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Titel: 25 Jahre Lambsdorff-Papier – ein Konzept des Scheiterns und des Niedergangs
Datum: 7. September 2007 um 14:28 Uhr
Rubrik: „Lohnnebenkosten“, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Gedenktage/Jahrestage, Neoliberalismus und Monetarismus
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Am 9. September 1982 hat der damalige Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff sein „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ – den „Scheidebrief“ für die damalige sozialliberale Koalition – veröffentlicht. Die in diesem „Konzept“ beschriebene Analyse und die dort gemachten Lösungsvorschläge prägten in den letzten 25 Jahren bis hin zur Agenda 2010 mehr und mehr den politischen Kurs, sie beherrschten die öffentliche Debatte und lenkten den Mainstream der Medien. Ein Vierteljahrhundert lautet die Rezeptur immer nur: mehr „marktwirtschaftliche Politik“, „Konsoldierungskonzepte für die öffentlichen Haushalte“, „Anpassung der sozialen Sicherungssysteme“, „Verbilligung des Faktors Arbeit“.
Die Ergebnisse kennen wir. Jedem Scheitern der zahllosen „Strukturreformen“ folgte eine Erhöhung der „Reform“-Dosis. Seit Jahrzehnten werden immer nur die gleichen alten Rezepte propagiert. Das Lambsdorff-Papier belegt: Unsere „Modernisierer“ sind die eigentlichen „Traditionalisten“. Christoph Butterwegge schreibt in der taz über dieses „Drehbuch für den Sozialabbau“. Er stellt uns die Langfassung seines Aufsatzes zur Verfügung. Lesen Sie auch „Graf Lambsdorff als Stichwortgeber – Das meiste, was heute als modern gilt, ist uralt“.
Ein neoliberales Drehbuch für den Sozialabbau
Das sog. Lamsdorff-Papier leitete die „Wende“ ein
Von Christoph Butterwegge
Als die Arbeitslosenzahl während der Weltwirtschaftskrise 1974/75 zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Millionengrenze überschritt, gerieten die SPD/FDP-Koalition unter Willy Brandt sowie die 1969 von ihr eingeleitete Reformpolitik massiv unter Druck. Unter seinem Amtsnachfolger Helmut Schmidt begann ein Um- bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates, welcher bis heute anhält. Während der neuerlichen Wirtschaftskrise 1980 bis 1982 konnten sich die beiden Regierungsparteien nicht über das Tempo und die Tiefe der Einschnitte ins soziale Netz einigen. Da sich die SPD mit den weitreichenden FDP-Plänen schwertat, suchte Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher nach einer Möglichkeit, möglichst ohne Neuwahlen einen Regierungswechsel herbeizuführen.
In der mehrwöchigen Regierungskrise spielte ein Memorandum, das Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff am 9. September 1982 unter dem Titel „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ vorlegte, die Schlüsselrolle. Schmidt bezeichnete Lambsdorffs Denkschrift im Bundestag als „Dokument der Trennung“, das als Wegweiser zu anderen Mehrheiten diene: „Sie will in der Tat eine Wende, und zwar eine Abwendung vom demokratischen Sozialstaat im Sinne des Art. 20 unseres Grundgesetzes und eine Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft.“ Schmidt wurde drei Wochen später durch ein „konstruktives Misstrauensvotum“ gestürzt und Helmut Kohl zum Bundeskanzler einer CDU/CSU/FDP-Koalition gewählt.
Das sog. Lambsdorff-Papier war mehr als eine koalitionspolitische Scheidungsurkunde, denn damit errang der Neoliberalismus die Hegemonie, d.h. die öffentliche Meinungsführerschaft in der Bundesrepublik. Was den Marktradikalen bereits in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan gelungen war, schafften sie nach dem Regierungswechsel Schmidt/Kohl auch hierzulande: von der Fundamentalkritik am Interventionsstaat unter dem Beifall der Massenmedien zu einer rigorosen „Reform“-Politik überzugehen, die rückwärtsgewandt und modern zugleich ausfiel. Liest man es 25 Jahre später, wirft jenes Memorandum, das Staatssekretär Otto Schlecht und Abteilungsleiter Hans Tietmeyer für ihren freidemokratischen Wirtschaftsminister verfasst hatten, die Frage auf, ob es sich dabei nicht um das Drehbuch für die Regierungspolitik bis heute handelte. So sehr entsprechen zahlreiche Maßnahmen, die seither ergriffen wurden, dem dort niedergelegten Forderungskatalog.
Zu den erklärten Zielen des Memorandums gehörten eine spürbare Erhöhung der Kapitalerträge und eine „relative Verbilligung des Faktors Arbeit“ durch Senkung der Sozialleistungsquote. Dort wurde auch das neoliberale Dogma formuliert, wonach man die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber – in heutiger Diktion: die „gesetzlichen Lohnnebenkosten“ – verringern muss, um der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden. Notwendig und erfolgversprechend sei nur eine Politik, hieß es weiter, die der Wirtschaft im Rahmen eines in sich widerspruchsfreien Gesamtkonzepts, das auf mehrere Jahre angelegt sein müsse, durch Schaffung „möglichst günstiger“ Investititionsbedingungen wieder den „Glauben an die eigene Zukunft“ gebe. Ein solches Programm müsse der Bürokratisierung eine klare Absage erteilen. Während den Unternehmen eine „Verbesserung der Ertragsperspektiven“ und „in besonderen Fällen auch gezielte Hilfen“ versprochen wurden, ließ das Lambsdorff-Papier keinen Zweifel daran, dass sich die Arbeitnehmer/innen und Transferleistungsbezieher/innen künftig selbst helfen statt noch auf den Sozialstaat hoffen sollten. Man wollte einerseits die öffentlichen Ausgaben „von konsumtiver zu investiver Verwendung“ umstrukturieren und andererseits die sozialen Sicherungssysteme „an die veränderten Wachstumsmöglichkeiten“ anpassen sowie „der Eigeninitiative und der Selbstvorsorge wieder größeren Raum“ geben.
Abschließend stellte das Lambsdorff-Papier fest, im wirtschaftlichen und sozialen Bereich könne es gar keine wichtigere Aufgabe als die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Wachstumsförderung geben: „Wer eine solche Politik als ‚soziale Demontage‘ oder gar als ‚unsozial‘ diffamiert, verkennt, dass sie in Wirklichkeit der Gesundung und Erneuerung des wirtschaftlichen Fundaments für unser Sozialsystem dient. ‚Sozial unausgewogen‘ wäre dagegen eine Politik, die eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit und eine Finanzierungskrise der sozialen Sicherungssysteme zulässt, nur weil sie nicht den Mut aufbringt, die öffentlichen Finanzen nachhaltig zu ordnen und der Wirtschaft eine neue Perspektive für unternehmerischen Erfolg und damit für mehr Arbeitsplätze zu geben.“ Auch die Überschrift der Agenda 2010 „Mut zur Veränderung“ schimmerte also schon durch, und Gerhard Schröder wurde ebenso wenig wie Helmut Kohl müde, seine Reformen mit dem Argument zu rechtfertigen, diese hätten statt der Zerstörung gerade die Rettung des Wohlfahrtsstaates als Ziel. Als könne das Soziale in seiner Substanz erhalten werden, indem die (Regierungs-)Politik es abwertet und Stück für Stück zurückdrängt!
Von einer zeitlichen Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate über die Einführung eines „demografischen Faktors“ zur Beschränkung der Rentenhöhe („Berücksichtigung des steigenden Rentneranteils in der Rentenformel“) bis zur stärkeren Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen listete das Lambsdorff-Papier detailliert fast alle „sozialen Grausamkeiten“ auf, welche die der Regierung Schmidt folgenden Kabinette verwirklichten. Erst das „Hartz IV“ genannte Gesetzespaket der rot-grünen Koalition ging durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Absenkung des an ihre Stelle tretenden Arbeitslosengeldes II auf Sozialhilfeniveau über den damals provokativ wirkenden Forderungskatalog des FDP-Wirtschaftsministers hinaus. Aber auch hier wies der neoliberale „Marktgraf“ bereits den Weg: Lambsdorff forderte eine Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für Erwerbslose und eine Prüfung, ob die Arbeitslosenhilfe nicht von – man höre und staune – den Sozialämtern verwaltet werden könne. Selbst die erst in diesem Jahr von der Regierung Merkel/Müntefering durchgesetzte Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters (von 65 auf 67 Jahre) wurde schon im Lambsdorff-Papier als „einzige Möglichkeit, weiter steigender Belastung durch Steigerung der Lebenserwartung zu begegnen“, und längerfristig zu realisierende Maßnahme bezeichnet.
Hans Tietmeyer, Mitverfasser des Lambsdorff-Papiers, machte Karriere als Bundesbankpräsident und wurde später als Leiter des Kuratoriums der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), einer von den Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie mit 100 Mio. EUR finanzierten Lobbyeinrichtung, zum ideologischen Wegbereiter und kritischen Begleiter der rot-grünen Reformagenda. In einer Stellungnahme mit dem Titel „Dieser Sozialstaat ist unsozial. Nur mehr Freiheit schafft mehr Gerechtigkeit“ verkündete Tietmeyer 2001 das neoliberale Credo seiner Tätigkeit: „Es ist nicht sozial, sondern ungerecht, wenn leistungswilligen Sozialhilfeempfängern durch starre Regeln die Chance genommen wird, auf eigenen Beinen zu stehen. Es ist ebenso unsozial, die Menschen durch Dauersubventionen abhängig zu machen, statt ihre Eigeninitiative und Eigenvorsorge zu stärken. Es gefährdet schließlich den Wohlstand und die soziale Sicherheit aller, wenn der Standort Deutschland wegen mangelnder Flexibilität seine Wettbewerbsfähigkeit verliert.“
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und hat kürzlich das Buch „Kritik des Neoliberalismus“ veröffentlicht.
Siehe dazu auch: Graf Lambsdorff als Stichwortgeber – Das meiste, was heute als modern gilt, ist uralt.
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