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Titel: Graf Lambsdorff als Stichwortgeber – Das meiste, was heute als modern gilt, ist uralt.

Datum: 6. August 2004 um 10:43 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, Sozialstaat, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Seit über zwanzig Jahren immer nur dieselben Rezepte und nichts hat sich verbessert. Am 9. September 1982 hat der damalige Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff sein „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ – den „Scheidebrief“ für die damalige sozialliberale Koalition – veröffentlicht. Seit dieser Zeit wird Politik – manchmal mehr, manchmal weniger – nach dieser Rezeptur gemacht. Und dennoch haben sich die Staatsschuld und die Zahl der Arbeitslosen vervielfacht.

Vor einigen Tagen besuchte mich ein guter Freund – in den achtziger Jahren ein aktives FDP-Mitglied – und zeigte mir freudestrahlend einen Fund aus seinen im Keller ausgelagerten Akten. Es war das sog. Lambsdorff-Papier aus dem Herbst 1982. Ich hatte das Papier natürlich noch in lebendiger Erinnerung, zumal ich zu dieser Zeit im Bundeskanzleramt gearbeitet habe und es für uns alle damals ziemlich klar war, dass das der „Scheidebrief“ der FDP für die sozialliberale Koalition unter dem Kanzler Helmut Schmidt war.
Dennoch habe ich das Papier noch einmal aufmerksam gelesen und war dann doch überrascht und elektrisiert. Und zwar deshalb, weil es mir bei der Lektüre wie Schuppen von den Augen fiel, wie dieses „Konzept“ die politische Agenda der letzten zwanzig Jahre bis hin zur Agenda 2010 prägte und wie – z.T. bis hin zur Wortwahl – die dort beschriebene Analyse und die Lösungsvorschläge mehr und mehr die öffentliche Debatte und den Mainstream in den Medien heute beherrschen. Ich fand das spannend genug, diesen Text noch einmal auf den „NachDenkSeiten“ zu dokumentieren, damit sich unsere Leserinnen und Leser selbst davon überzeugen können, dass unsere heutigen „Modernisierer“ die eigentlichen „Traditionalisten“ sind und dass seit über zwanzig Jahren immer nur die gleichen Rezepte propagiert werden. Mit dem Ergebnis, dass sich die Arbeitslosigkeit von damals 1,8 Millionen mehr als verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht hat. Es heißt ja, dass der Mensch (jedenfalls auch) aus Erfahrung klug wird. Man fragt sich deshalb, wie es kommt, dass zwanzig Jahre schlechte Erfahrung mit einem politischen Konzept noch immer nicht genug sind?

Für den eiligen Leser einige Kostproben:

Schilderung der Ausgangslage:

Diese erneute Verschlechterung der Lage ist zum Teil Reflex von Vorgängen im internationalen Bereich (anhaltende Schwäche der Weltkonjunktur, ungewisse Konjunktur- und Zinsentwicklung in den USA, amerikanisch-europäische Kontroversen). Die gesamte Weltwirtschaft steht offensichtlich in einer hartnäckigen Stabilisierungs- und Anpassungskrise.“


S.3

Die gegenwärtig besonders deutliche Vertrauenskrise ist nicht kurzfristig entstanden. Sie muss im Zusammenhang mit tiefgreifenden gesamtwirtschaftlichen Veränderungen gesehen werden, die zwar zumeist schon in einem längeren Zeitraum eingetreten sind, deren volle Problematik aber teilweise erst in den letzten Jahren – nicht zuletzt mit den neuen internationalen Herausforderungen …- deutlich geworden sind. Es handelt sich hierbei vor allem um:

  • einen gravierenden Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Investitionsquote…
  • den besonders in der ersten Hälfte der 70er Jahre entstandenen starken Anstieg der Staatsquote (Anteil aller öffentlichen Ausgaben incl. Sozialversicherung am BSP), …dieser strukturelle Anstieg des Staatsanteils am Sozialprodukt ist ausschließlich zustande gekommen durch die überaus expansive Entwicklung der laufenden Ausgaben…,insbesondere für den öffentlichen Dienst, die Sozialleistungen (einschließlich Sozialversicherungsleistungen) und auch die Subventionen an Unternehmen…
  • den tendenziellen Anstieg der Abgabenquote (Anteil der Steuer- und Sozialabgaben am BSP) …; dieser Anstieg ist nahezu ausschließlich auf die Anhebung der Sozialbeiträge in der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung zurückzuführen…
  • den tendenziellen Anstieg der Kreditfinanzierungsquote der öffentlichen Haushalte (Anteil der öffentlichen Defizite am BSP)…Trotzt der bisherigen Konsolidierungsmaßnahmen dürfte der überwiegende Teil dieser Defizite struktureller und nicht konjunktureller Natur sein.“

S.3f.

Unabhängig davon, wie lange die internationale Wachstumsschwäche noch andauert, kann und muss deshalb in der Bundesrepublik das erforderliche Mindestmaß sozialer Anpassungsbereitschaft mobilisiert werden, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu stoppen und die Beschäftigungschancen eines neuen Wachstumsprozesses in der Weltwirtschaft auch tatsächlich nutzen zu können…“


S.4

Da die Wachstums-, Beschäftigungs- und Budgetprobleme in der Bundesrepublik nicht primär konjunktureller Natur sind…ist die Gefahr sehr groß, dass die Aufwärtsbewegung nur schwach…ausfällt. Sie wird jedenfalls aller Voraussicht nach allen nicht ausreichen, die derzeitigen und erst recht die für das nächsten Jahre (schon aufgrund der demographischen Entwicklung) abzeichnenden Arbeitsmarkt- und Finanzierungsprobleme zu lösen.“


S.4

Lösungskonzept:

Angesichts der Komplexität der Ursachen für die derzeitige Beschäftigungs- und Wachstumskrise gibt es sicherlich kein einfaches und kurzfristig wirkendes Patentrezept für ihre Überwindung. Wichtig ist aber, dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als politische Aufgabe Nummer 1 in den nächsten Jahren allgemein anerkannt wird und dass daraus die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Dieser vordringlichen Aufgabe haben sich andere Wünsche und Interessen unterzuordnen, mögen sie für sich betrachtet noch so wichtig erscheinen… Zwar wird allenthalben die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen gefordert. In Wirklichkeit werden aber von politischen und gesellschaftlichen Gruppen, von Verbänden und auch von Ressorts die jeweiligen Sonderinteressen nach wie vor immer wieder vorangestellt.


S.5

Ein solches zukunftsorientiertes Gesamtkonzept der Politik muss sich auf folgende Bereiche konzentrieren:

  1. Festlegung und Durchsetzung einer überzeugenden marktwirtschaftlichen Politik in allen Bereichen staatlichen Handelns mit einer klaren Absage an Bürokratisierung
  2. Festlegung und Durchsetzung eines mittelfristig angelegten …überzeugenden Konsolidierungskonzeptes für die öffentlichen Haushalte, das die Erhöhung der Gesamtabgabebelastung ausschließt
  3. Festlegung und Durchsetzung einer mittelfristig angelegten und möglichst gesetzlich abgesicherten Umstrukturierung der öffentlichen Ausgaben und Einnahmen von konsumtiver zu investiver Verwendung, um die private und öffentliche Investitionstätigkeit zu stärken und die wirtschaftliche Leistung wieder stärker zu belohnen.
  4. Festlegung und Durchsetzung einer Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die veränderten Wachstumsmöglichkeiten und eine längerfristige Sicherung ihrer Finanzierung (ohne Erhöhung der Gesamtabgabenbelastung), um das Vertrauen in die dauerhafte Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherung wieder herzustellen und zugleich der Eigeninitiative und der Selbstvorsorge wieder größeren Raum zu geben.“

S.5f.

Der Erfolg einer solchen Gesamtpolitik wird allerdings nicht zuletzt davon abhängen, ob die Lohnpolitik…die notwendige Verbesserung der Ertragsperspektiven sowie die relative Verbilligung des Faktors Arbeit zulässt. Sicherlich wird es bei einer solchen Politik zu Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften kommen, die sich auch negativ auf das Stimmungsbild auswirken können. Die Gewerkschaften selbst müssen jedoch vorrangig an einer Lösung der Beschäftigungsprobleme interessiert sein…“


S.6

Wer einer solchen Politik den – in der Sache unbegründeten – Vorwurf einer „sozialen Unausgewogenheit oder einer Politik „zu Lasten des kleinen Mannes“ macht, dem kann und muss entgegengehalten werden, dass nur eine solche Politik in der Lage ist, die wirtschaftliche Grundlage unseres bisherigen Wohlstandes zu sichern und die Wachstums- und Beschäftigungskrise allmählich und schrittweise zu überwinden. Die notwendigen Korrekturen müssen auch vor dem Hintergrund des außerordentlich starken Anstiegs der Sozialleistungsquote (Anteil der Sozialleistungen am BSP) in den letzten beiden Jahrzehnten gesehen werden. Die schlimmste soziale Unausgewogenheit wäre eine andauernde Arbeitslosigkeit von 2 Millionen Erwerbsfähigen oder gar noch mehr.


S.6

Einzelmaßnahmen: U.a.

Haushalt:

  • „Weitere Einschränkungen konsumtiver …Ausgaben…“(S.6)
  • „Begrenzung des Anstiegs der Beamtenbesoldung…“ (S.6)
  • „Abbau von Finanzhilfen (Subventionen) („linearer Abschlag von 5% bzw. 10%“)…“ (S.7)
  • „Verringerung des Leistungssatzes für Arbeitslosengeld am Anfang der Bezugsdauer (z.B. erste drei Monate nur 50% des letzten Nettoeinkommens)… Begrenzung des Arbeitslosengeldbezuges auf maximal 1 Jahr, auch bei Krankheit. …“ (S.7)
  • „Umstellung des BAFöG für Studenten auf (Voll-) Darlehen…“ (S.7)
  • „Investitions- und leistungsfördernde Steuerpolitik“
  • „Vermeidung eines Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Steuerlastquote…“
  • „Leistungs- und investitionsfreundliche Gestaltung des Steuersystems …(z.B. durch eine) schrittweise Abschaffung der Gewerbesteuer…“ (S.7)

„Konsolidierung der sozialen Sicherung sowie beschäftigungsfördernde Sozial- und Arbeitsmarktpolitik…

  • Dauerhafte Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme ohne Anhebung von Beiträgen bzw. Einführung von Abgaben
  • Stärkere Berücksichtigung der Prinzipien der Selbstvorsorge und Eigenbeteiligung sowie der Subsidiarität…
  • Erleichterung der Flexibilisierung der Arbeitszeit
  • Anhebung der Beteiligung der Rentner an den Kosten ihrer Krankenversicherung
  • Einführung eines kostendeckenden Abschlags bei der Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze…
  • Berücksichtigung des steigenden Rentneranteils in der Rentenformel…
  • Anhebung der Altersgrenze (einzige Möglichkeit, weiter steigender Belastung durch Steigerung der Lebenserwartung zu begegnen)
  • Ausbau der Selbstbeteiligung im Krankenversicherungsbereich… (S.8)
  • Mehrjährige Minderanpassung bzw. zeitweiliges Einfrieren der Regelsätze bei der Sozialhilfe… (S.9)
  • Überprüfung des für die Bemessung der Regelsätze relevanten Warenkorbs auf Angemessenheit…(S.9)
  • Strengere Regelung für die Zumutbarkeit einer dem Hilfesuchenden möglichen Arbeit…(S.9)
  • Überprüfung, ob nicht Arbeitslosenhilfe auch von Sozialämtern verwaltet werden soll…(S.9)
  • Keine Änderungen des Arbeitszeitrechts, welche die betriebliche Flexibilisierung einschränken…(S.9)
  • Keine Erweiterung des Kündigungsschutzrechtes…(S.9)

Abbau von unnötiger Reglementierung und Bürokratie in allen Breichen der Wirtschaft und stärkere Verlagerung bisher öffentlich angebotener Leistungen auf den privaten Bereich…“


S.10

Persönliche Schlussanmerkung:

Lesen Sie heute in den Wirtschaftsteilen unserer Zeitungen sehr viel anderes oder viel Neues? Man hat den Eindruck als hätten viele unserer Kommentatoren das Lambsdorff-Papier in ihrem Computer gespeichert und betätigten beim Abfassen ihrer Beiträge nur noch die Kopiertaste.
Befürworter der Agenda-Politik werden Lambsdorff vermutlich gerade zu „seherische“ Qualitäten bescheinigen.
Die praktische Erfahrung mit einer solchen Politik, die Lambsdorff selbst und mit ihm seine Partei, die während der gesamten Kohlära das Wirtschaftsressort besetzte, und diesen Kurs über sechzehn Jahre beharrlich verfolgte und in vielen Bereichen umsetzte, sprechen allerdings eine andere Sprache: Obwohl Jahr für Jahr die Dosierung dieser Rezeptur erhöht wurde, ist der „Patient“ krank und kränker geworden. Vernünftige Politiker hätten also schon längst den Arzt und die Rezepte gewechselt.

Quelle: Lambsdorff-Papier aus dem Jahre 1982 [PDF – 1.4 MB] »


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