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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Buchrezension: „Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“ von Heinz Bude
Datum: 2. Oktober 2008 um 12:57 Uhr
Rubrik: Neoliberalismus und Monetarismus, Rezensionen, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
„Unsere Gesellschaft steht vor einer tiefen Spaltung. Dieses Buch macht deutlich, warum wir uns vom Traum einer gerechten Gesellschaft verabschieden müssen. Immer mehr Menschen sind von den Segnungen des Wohlstands ausgeschlossen und haben keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändert. Lebensläufe, die man für solide hielt, geraten ins Schlingern, weil Arbeitsplätze, die man sicher glaubte, wegbrechen. Ungelernte Aushilfskräfte kann es genauso treffen wie hochqualifizierte Wissenschaftler. Heinz Bude, einer der besten Kenner der deutschen Gesellschaft, entwirft zum ersten Mal ein umfassendes Bild jener zerklüfteten Verhältnisse, die in Zukunft immer stärker unsere Gesellschaft prägen werden. Jetzt ist es Zeit, darüber zu diskutieren, wie wir künftig leben wollen.“
So preist der Klappentext das neue Buch des Professors für „Makrosoziologie“ an der Universität Kassel an.
Der Sozialwissenschaftler Christian Girschner hat für uns das Buch rezensiert.
Sein Fazit: Das Buch „Die Ausgeschlossenen“ ist eine ideologische Rechtfertigungsgrundlage für eine Politik der „neuen Mitte“, die nicht mehr über die ungleiche Verteilung des Reichtums sprechen will, weil man sich von jeden politischen Ansatz der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums (einschließlich einer keynesianisch orientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik) längst verabschiedet und diese durch eine sozial-politische Metaphorik der noch zu realisierenden „Chancen- und Leistungsgerechtigkeit“ ersetzt hat.
Die Sozialwissenschaft der „neuen Mitte“: Neoliberaler Zeitgeist im Gewand der Soziologie.
Anmerkungen zu dem Buch „Die Ausgeschlossenen“ von Heinz Bude
Von Christian Girschner
„Genieren wir uns nicht. Seien wir unmodern. Sprechen wir über Kapitalismus.“
Günther Anders [1]
„Der von der Soziologie heute angebotene (…) Exklusionsbegriff belegt das Ende dieser großen Erzählung einer schrittweisen Bewältigung der sozialen Frage durch eine erweiterte Integration der Gesellschaft. Die Umstellung von Kategorien des Mangels und des Privilegs auf eine des Ausschlusses und des Makels hat mit einer Ernüchterung des Fortschrittsglaubens in unserer Gesellschaft zu tun. Die betrifft zuerst den Glauben an die Leistungen des Wohlfahrtsstaats. In allen Ländern des OECD-Raums, (…), hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es nicht allein die von der Allgemeinheit in Form staatlicher Transfereinkommen bereitgestellten Mittel sind, die über die Art und Weise der gesellschaftlichen Teilhabe entscheiden. Im Gegenteil: Die Überzeugung, soziale Benachteiligungen durch individuell zuerkannte und verabreichte Zahlungen auszugleichen, hat zur Züchtung einer Kultur der Abhängigkeit geführt, die die Leute zu Klienten einer Anstalt anstatt zu Herren über ihr eigenes Leben gemacht hat. Die Finanzierungsprobleme des Wohlfahrtsstaates haben nur seine inneren Pathologien aufgedeckt, wonach man Defizite unter Beweis stellen muss, um Anrechte sicherzustellen und Leistungen zu begründen. Das ursprüngliche Prinzip, Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren, hat sich in sein Gegenteil, nämlich in die Verfestigung von Wohlfahrtsabhängigkeit, verwandelt. Man soll sich nichts vormachen: Wer von der Wohlfahrt lebt, schrieb schon Tocqueville 1835, ist ohne Furcht, aber auch ohne Hoffnung. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn wieder mehr Geld für Arbeitslose, Arbeitsunfähige und Arme zur Verfügung stehen würde.“ (ebd., 16f.; Herv. C.G.)
Wesentlich scheint mir hier zu sein, dass Bude seine neoliberale Publikation mit einem Konstrukt beginnt: Vor einigen Jahrzehnten soll es eine “große Erzählung” und einen „Fortschrittsglauben“ nicht nur in Deutschland gegeben haben, wonach eine „Bewältigung der sozialen Frage“ angestrebt wurde, dies wird im Untertitel des Buches als „Traum einer gerechten Gesellschaft“ bezeichnet. Nur bleibt uns der Autor die Antwort darauf schuldig, wie denn dieser „Traum“ konkret aussah und wer diesen durchsetzen wollte. Die Gesellschaft? Was oder wer soll das sein? So wird also ernsthaft behauptet, dass die Gesellschaft an sich (also irgendwie unabhängig von allen Parteien, Interessengruppen, Unternehmerverbänden, politik-ökonomischen Interessengegensätzen und Herrschafts- wie Machtstrukturen) diesen „Traum“ bzw. die “große Erzählung” von einer „gerechten Gesellschaft“ durchsetzen wollte. Diese fiktionale Unterstellung einer über alle sozialen, politischen, ideologischen und ökonomischen Interessengegensätzen hinweg gültige Zielbestimmung der bundesdeutschen Gesellschaft wendet der Verfasser m.E. deswegen an, um anschließend umso eindruckvoller behaupten zu können, wie sehr sich doch die armselige soziale Realität an diesem von ihm erdichteten wie diffus gehaltenen Maßstab blamieren musste, damit das „Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“ und den neoliberalen „Umbau“ des Sozialstaates zwangsläufig und alternativlos einleitete. Dies erspart dem Autor die gewaltige Arbeit, die ideologischen, ökonomischen und politischen Akteure dieses gesellschaftlichen Transformationsprozesses zu benennen und die damit verbundenen herrschaftlichen Hintergründe und Ziele aufzudecken.
Folgerichtig wird wie in der neoliberalen Propaganda die Ursache für die strukturelle Arbeitslosigkeit nicht im Fehlen von Arbeitsplätzen gesehen, sondern (i) in einer ineffizienten staatlichen Arbeitsvermittlung, (ii) in der Existenz von sozialen Schutzrechten und (iii) den zu hohen Lohnersatzleistungen für die Erwerbslosen. In diesem Sinne wird auch der unter Kanzler G. Schröder (SPD) eingeführte „Wohlfahrtsstaat neuen Typs“ nicht kritisiert, sondern legitimiert, wenn Bude erneut die neoliberalen Sprachhülsen wiederholt: Der „neue Wohlfahrtsstaat“ dulde bei den Erwerbslosen keine „Passivität“ und „erlernte“ „Hilflosigkeit“ mehr:
„Das ist der Wohlfahrtsstaat neuen Typs, der gesellschaftlich brachliegende Arbeitskraft nicht mehr nur verwalten und stillstellen, sondern für “dynamische Arbeitsmärkte2 befähigen und aktivieren will. Also keine Frühverrentungsprogramme und Arbeitszeitverkürzungsregelungen mehr, sondern “lebenslanges Lernen” bei verlängerter Lebensarbeitszeit. „Fordern und Fördern“ lautet die Parole. Der „aktivierende“ (…) Wohlfahrtsstaat soll die Leute nicht mehr vor der Anarchie der Märkte schützen, sondern sie zum Mitgehen verleiten und auf den Wechsel einstellen. Nicht Politik gegen, sondern für Märkte ist das leitende Prinzip [9]. Dafür dass das muffig riechende Arbeitsamt zu einem farbig gestalteten „Jobcenter“ aufgepeppt werden. An die Stelle von Versorgung im Anstaltsstaat tritt das „Assessment“ nach den Prinzipien der “Beschäftigungsfähigkeit”.“ (ebd., 27f.; Herv. C.G.)
Aufgrund der nicht vom Autor eingestandenen Parteinahme für die Agenda 2010-Politik (ebd., 28) muss man sich dann auch nicht mehr über folgendes wundern: Die historisch einschneidenden sozialen und rechtlichen Verschlechterungen für die Erwerbslosen durch die Hartz-„Reformen“ werden mit keinem Wort erwähnt, obwohl das Buch doch über die „Ausgeschlossenen“ handeln soll. Dem Autor sind daher die nachstehenden Stichwörter über Hartz IV keine Zeile wert: Vermögensenteignung, Entrechtung, Verfolgungsbetreuung und Schikane, Senkung der Arbeitslosenhilfe unter das sozial-kulturelle Existenzminimum, die Verdoppelung der Kinderarmut, das Hineinprügeln in Mini- und Niedriglohnjobs, Ersetzung von Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen durch Trainingsverpflichtungen und Ein-Euro-Jobs, grundgesetzwidrige „Eingliederungsverträge“, Zwangsumzüge, Hausdurchsuchungen (Verzeihung: „-besuche“), Kontrollanrufe, Sanktionen bis hin zur völligen Streichung der Geldleistungen, den staatlich bzw. politisch angeordneten und von Medienkonzernen fortgesetzten Hetzkampagnen gegen Langzeiterwerbslose usw. [10]. Entsprechend wird auch über die daraus entstehenden negativen psycho-sozialen Auswirkungen bei den Betroffenen geschwiegen, obwohl der Soziologe ansonsten detaillierte Fallbeispiele über das Verhalten und den Gemütszustand der „Unterschicht“ vorlegt. Aber all diese Dinge würden ja den makellosen Schein des „neuen Wohlfahrtsstaats“ trüben, der ja angeblich die Menschen endlich wieder „zu Herren über ihr Leben“ (ebd., 16) werden lässt, und damit nicht mehr in die geschönte Konstruktion des Soziologen passen.
Denn die „Ausgeschlossenen“ leiden nach Bude nicht so sehr an Armut und einer neuen staatlichen Repressions-, Lohndrückungs-, Überwachungs-, Rentensenkungs-, Kontroll- und Prekarisierungspolitik, sondern, wie es inzwischen die “neue Mitte” in den ihr hörigen Medien täglich verbreitet, „darunter, dass ihnen Zugänge verwehrt werden, dass sie Missachtung erfahren und dass sie vom Gefühl der Unabänderlichkeit und Aussichtslosigkeit gelähmt sind. Die Soziologie hat dafür einen neuen Begriff geprägt: Es geht nicht allein um soziale Ungleichheit, auch nicht nur um materielle Armut, sondern um soziale Exklusion. Der Bezugspunkt dieses Begriffs ist die Art und Weise der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, nicht der Grad der Benachteiligung nach Maßgabe allgemein geschätzter Güter wie Einkommen, Bildung und Prestige.“ (ebd., 13; Herv. C.G.) Es verwundert dann auch nicht mehr, wenn Bude auf dieser erfindungsreichen wie feinsinnigen Soziologenkategorie der „sozialen Exklusion“, die sicher unzählige und karrierefördernde Forschungsprojekte und Buchveröffentlichungen hervorbringen wird, anschließend gegen den relativen Armutsbegriff polemisiert. Danach ist es mit der Armut so eine Sache. Denn eine wirkliche Armut gibt es nicht oder kaum mehr, deswegen wird diese durch den soziologischen Neusprech der fehlenden „Zugangschancen“ (bzw. Exklusion) ersetzt, die das „Gefühl der Unabänderlichkeit und Aussichtslosigkeit“ hervorbrachte [11] Damit wird, um die sozioökonomische Bedeutung der stetig größer werdenden Reichtumspolarisierung als belanglos hinzustellen, bewusst verhüllt, dass die „Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten“ der Menschen in einer ökonomisierten bürgerlichen Welt unmittelbar von der Verfügung über Geld abhängen [12]: „Auch ist Armut ein relativer Begriff. Wenn man (…) arm diejenigen nennt, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben, wächst mit dem Reichtum der Reichen automatisch die Armut der Armen.“ (ebd., 14; Herv. C.G.) [13] Als Soziologe sollte man wissen, dass auf diese plumpe Art und Weise, wie Bude hier behauptet, nicht das Durchschnittseinkommen errechnet wird, aber auf Tatsachen kommt es ihm offensichtlich nicht mehr an. Später wird diese „sachliche“ Argumentation noch erweitert, wenn es heißt: „Freilich bedeutet Einkommensarmut – immer bezogen auf die Entwicklung der durchschnittlichen Einkommen – nicht unbedingt Armut der Lebensverhältnisse. So haben sich die Wohnverhältnisse, was Größe, Ausstattung und Zustand der Wohnungen anbelangt, kontinuierlich verbessert. (…). Paradox ausgedrückt: Die Armut wächst, aber den Leuten geht es besser.“ (ebd., 38; Herv. C. G:) Mit dieser Logik führt man den relativen Armutsbegriff ad absurdum. Denn es ist völlig klar und eine Binsenweisheit, dass sich in den letzten Jahrzehnten der Lebensstandard erhöht hat [14], aber darum geht es beim relativen Armutsbegriff nicht. Darüber hinaus muss der Soziologe bei seinen umfassenden Forschungen über die >soziale Exklusion< irgendwann die letzten empirischen Untersuchungen zur Entwicklung des Anstiegs der Armut in diesem Land verpasst haben, denn er schreibt: „Nicht einmal die konjunkturell schwankende Arbeitslosenquote schlägt sich direkt in einem entsprechenden Verlauf der Armutsquote nieder.“ (ebd., 38; Herv. C. G.) Dies dürfte allerdings seit der „Hartz IV-Reform“ nicht mehr zutreffen, die die Kinderarmut über Nacht verdoppelte. Aber darüber, wie über die rasante Ausdehnung des Niedriglohnsektors in den letzten Jahren, verliert der Autor selbstredend kein Wort.
Nur in diesem eingeschränkten Sinne macht Bude den „neuen aktivierenden Wohlfahrtsstaat“ zu einer „Ursache für sozialen Ausschluss“ (ebd., 27). Ansonsten behauptet der Autor entgegen allen empirischen Belegen über die Wirkungslosigkeit der von den Neoliberalen angepriesenen >Hartz-Reformen< trotzig ihren ausbleibenden Erfolg: Denn die Politik „hat sich von der Überzeugung verabschiedet, der Staat könne die Folgen wirtschaftlicher Veränderungen mitgestalten – und tatsächlich geht es auf dem Arbeitsmarkt bergauf“ (so heißt es treffend auf dem Buchumschlag; Herv. C.G.). Schließlich kann die entscheidende Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit nur an der angeblich sozialstaatlich erzeugten >Passivität< und „Kultur der Abhängigkeit“ der Erwerbslosen liegen. Die Beseitigung dieses sozialstaatlichen Übels garantiert in dieser neoliberalen Weltsicht automatisch den Erfolg.
An anderer Stelle wird indes vom Soziologen eingeräumt, dass angesichts der heutigen ökonomischen Dynamik ein Leistungs- und Behauptungswille nicht mehr vor dem sozialen Abstieg in die „Unterschicht“ schützt: „die soziale Stufenleiter ist überhaupt glitschiger geworden. Der Absturz scheint von überall möglich.“ (ebd., 33) Als Ursache für einen schnellen sozialen Absturz erwähnt Bude Hartz IV nicht, was aufgrund seiner Haltung zum „neuen Wohlfahrtsstaat“ nicht verwundert.
Man möchte dem Autor außerdem zurufen, dass er doch auch mal einen Blick in die kritische Machteliten-Forschung werfen sollte [18]. Denn dort wird entgegen dem vom Autor verbreiteten liberal-konservativen Mythos über den individuellen „Leistungs- und Aufstiegswillen“ und der vielzitierten „Chancengleichheit“ belegt, wie wenig sich an den alt hergebrachten Mechanismen zur Reproduktion der kapitalistischen Klassen- bzw. Elitenstruktur verändert hat [19]. Derzeit wird dank der neoliberalen Politik der „Elitenförderung“ und der Prekarisierung diese Struktur der „liberalen“ und „offenen Gesellschaft“ (ebd., 19) nicht nur auf allen Ebenen restauriert, sondern verschärft.
Man kann machen, was man will, es ist halt so, lautet der auf einem soziologischen Objektivismus der Ökonomie aufgebaute Fatalismus von Bude, wenn er ausführt:
„Die Gruppe der Ausgeschlossenen wächst im Gefolge einer funktionalen Arbeitsteilung, die die wissensbasierte und dienstleistungsorientierte Facharbeit zum Normalmodell einer industriellen Hochproduktivitätsökonomie werden lässt. (…) Projektförmige Aufgabenbewältigung, flexible Spezialisierung und eigenverantwortliche Qualitätskontrolle lauten die Stichworte des neuen Arbeitsregimes. Selbst die Lagerarbeit ist keine einfache Tätigkeit mehr, (…), sondern verlangt aufgrund der informationellen Darstellung der betrieblichen Abläufe gewisse systemanalytische Kompetenzen. (…) Auf der einen Seite wächst die Nachfrage für motivierte, qualifizierte und inspirierte Arbeitskräfte und auf der anderen Seite verschärft sich die Bereitschaft zum Ausschluß einer unmotivierten, ungelernten und unwissenden Bevölkerung. (…) Es ist also weniger die Deindustrialisierung als die Hyperindustrialisierung, die in Deutschland eine Population von Ausgeschlossenen hervorbringt.“ (ebd., 22f.; Herv. C.G.)
Die kapitalistische Ökonomie gilt hier als eine autistische Sphäre der technologischen Entwicklung und deswegen als unentrinnbare Schicksals- und Naturgewalt für die Menschen und Politik, weshalb sich jegliche Differenzierungen hinsichtlich politik-ökonomischer Steuerungs- und Beherrschungs- bzw. Unterwerfungsstrategien und –absichten erübrigen. Es ist daher beeindruckend, wie es der Soziologe schafft, mit keinem Wort auf die zahlreich praktizierten Methoden der neoliberalen Wirtschaftspolitik einzugehen, die in diesem Land die soziale und ökonomische Lage der meisten Lohnabhängigen prekarisiert und eine stetig größer werdende Anzahl von Menschen in die Armut und Arbeitslosigkeit getrieben hat: Neben dem Verzicht auf eine antizyklische Konjunkturpolitik gehört dazu die Ausdehnung der Leiharbeit und befristeter Arbeitsverträge, Mini-Jobs, Absenkung/Abschaffung des Kündigungsschutzes, Demontage von Schutzrechten, Abschaffung von Kriterien für zumutbare Arbeit für Erwerbslose, Senkung von Lohnersatzleistungen, Erhöhung der Arbeitszeit, Lohnsenkungen, Niedriglöhne, Scheinselbständige, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Zulassung von Hedge Fonds, Unternehmenssteuersenkungen, Demontage der staatlichen Kranken- und Rentenversicherungen usw. Für all das soll offensichtlich für Bude nur die “industrielle Hochproduktivitätsökonomie” verantwortlich sein.
Mit diesem Erklärungsmodell teilt H. Bude die neoliberale Weltanschauung und Programmatik über die Ökonomie und Gesellschaft. Jedoch unterscheidet er sich in einem Punkt wesentlich von den neoliberalen Ökonomen. Während letztere in dem Wirken des freien Marktes und dem Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme eine neue Phase der Freiheit, Wohlstandes und Vollbeschäftigung erblicken, sieht dagegen Bude angesichts der technologischen Modernisierungsschübe der politisch nicht zu steuernden Ökonomie ein nicht zu behebendes Problem der sozialen Integration: Denn diese hyperindustrialisierte Ökonomie muss notwendigerweise „Ausgeschlossene“ hervorbringen, die nicht mehr “gebraucht” werden.
Fazit:
In seinem Vorwort zu seinem Buch wollte der Autor den Leser aus der „Begriffsblindheit und Erfahrungsleere im Blick auf unsere Gesellschaft“ hinausführen und betonte seine „Unvoreingenommenheit des soziologischen Blicks“, um zu zeigen, „was Sache ist“. Aus der hier aufgezeigten “Theorie-Konstruktion” des Autors geht dagegen hervor, dass diese unter einer kategorialen Bewusstlosigkeit über die besondere soziale Qualität der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft leidet. Dies hat zur Folge, dass er weder die besondere Verschränkung von Politik und Ökonomie noch die daraus folgenden Antriebskräfte der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft bestimmen und in seiner Argumentation berücksichtigen kann. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn er von allen Klassen-, Herrschafts- und Machtverhältnissen, einschließlich der daraus entspringenden Konflikte und Interessengegensätze, radikal abstrahiert und sie nicht zur Kenntnis nimmt. Mit diesem von allen konkret-historischen und politik-ökonomischen Bezügen befreiten Korsett kann man zwar der Öffentlichkeit die neoliberalen “Hartz-Reformen” des Sozialstaates und das Abfinden mit der Existenz einer dauerhaft existierenden „Unterschicht“ schmackhaft machen, aber zur Erklärung der gesellschaftlichen Antriebskräfte, die zur Verarmung wie Prekarisierung immer größerer Teile der Gesellschaft führen, taugt diese auf einer frei erfundenen soziologischen Integrationsphantasie beruhende Konstruktion nicht. Aber als ideologische Rechtfertigungsgrundlage für eine Politik der “neuen Mitte”, die nicht mehr über die ungleiche Verteilung des Reichtums sprechen will, weil man sich von jeden politischen Ansatz der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums (einschließlich einer keynesianisch orientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik) längst verabschiedet und diese durch eine sozial-politische Metaphorik der noch zu realisierenden “Chancen- und Leistungsgerechtigkeit” ersetzt hat, dient dieses Buch allemal.
[«1] G, Anders 1964: Die Toten. Rede über die drei Weltkriege, in: Ders.1995: Hiroschima ist überall, München, S. 369
[«2] Das Buch ist 2008 im Hanser Verlag erschienen. Über den Autor erfährt man dort, dass dieser Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung war und seit 2000 Professor für Makrosoziologie in Kassel ist.
[«3] Dieses Buch scheint weitgehend auf positive Resonanz bei den Rezensenten gestoßen zu sein: „Bude hat den präzisen soziologischen Blick auf die Gesellschaft, und das unterscheidet seinen Text von vielen anderen, hebt ihn wohltuend ab. Er balanciert die genaue Beobachtung mit der analytischen Distanz, und so gelingen ihm in den einzelnen Kapiteln immer wieder Vignetten von gesellschaftstheoretischer Brillanz. Die Menschen auf dem Land in den neuen Bundesländern, die diversen Varianten von Alleinerziehenden, die Jugendlichen, die über 50-Jährigen und alle nicht unkündbar Beschäftigten werden uns als derzeit oder zukünftig irgendwie ausgeschlossen vorgestellt. Das Rundumhafte dieses Schlages gewinnt seinen Charme durch die Liebe zum Detail. Man liest gespannt und wartet, ob die eigene soziale Gattung nicht auch noch in diesem Zoo der Prekären auftaucht.“ ( R. Kreissl, in: www.dradio.de) Dagegen merkt G. Gillen immerhin noch kritisch an: „Heinz Bude zeichnet genau das erschreckende Bild einer zerfallenden Gesellschaft und trägt damit wesentlich zur Aufklärung über die Verhältnisse bei, in denen wir leben. Das macht sein Buch für die, die hinschauen wollen, äußerst empfehlenswert. Doch scheint der Fatalismus, den er den Ausgeschlossenen attestiert, auch ihn infiziert zu haben. Bude erzählt den Weg in die gesellschaftliche Agonie als Tragödie, aus der es keinen Ausweg gibt. Er bleibt in der Beschreibung der strukturellen Entwicklungen stecken. Doch diese Strukturen und die daraus resultierenden und zutreffend beschriebenen Verwerfungen verdanken wir der neuen totalitären Ideologie des Neoliberalismus, die Solidarität und Gemeinsinn diskreditiert. “ (G. Gillen in: www.dradio.de)
[«4] P. Bourdieu 2004: Gegenfeuer, Konstanz
[«5] Vgl. C. Girschner 2008: Hartz IV-Ökonomie: David Ricardo und die Wiederkehr frühkapitalistischer Herrschaftsmethoden des Liberalismus, in: www.trend.infopartisan.net, März-Ausgabe
[«6] Der Sozialstaat wird, wie dies schon der Ökonom David Ricardo vor bald zweihundert Jahren machte, zur Ursache der Arbeitslosigkeit und Verarmung erklärt, soweit ist die Arbeitslosigkeit nicht mehr eine Folge der politik-ökonomischen (Krisen-)Entwicklung. Auf dieser Ursache-Folge-Verkehrung beruht dann die weitere Argumentation der neoliberal-konservativen Ideologie.
[«7] H. Marcuse 1985: Der eindimensionale Mensch, Darmstadt, S. 125
[«8] Vgl. W. Hofmann 1971: Universität, Ideologie, Gesellschaft; Frankfurt/M., S.69f. Genauer formuliert: „Das Bedenkliche ist, dass die Statistiken, Messungen und Feldstudien der empirischen Soziologie und politischen Wissenschaft nicht rational genug sind. Sie werden in dem Maße zu etwas Mystifizierendem, wie sie von dem wahrhaft konkreten Zusammenhang isoliert werden, der die Tatsachen schafft und ihre Funktion determiniert. Dieser Zusammenhang ist größer und ein anderer als der der untersuchten Fabriken und Werkstätten, der behandelten Klein- und Großstädte, der Gebiete und Gruppen, über deren öffentliche Meinung befunden und deren Überlebenschancen berechnet wird. Und er ist auch wirklicher in dem Sinne, dass er die untersuchten, zurechtgestutzten und berechneten Tatsachen hervorbringt und determiniert. Dieser wirkliche Zusammenhang, in dem die besonderen Gegenstände zu ihrer wirklichen Bedeutung gelangen, ist bestimmbar nur innerhalb einer Theorie der Gesellschaft.“ H. Marcuse 1985, a.a.O., S. 204f.
[«9] Eine „Politik gegen (…) Märkte“ ist und war auch der Sozialstaat vor den Hartz->Reformen< nicht, wie dies hier Bude behauptet, ganz im Gegenteil: Nur für Neoliberale ist das so, da sie mit ihrer Verabsolutierung des betriebswirtschaftlichen Interesses makroökonomische und damit langfristige Zusammenhänge nicht mehr kennen und in ihrer ökonomischen Welt nicht mehr berücksichtigen können bzw. wollen.
[«10] Statt der von Bude angeführten >Eigenverantwortung< der Erwerbslosen hat die Hartz IV->Reform< vielmehr eine neue „Kultur der Abhängigkeit“ vom sogenannten >Fallmanager< >gezüchtet<. Vgl. Agenturschluss (Hg) 2006: Schwarzbuch Hartz IV, Berlin; G. Gillen 2004: Hartz IV, Reinbek; C. Girschner 2007: Zur politischen Ökonomie der „Ein-Euro-Jobs“: ideologische und herrschaftliche Hintergründe, in: www.nachdenkseiten.de, (21.08.2007)
[«11] Die politische Abwertung des Begriffs der relativen Armut und die damit verknüpfte Frage nach der Reichtumsverteilung dokumentierte bereits der zweite Armuts- und Reichtumsbericht (2005) der >rot-grünen< Regierung. Dieser kann als wichtiger ideologischer Stichwortgeber bzw. Sprachhülsenfabrikant für die >neue Mitte< angesehen werden, dem der Soziologe Bude bedingungslos folgt, denn: „Im zweiten Bericht veränderte sich die Tonlage. Auch nach vier Jahren Rot-Grün waren die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden. Die Armutsquote stieg von 12,1 auf 13,5 Prozent der Bevölkerung. VerliererInnen waren vor allem Kinder, Jugendliche und Frauen. Beinahe jeder fünfte Jugendliche im Alter von 16 bis 24 Jahren gilt heute als arm (1998: 14,9 Prozent). Die Kinderarmut stieg von 13,8 auf 15 Prozent, die der Frauen von 13,3 auf 14,4 Prozent. (...) Unter den Arbeitslosen stieg die Armutsquote von 33,1 auf 40,9 Prozent. Der Armuts- und Reichtumsbericht benutzt übrigens den Begriff Armutsrisiko. Noch so eine Verschleierung: Ein Armutsrisiko von 40,9 Prozent, das klingt halt weniger dramatisch als 40,9 Prozent Arme. (...) Diese bestürzende Bilanz konnte Rot-Grün keiner Vorgängerregierung in die Schuhe schieben. Deswegen ist der zweite Armuts- und Reichtumsbericht sichtbar bemüht, die zunehmende Armut zu relativieren und kleinzureden. Er läutet zugleich einen Wechsel im sozial-staatlichen Leitbild ein. (...) Das neue Konzept rückte sogenannte Verwirklichungschancen in den Mittelpunkt: >Armut ist dann gleichbedeutend mit einem Mangel an Verwirklichungschancen, (…)<, heißt es im zweiten Bericht. Diese Chancen verortet der Bericht in politischer Beteiligung und Mitbestimmung, im Zugang zu Arbeitsmarkt, Bildung und Gesundheitswesen, im Wohnen, in der Infrastruktur für Kinderbetreuung und in sozialer Sicherheit. Materielle Umverteilung und eine Politik der Statussicherung seien bei dem Versuch, Teilhabe und Verwirklichungschancen bereitzustellen, zunehmend an ihre Grenzen gestoßen, heißt es.(...) Wenn arme Menschen nur noch individuell dazu befähigt werden sollen, Chancen zu ergreifen und Herausforderungen zu bewältigen, werden die gegenseitige Bedingtheit von Armut und Reichtum und die gesellschaftlichen Ursachen (...) ausgeblendet. (...) Man kann es drehen und wenden, wie man will: Lebenschancen hängen am Geld. Deswegen müssen Armut und Reichtum auch weiterhin im Zusammenhang gesehen werden. Im ersten Armuts- und Reichtumsbericht war das noch der Fall. (...) Im zweiten Bericht wird mit der Betonung der Verwirklichungschancen subtil eine Art Schuldprinzip eingeführt. Der Staat könne Chancen eröffnen. >Aber jede und jeder Einzelne entscheidet darüber, ob sie oder er die Chancen nutzt.< Wer das nicht tut, hat eben Pech gehabt. Und von der Kritik, gebotene Chancen nicht zu nutzen, bis zum Vorwurf des >Sozialschmarotzers< ist es dann nicht mehr weit.“ (D. Beck/H. Meine 2007: Armut im Überfluss, Göttingen, S. 171ff.)
[«12] Es geht bei Bude nicht mehr um Armut in ihren vielschichtigen Facetten und um die Verteilung des realen Reichtums in der Gesellschaft, sondern um „soziale Exklusion“ bzw. gesellschaftliche Integration. Und diese hat vor allem viel mit „Gefühl“ und „Chancen“ zu tun, ist im Gegensatz zur harten Faktenlage der Reichtumsverteilung also sehr beliebig anwendbar und interpretierbar. Die Kategorie der sozialen Exklusion (bzw. fehlende Integration) ist allerdings hinsichtlich der sozialen Qualität wie des gesellschaftlichen Inhalts völlig unbestimmt und reduziert sich auf den inhaltsleeren Selbstzweck, dass die Menschen an sich in die Gesellschaft (welche?) integriert (wozu?) sein müssen. Wenn dies nicht hinreichend gelingt, dann liegt für die Soziologie ein gesellschaftlich zu behebender Sozialdefekt vor, an dem die Betroffenen >leiden müssen<, während die Gesellschaft dadurch ihre Ordnung und damit Funktionsweise verlieren könnte. Zudem besitzt der Exklusionsbegriff den unschlagbaren Vorteil, nämlich ganz und gar kompatibel mit der Sozial- und Bildungspolitik der >neuen Mitte< (genauer: >Verteilungsgerechtigkeit< wurde hier als sozialpolitisches Ziel durch Schaffung von >Chancengerechtigkeit< und >Zugangschancen< ersetzt) zu sein: „Soziale Exklusion dagegen ist weder auf gesellschaftliche Benachteiligung zu reduzieren noch durch relative Armut zu erfassen. Sie betrifft vielmehr die Frage nach dem verweigerten oder zugestandenen Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft. Sie entscheidet darüber, ob Menschen das Gefühl haben, dass ihnen Chancen offen stehen und dass ihnen ihre Leistung eine hörbare Stimme verleiht, oder ob sie glauben müssen, nirgendwo hinzugehören, und dass ihnen ihre Anstrengung und Mühe niemand abnimmt.“ (Bude a.a.O., S.14; Herv. C.G.) Ich sehe schon, irgendwann wird diese Art von Soziologie den Deutschen Bank-Chef J. Ackermann, sollte er mal als Manager abgesägt werden, unter der Kategorie der sozialen Exklusion führen, da er das „Gefühl“ entwickeln könnte, dass ihm keine „Chancen offen stehen“ und „nirgendwo“ mehr hinzugehört. So absurd ist der Gedanke nicht: Es sind in der Regel die „Reichen und Superreichen“ (F. Lundberg), die sich von der Gesellschaft mit Hilfe von Villen, privaten Sicherheitsdiensten, Luxusjachten, Mauern, Privatjets etc. von der Gesellschaft abschotten. Diese wollen als >Ausgeschlossene< eben nicht, dass im Gegensatz zur >Unterschicht< die Struktur ihres Privatlebens und Lebensstils bekannt, geschweige untersucht und damit möglicherweise publiziert bzw. kritisiert wird. Die Soziologie hat diesen herrschaftlichen Wunsch stets respektiert, weil ja in ihrer eindimensionalen Weltsicht nicht die Reichen/Machtelite die >soziale Integration< stören und gefährden, sondern die Unterworfenen, Bedürftigen und Verlierer der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, die gegenüber dem Staat alles offen legen müssen, damit den Soziologen einen vollständigen empirischen Zugriff auf ihre Lebenssituation ermöglichen. Sollte sich dagegen doch einmal ein Soziologe bei den Reichen und Superreichen verirren, kann er sicher davon ausgehen, dass diese ihre Wachhunde auf ihn hetzen werden. Sowieso bleibt deshalb der Reichtum der Reichen ein wenig erforschtes Gebiet: „Die offensichtlichen Defizite der amtlichen Statistik hinsichtlich der Einkommens- und Vermögensverteilung sind bekannt und unstrittig. Seit Jahren wird von interessierten Sozialwissenschaftlern die Verbesserung der Datenbasis verlangt, (...). Bislang ist der Gesetzgeber dem nicht nachgekommen. Zu vermuten ist, dass die Bundestagsmehrheiten sich scheuen, die wirklichen Reichen zu verpflichten, ihren Reichtum offenzulegen. (...) Mit diesen Missstand haben sich, so scheint es, auch die Sozialwissenschaften abgefunden. Zwar wird stets auf Lücken und Unsicherheiten der statistischen Daten verwiesen, aber dabei bleibt es auch. Es fehlt an Versuchen, Umfang und Struktur der nicht erfassten und verschwiegenen hohen Einkommen und großen Vermögen annähernd zu bestimmen, sei es auch mit unkonventionellen und indirekten Methoden. (...) Offenbar ist diese >Elite< sich ihrer Fähigkeit bewusst, der Politik wirksame Schranken zu setzen. Und das wissen auch die Politiker. Nichts anderes meint der Begriff herrschende Klasse.“ (J. Bergmann 2004: Reichen werden reicher, in: Leviathan 2, S.192 u. 199)
[«13] Bude argumentiert hier auf einer Weise, wie ich dies bislang nur vom ehemaligen BDI-Chef Olaf Henkel gehört hatte: >Armut gibt es nicht<, allerhöchstens als statistisches Kunstprodukt. Übrigens kann der Autor auf dieser Grundlage nicht mehr erklären, wie es kommt, dass die Armutsgrenze im 2. Armuts- und Reichtumsbericht noch bei 938 Euro lag, dagegen fiel diese im 3. Armuts- und Reichtumsbegriff um 157 Euro auf 781 Euro, obwohl gleichzeitig die „Reichen reicher“ geworden waren (vgl. J. Bischoff 2008: Soziale Spaltung, in: Sozialismus Nr. 6).
[«14] „Die Besonderheit“, dies wusste durchaus ein Soziologe früher mitzuteilen, „der sozialstrukturellen Entwicklung in der Bundesrepublik ist der >Fahrstuhleffekt<: die >Klassengesellschaft< wird insgesamt eine Etage höher gefahren. Es gibt – bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten – ein kollektives Mehr an Einkommen, Bindung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum.“ (U. Beck 1986: Risikogesellschaft, Frankfurt/M., S. 122)
[«15] Diese denunziatorische Begrifflichkeit wird nicht mehr einmal in Anführungszeichen gesetzt (und nicht in Beziehung mit der Einführung des Privatfernsehens gebracht). Man kann davon ausgehen, dass es sich hierbei um eine abschätzige Distanzierungsmethode der >neue Mitte< handelt, die auch Bude erwähnt, aber leider nicht auf seine eigene Argumentation anwendet: „Die Mitte ist von der Angst besessen, dass man sich überall anstecken könnte. Es handelt sich um eine Krankheit, die ebenso als Teil der inneren Natur angesehen werden muss wie die Gesundheit.“ (ebd., 117) Denn, hier lässt sich der Autor zu einer Erkenntnis über die kapitalistische Ökonomie hinreißen, die er sonst wie der Teufel das Weihwasser meidet, die „Renditeerwartungen des Kapitals lassen keinen Bereich aus und deshalb bieten weder Leistung noch Loyalität Schutz. Im Zweifelsfall triumphieren Käuflichkeit, Servilität und Prostitution über Einsatz, Dienst und Stolz. Der Hauptsatz der Statuspanik lautet: In Zeiten des Turbokapitalismus kann es jeden treffen.“ (ebd., 117f.). Nebenbei frage ich mich, wie denn das >Mittel- und Oberschichtenfernsehen< aussieht: Solch >niveausetzenden< Sendungen wie Sabine Christiansen bzw. Anne Will oder Tagesschau? (vgl. W. van Rossum 2007: Die Tagesshow. Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht, Reinbek b. Hamburg; Ders. 2004: Meine Sonntage mit >Sabine Christiansen<. Wie das Palaver uns regiert, Reinbek. b. Hamburg)
[«16] Vgl. F. Schultheis/K. Schulz (Hg) 2005: Gesellschaft mit begrenzter Haftung, Konstanz; G. Goettle 2000: Die Ärmsten. Wahre Geschichten aus dem arbeitslosen Leben, Frankfurt/M. Dem früheren neoliberalen „Bild von der >saturierten Mitte< wird oft das Bild eines ebenso undifferenzierten, flächendeckenden Trends zur Herausbildung einer >neuen Unterklasse< entgegengehalten, in der sich Tendenzen der Dequalifizierung, Verarmung, Anomie, Flexibilisierung am Arbeitsplatz, Fremdbestimmung und Auflösung sozialer Beziehungen zu einem Bild verdichten, das den Verelendungsszenarios des frühen 19. Jahrhunderts nahe kommt. Die Menschen erscheinen dann, wie im neoliberalen Szenario, als passiv leidende Agenten, denen nichts anderes übrig bleibt, als den neuen Anforderungen zu genügen (...)“. Dieses neoliberale Szenario vergisst, „dass die große Mehrheit der Arbeitnehmer seit langem nicht mehr aus ohnmächtigen, gering qualifizierten, nur materiell interessierten und demoralisierten Proletariern besteht, sondern aus differenzierten, gut qualifizierten Milieus, die ihre Rechte kennen – und verteidigen.“ (M. Vester 2005: Der Wohlfahrtsstaat in der Krise. Die Politik der Zumutungen und der Eigensinn der Alltagsmenschen, in: F. Schultheis/K.Schulz: Gesellschaft mit begrenzter Haftung, Konstanz, S.26ff.).
[«17] Entsprechend fehlt bei Bude z.B. jeder Hinweis nicht nur auf Demonstrationen und Proteste gegen Hartz IV durch die >Ausgeschlossenen<, sondern auch auf die Klagewelle gegen die Hartz IV-Behörden bzw. gegen Teile von Hartz IV, die Weigerung Ein-Euro-Jobs oder Niedriglohnjobs anzunehmen, den individuellen Gewalt- oder Wutausbrüchen gegenüber Behördenmitarbeitern, die unendlichen Versuche der Erwerbslosen behördlich verwehrte Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen zu bekommen usw. All dies und vieles andere passt nicht in die von Bude vorgegebene Schablone der trägen, abhängigen, passiven, verwahrlosten >Ausgeschlossenen<. Es ist ja gerade dieses nicht von der Machtelite erwartete Verhalten der >Ausgeschlossenen<, das die Politik und Medien sprichwörtlich auf die Palme bringen. Entsprechend wird gehandelt: Hetzkampagnen gegen Erwerbslose, manipulierende und verdummende Fernsehsondersendungen und Zeitungsberichte bzw. Kommentare zu Anti-Hartz-Demonstrationen, Gesetze und Ausführungsbestimmungen zu Hartz IV werden inzwischen monatlich verschärft, den Zugang zu Gerichten und die Inanspruchnahme der Prozesskostenhilfeunterstützung soll bzw. wurde schon eingeschränkt usw. So sieht eben der von Bude begrüßte >neue Wohlfahrtsstaat< aus.
[«18] Vgl.: M. Hartmann 2002: Der Mythos von den Leistungseliten, Frankfurt/M.; Ders. 2007: Eliten und Macht in Europa, Frankfurt/M.; H.J. Krysmanski 2004: Hirten & Wölfe, Münster; Ders. 2007: Wem gehört die Europäische Union, in: S. Wagenknecht (Hg): Armut und Reichtum heute, Berlin; Ders. 2007: Die Reichen von Heiligendamm, in: www.hjkrysmanski.de
[«19] All das unterstreicht die Richtigkeit jenes Resümees, das Bottomore bereits vor fast vier Jahrzehnten gezogen hat, >dass es der Oberklasse … gelungen ist, die Angriffe auf ihre wirtschaftlichen Interessen recht erfolgreich abzuwehren und sich in unserem Jahrhundert in dem Sinn als herrschende Klasse zu behaupten, dass sie die Macht besitzt, ihre Interessen zu verteidigen.< Er fügt dann noch die Bemerkung hinzu: >Was sich in den demokratischen Ländern bis heute allem Anschein nach vollzogen hat, ist weniger eine Machtminderung der Oberklasse als eine Milderung des Radikalismus der Arbeiterklasse.< (...). Mit dem ständigen Verweis auf das Prinzip der >Leistungsgerechtigkeit< werden nicht nur die entscheidenden Karrierevorteile, die Bürgerkinder aufgrund ihrer Herkunft besitzen, vollkommen ignoriert, sondern es wird zugleich versucht, die daraus resultierenden, immer krasser werdenden Unterschiede in Macht und Einkommen öffentlichkeitswirksam zu legitimieren. Es geht also im Kern um nichts anderes als das, was Bottomore die Verteidigung der Interessen der >Oberklasse< nennt.“ (M. Hartmann 2004, a.a.O, S. 180f.)
[«20] Dies muss sich nicht auf eine alternative Wirtschaftspolitik beschränken, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit für eine alternative Wirtschaftsordnung, was heutzutage viel zu selten diskutiert wird, dazu: H. Conert 1999: Alternative Wirtschaftspolitik – alternative Wirtschaft, in: Sozialismus, Nr. 9; vgl. M Szameitat 2008: Kapitalismus, Krise & Keynes, in: Lunapark 21, Nr. 2, S. 37ff.
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