formen dieses (Selbst-) Ausschlusses und der Einkapselung, also der individuellen Reproduktion von „Exklusion“ wären die „Flucht“ in die Mutterrolle oder alle Versuche, Anerkennung in der Familie oder in einer „Szene“ zu finden. Selbst wenn in diesen Formen „Anerkennung“ gefunden wird, ist den Betroffenen bewusst, dass es sich um eine „Privatisierung der Herstellung von Anerkennung“ handelt (vgl. Marquardsen 2008, S. 53), also nur um ein Surrogat der gesuchten und gewünschten öffentlichen Anerkennung durch Integration in die Arbeitsgesellschaft. Das macht diese Ersatzformen von Anerkennung in sich brüchig (s.u.). Zu den Formen der (Selbst-) Reproduktion von „Exklusion“ gehört aber auch das, was auf den ersten Blick als Arbeitsverweigerung erscheint. Die Verfasser zeigen die Ambivalenz dieses Verhaltens eindrucksvoll am Fall von „Herrn Müller“:
„Herr Müller ist 19 Jahre alt und lebt bei seiner Mutter. Sie war schon häufiger arbeitslos und erhält zu ihrem Minijob ergänzend ALG II; eine Schwester ist Mutter und Hausfrau. Eine weitere Schwester habe es „am weitesten in der Familie gebracht“: „Ja und meine andere Schwester, die arbeitet als, keine Ahnung, jedenfalls was Besseres … Bin ich auch stolz. Die ist sehr gut … Die hat immer gelernt und alles.“ Herr Müller absolviert zum Interviewzeitpunkt eine Maßnahme, die den Hauptschulabschluss zum Ziel hat. Aus der Sicht der ARGE gehört er zu denen, die kaum Eigeninitiative zeigen und aufgrund ihres Alters sowie der Vermittlungsdefizite gefordert und gefördert werden müssen. Da Herr Müller schon mehrere Maßnahmen abgebrochen hat, gilt er als unwillig und unfähig. Der Maßnahmeträger prognostiziert, dass er den Hauptschulabschluss wiederum nicht erreichen wird, u.a. weil er häufig unentschuldigt fehlt. Das Verhältnis zu den Mitarbeitern der ARGE beschreibt Herr Müller als widersprüchlich – einerseits als Autonomieverlust, andererseits aber auch als Unterstützung: „Da sind schon ein paar, die eigentlich ganz nett sind, aber das ist halt das, was ich schon sagte, dass die von oben herab, das ist das, was nervt. Die reden halt mit Dir, als ob Du Scheiße wärst …“ (S. 26)
Bei näherer Betrachtung zeige Herr Müllers „Arbeitsverweigerung“, dass er eigentlich „richtig“ arbeiten will, anstatt in Ersatzmaßnahmen gesteckt zu werden. In seinem Verhalten diffundieren Wahrnehmungen von Chancen und von Chancenlosigkeit. Dass die Ersatzmaßnahmen, in die er gesteckt wird, Verwahrungen sind, hat er mehrmals erfahren. Er hält die ihm aufgezeigten Wege für „wenig realistisch“. Gleichzeitig aber weiß er, dass der Abbruch der Maßnahme zur Erlangung des Hauptschulabschlusses auch keine Lösung seiner Probleme ist. Damit befindet sich „Herr Müller“ eher noch an der Schwelle zu einer bewussten Orientierung auf Nichtarbeit.
Wichtig ist noch die Beobachtung, dass, sollte „Herr Müller“ aus der Maßnahme aussteigen, die dann zu erwartenden Sanktionen der Leistungskürzung nicht greifen, weil sie durch Überlebenstechniken der informellen Arbeit, durch die Familie und andere sozialen Kontakte zumindest teilweise kompensiert werden können.
Konsequenzen für den Unterricht an (Abend-)Hauptschulen
Wenn man der Meinung ist: so geht es nicht, man kann unseren Studierenden in der Hauptschule nicht dauernd diese Zerrspiegel des bürgerlichen Vorurteils über die Unterschichten vorhalten, ergeben sich für Prüfung und Unterricht folgende Optionen:
Man lässt die Finger von Problemthemen. Man reagiert auf zweifellos vorhandene und problematische Tendenzen der Kultur von Unterschichten-Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Ignorieren. Das ließe sich so nur rechtfertigen, wenn in einer Lerngruppe solche aus der Sicht der Mittelschichten anrüchigen Verhaltensweisen nicht vertreten wären. Das dürfte eher ausnahmsweise der Fall sein.
Man setzt auf einen Perspektivenmix: Es gibt auch Erfahrungen der Erfolgs: Bewährungen in der Schule, neue Jobs, Entdeckung neuer Möglichkeiten und Entwicklung neuer Fähigkeiten. Das wäre realistischer im Blick auf die Zusammensetzung unserer Hauptschulklasse und käme dem pädagogischen Optimismus entgegen. Die stabileren unter den Studierenden mit einem konkreten und beharrlich verfolgten Ziel setzten die Themen, bestimmen das Unterrichtsklima und reißen die skeptischen und schwankenden, deren Unterrichtsbeteiligung eher diskontinuierlich ist, mit. Das wäre schön, das kann sogar mal funktionieren, aber nicht immer.
Aber auch in diesem nicht sehr wahrscheinlichen Fall stellt sich die Frage, wie mit den weniger schönen und braven Verhaltensweisen im Unterricht umgegangen werden kann. Diese Frage wird unabweisbar dann, wenn es sich um Studierende handelt, die nicht freiwillig gekommen sind, um ein selbstgesetztes Bildungsziel zu erreichen, sondern die von der Arbeitsagentur die Auflage bekommen haben, unser Bildungsangebot wahrzunehmen. Und wenn die Klasse, wie dies an einigen Schulen bereits der Fall war, ein Kooperationsprojekt ist, kann es sein, dass nur solche Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen ihr angehören.
In einem solchen Fall ist es vorgekommen, dass der Kooperationspartner von unseren Kolleginnen und Kollegen verlangte, dass man auf keinen Fall über die geringen Chancen eines Hauptschulabschlusses im Unterricht reden dürfe, denn das würde die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Maßnahme nur demotivieren. Dumm war nur, dass eben diese Teilnehmerinnen und Teilnehmer schon bald befürchteten, dass ihre Hoffnungen in die Maßnahme sich nicht erfüllten, und damit ihre zunehmenden Fehlzeiten begründeten. Auch die, die freiwillig in unsere Hauptschulklassen kommen, können die Frage nach der Perspektive über den Hauptschulabschluss hinaus nicht verdrängen und nicht immer gelingt es ihnen, angesichts möglicher nicht sehr rosiger Aussichten rational mit der Institution Schule umzugehen. Dies gelingt am ehesten denen, die schon eine klare Perspektive über den Hauptschulabschluss hinaus haben. [11]
Man kann also gar nicht die Frage umgehen, ob es eine Alternative zum Beaufsichtigungsdiskurs, der die Abschlussprüfungen Deutsch beherrscht, und zur Problemtabuisierung gibt.
Man könnte den Beaufsichtigungsdiskurs natürlich einfach umwerten und dem konservativen Blick auf die Unteren als Barbaren das romantische Bild vom mehr oder weniger edlen Wilden entgegensetzen. Die symbolischen Praktiken und Gewaltrituale sind allerdings roh und brutal und wenig edel. Man kann sogar feststellen: sie haben „eine reproduktive Funktion hinsichtlich der konservativen Ideologie“ (und der bestehenden Verhältnisse) (Willis 1982, S. 271). Kochs Wahlkampf in Hessen 2007/08 ist nicht an der Zurückweisung dieser Ideologie gescheitert, sondern daran, dass ihm nachgewiesen wurde, dass seine Sparpolitik nicht nur Sozialstaatsfunktionen, sondern auch die des Sicherheitsstaates so untergraben hat, dass die von ihm eingeforderten Maßnahmen des Überwachens und Strafens unzulänglicher umgesetzt werden als in anderen Bundesländern. Kann es daher etwas anderes geben, als die Praktiken der Körperinszenierung und des Rauschs, des Eskapismus und der Störungen, des Machismo, der Schlägereien und der Einschüchterung als „unvernünftig“ und „barbarisch“ zu verdammen und den Beck zu machen: „Wascht euch, rasiert euch, kämmt euch und hört auf, (uns) zu stinken!“?
Für den Unterricht in der (Abend-) Hauptschule ist es von entscheidender Bedeutung, über diese Alternativen der Beaufsichtigung und Ermahnung, der Umwertung und Romantisierung oder des Ignorierens und Laufenlassens hinauszukommen. Die vielen gut gemeinten Fortbildungen und pädagogischen Tage zum Aufmerksamkeitsmanagement oder zur Methodenvielfalt kann man sich schenken, wenn man sich um diese Problematik drückt bzw. sie gar nicht erst wahrnimmt.
Die einfachsten Konsequenzen wären:
Die schwierigen Fragen betreffen die gesamte Unterrichtsorganisation: Wie reagieren wir auf Störungen? Wie gehen wir vor, ohne zu ignorieren und zu beleidigen, und vermeiden dabei „jede simplistische Sympathiebekundung“ (Willis 1982, S. 272)? Wie stärken wir Einsicht und Illusionslosigkeit, ohne zu demotivieren und zu entmutigen? Wie motivieren wir, ohne Illusionen zu schaffen?
Die Logik des hier im Anschluss an die Kritik Skizzierten legt es nahe, Fertigkeiten und Disziplin über die Durchführung einer Art sozialer Selbstanalyse zu fördern, die die Verschränkung von Einsichten und Selbstausschluss deutlich macht.
Mögliche Themen, mit deren Bearbeitung man diese Selbstanalyse erreichen könnte, wären:
Die Bearbeitung dieser Themen würde voraussetzen, dass die Lehrerinnen und Lehrer etwas über prekäre Lebensverhältnisse und ihre kulturell-symbolische Aneignung wüssten, um etwa auffällige und für sich allein genommen strikt zu verurteilende Verhaltensweisen auf diese kulturelle Ebene in ihrer relativen Einheit hin ‚lesen’ und verstehen zu können, anstatt sich davon nur persönlich beleidigt und abgestoßen zu fühlen.
Literatur
[«1] So der Titel eines Artikels von Jan Feddersen in der taz vom 18.03.
[«2] Die Landesfachgruppe Erwachsenenbildung der GEW Hessen hat die zentralen Deutschprüfungen für Abendhauptschulen in Hessen seit ihrer Einführung analysiert und ist zu diesem Ergebnis gekommen. Vgl. den Infobrief der Landesfachgruppe Nr. 19, Juni 2008: Der süße Duft des kranken Lebens.
[«3] Wie unsinnig die Bezeichnung „öffentliche Soziologie“ ist, zeigt sich schon daran, wenn man sie mit ihrem Gegenteil konfrontiert: Ist alle bisherige/andere Soziologie „privat“ oder „geheim“? Haben nicht längst vor Bude und Nolte Ansätze des Fachs existiert, die sich „der prinzipiellen Erörterung öffentlicher Fragen“ (Bude 2008, S. 7) gewidmet haben? Lebt Soziologie – bei Strafe ihres Untergangs – nicht vielmehr davon, „öffentliche Fragen“ zu behandeln, im Einzelnen und Besonderen das Allgemeine zu entdecken, begrifflich zu arbeiten, um empirische Sachverhalte zu erklären?
[«4] Das Wort wurde von Harald Schmitt popularisiert. Diejenigen, die sich heute über ein vermeintliches „Unterschichtenfernsehen“ mokieren, haben in den 80 er Jahren alles getan, die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten als an Hochkultur orientiertes, elitäres „Studienratsfernsehen“ zu attackieren und delegitimieren. Gestützt auf die „Kirch-Kohl-Allianz“ wurde aber 1982 eine Medienpolitik verfolgt, die dazu geführt hat, dass die Bundesrepublik heute mit mehr als 30 Privatsendern über das europaweit umfassendste Angebot verfügt: Mängel 2008, S. 111. Diese Medien orientieren sich an „Quoten“, d.h. sie bedienen eine Bevölkerungsgruppe, die größer als die Unterschichten ist, wie immer man diese quantitativ fasst (vgl. auch Winkler 2007, S. 117 f.)
[«5] Hirschman identifiziert an der reaktionären Kritik an den Fortschritten der Freiheit seit 1789 drei rhetorische Hauptstrategien: eine Sinnverkehrungsthese, eine Vergeblichkeitsthese und eine Gefährdungsthese. Orientiert an T. H. Marshalls Drei-Jahrhunderte-Schema der Menschenrechte (individuelle Freiheitsrechte im 18., staatsbürgerliche Partizipationsrechte im 19. und soziale Anspruchsrechte im 20. Jahrhundert) zeigt er, wie diesen drei Entwicklungsschüben der Menschenrechte drei reaktionäre Wellen folgen. Das von ihm berücksichtigte Material ordnet er dann unter die genannten rhetorischen Strategien. Dabei fällt ihm auf: „fast jeder Gedanke, der eine Zeitlang aus dem allgemeinen Gesichtskreis verschwunden war, wird leicht mit einer neuen Einsicht verwechselt.“ (Ebd., S. 37)
[«6] Zitiert nach Bultmann 2001, S.50. Bultmann zeigt in seinem instruktiven Aufsatz, wie die neoliberal gewendeten sozialdemokratischen Parteien in den 90er Jahren alle noch vorhandenen Verknüpfungsversuche zwischen Chancengleichheit und gesellschaftlicher Emanzipation und Gleichheit aufgelöst haben. Mit zum Teil demselben Material, aber ohne Bezug auf Bultmann: Solga 2005, S. 48 ff. – Auch der Berliner Professor für Historische Erziehungswissenschaft Heinz-Elmar Tenorth wendet sich, ähnlich wie Bude, gegen die „Illusion“ und das „unseriöse Versprechen“, durch Bildungschancen soziale Ungleichheit beseitigen zu wollen. Deutlicher aber als Bude zeigt Tenorths Argumentation, zu welchen Konsequenzen das „aufklärte falsche Bewusstsein“ seine Anleihen bei kritischer Gesellschaftsanalyse treibt. Weil reformistische Bildungspolitik nicht erreicht, was sie erreichen zu wollen vorgibt, lässt man sie am besten gleich ganz sein. Den „Risikogruppen“ des Bildungssystems sei ohnehin nicht zu helfen, da ihnen die „Grundeinstellung“ fehle und sie stattdessen dem Fatalismus und der Gewalt anhingen. Bildung sei in diesem Milieu weder verankert noch geachtet. In dieser Situation könne man nichts anderes tun, als das bestehende Bildungssystem aufrechtzuerhalten: „Man darf kein Bildungssystem installieren, in dem man die Eltern dafür bestraft, dass sie an die Bildungskarrieren ihrer Kinder denken. Und genau das tut man, wenn man zum Beispiel das Gymnasium abschafft.“ (Tenorth 2008, S. 37)
[«7] Mit „schulgescheit“ werden (nicht nur in Hessen) Menschen bezeichnet, die in der Schule sehr gut waren, aber im Leben gescheitert sind bzw. eine eher bescheidene, wenig glamouröse Berufslaufbahn eingeschlagen haben.
[«8] In den letzten Jahren sind die Jungen als Problemgruppe im Kontrast zu den Mädchen als Bildungsgewinnerinnen entdeckt oder erfunden worden. Merkwürdigerweise nehmen aber diese ‚defizitären’ Jungen immer noch die höheren und besser bezahlten Berufspositionen ein als die Mädchen. Offenbar eine weitere Form des Auseinandertretens von Schulerziehung und Produktion bzw. Beruf.
[«9] Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit das Freizeitverhalten von beschäftigten Jugendlichen eingeschränkt oder verändert wird, wenn Jugendliche keine Beschäftigung finden. Eine Folie böte Willis 1991.
[«10] Zu Castel vgl. Castel 2000; eine gute Einführung nicht nur in die französische Prekarisierungsforschung und –theorie gibt Stefanie Hürtgen 2008. Hinweise im oben zitierten Forschungsbericht finden sich auf den Seiten 12-14.
[«11] Hierzu ausführlicher der Infobrief der Landesfachgruppe Erwachsenenbildung der GEW Hessen Nr. 20, August 2008: Wie lange noch Abendhauptschule?
Anmerkung: Siehe zu diesem Beitrag auch die Buchrezension „Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“ von Heinz Bude
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=3503