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Titel: Philipp Rösler allein in seiner Welt – oder wie wirklich ist Röslers Wirklichkeit?
Datum: 23. April 2012 um 9:02 Uhr
Rubrik: FDP, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Steuern und Abgaben
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Wer es sich bisher noch nicht erklären konnte, warum die FDP zur Splitterpartei geschrumpft ist, der hätte sich nur die Rede des FDP-Vorsitzenden auf dem Bundesparteitag in Karlsruhe anhören müssen: Die FDP hat sich wie eine Sekte in eine Scheinwelt aufgebaut, die nahezu jeden Realitätsbezug verloren hat. Rösler sieht sich und seine Partei nur noch von politischen Teufeln umstellt, von leibhaftigen „Sozialdemokraten aller Parteien“. Überall wittert er einen „linken Zeitgeist“. Wenn Rösler in seiner länglichen Rede auf die Wirklichkeit zu sprechen kam, musste man den Eindruck gewinnen, er spricht über eine andere Welt. Von Wolfgang Lieb
Philipp Rösler konnte einem schon leidtun: Da musste er auf dem riesigen Podium in der kalten Atmosphäre der Karlsruher Messehalle ans Rednerpult, nachdem die beiden Landtagswahlkämpfer Wolfgang Kubicki aus Schleswig-Holstein – als Röslers neuer Duzfreund – und der wiederauferstandene Christian Lindner aus NRW im Stakkato ihre auf populistische Wirkung getesteten Wahlkampfparolen in den Saal gehämmert hatten – mit denen sie sich teilweise ganz offen vom sinkenden Parteischiff absetzten. Schon von der Körperhaltung und der Tonlage her, wirkte Rösler wie ein Hauptdarsteller im Theater, den die Komparsen an die Wand gespielt hatten. Immer wenn er merkte, dass ihm zu einem Thema nicht viel eingefallen war und niemand zu klatschen anfangen wollte, blies er in das Horn der „Freiheit“ – wie bei einem Hupkonzert unzählige Male.
Dabei hatte er sich offenbar vorgenommen, nach seinen bisherigen blässlichen Auftritten endlich einmal auf die Pauke zu hauen. Die Linken seien „Feinde der Freiheit“; die Sozialdemokraten könnten nur Schulden machen und könnten nicht mit Geld umgehen; die Grünen seien „neue Jakobiner“, selbsternannte Gutmenschen, intolerante „Eiferer einer ideologischen Lebensstildiktatur“; die Freiheit der Piraten sei die „Kostenfreiheit“ und sie seien eine „Linkspartei mit Internetanschluss“, ja er vergliche sie sogar mit somalischen Piraten; die Union misstraue der Freiheit und verharre im Besitzstandsdenken. „Objektiv“ habe man es nur noch mit „sozialdemokratischen Parteien“, mit einem „schwarz-rot-grünen Einheitsbrei“ zu tun. Die Freiheit sei einzig und allein nur noch bei der FDP. Er wollte den Deutschen geradezu aufnötigen, dass sie die FDP benötigen.
Da konstatiert Rösler einen fatalen Trend zu immer mehr „Gleichmacherei“. Und das in einer Zeit, in der die Ungleichheit weltweit zunimmt und das in einem Land in dem er und seine Partei Regierungsverantwortung tragen und wo die Ungleichheit stärker zugenommen hat, als in jedem anderen OECD-Land [PDF – 230 KB].
In einer Welt, in der die Finanzmärkte die Politik entmündigen und die schiere Gier das Gesetz des Handelns bestimmt, sieht sich Rösler als Kämpfer gegen Bevormundung von „Tugendwächtern“. In einem Land, indem seit Jahren vor allem auch von Röslers Partei der Sozialabbau vorangetrieben wurde, sieht er „ausufernde Sozialsysteme“. Trotz einer Politik, die den Staat durch Steuersenkungen ausgehungert hat und durch grundgesetzlich verankerte „Schuldenbremsen“ die wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit systematisch stranguliert wird, malt Rösler das Gespenst der „Staatswirtschaft“ an die Wand.
In einem Land, wo sich die Steuerausfälle seit dem Jahr 2000 durch Steuersenkungen auf annähernd 400 Milliarden aufaddiert haben [PDF – 82 KB], behauptet Rösler „noch nie waren die Steuern so hoch“.
Und angesichts solcher Zahlen redet Rösler – wie allerdings alle, die die katastrophalen Folgen der Finanzkrise umdeuten wollen – weiter ständig von der „Staatsschuldenkrise“. Trotz Schulden will er „die Mitte“ steuerlich entlasten. Dass von dem bisher vor allem von der FDP geforderten Abbau des „Mittelstandsbauchs“ vor allem die Spitzenverdiener profitieren kommt in Röslers Wirklichkeit natürlich nicht vor.
Der eher zähe und pflichtschuldige Beifall nach seiner 75-minütigen Rede machte deutlich, dass selbst die auf Zusammenhalt (vor den Landtagswahlen) eingeschworenen Parteitagsdelegierten, an die Wirklichkeit, die ihnen ihr Parteivorsitzender vorgaukelte nicht mehr glauben mögen.
Neben einer individualistischen Freiheit, die keine Voraussetzungen braucht und kennt, soll nun zusätzlich noch „Wachstum“ zum Alleinstellungsmerkmal der FDP werden. „Wachstum“, so prangt es auf allen Plakaten, wohl eher in der Hoffnung auf ein Wachstum der eigenen Partei. Nein, es soll nicht um „Familienwachstum“ oder „Haarwachstum“ gehen, wie Duzfreund Wolfgang Kubicki noch wenige Tage vor dem Parteitag spottete. Nein, Wachstum soll den „alten Traum vom Tellerwäscher zum Millionär wieder Wirklichkeit“ werden lassen, Wachstum schaffe Wohlstand, Zukunftschancen für Kinder, ermögliche soziale Sicherung, Chancen auf Aufstieg, gesellschaftlichen Fortschritt, Innovation, ja, Wachstum befreie überhaupt erst das Denken. Wachstum ist alles.
Einen undifferenzierten Wachstumsbegriff als Fetisch anzubeten, in einer Zeit in der das Wachstums sich auf die Spekulationssummen auf den Finanzmärkten verlagert hat, in der sich gezeigt hat, dass das Wachstum bei der Masse der Menschen nicht mehr ankommt, in der Wachstum an Ressourcen- und ökologische Grenzen stößt, das belegt, wie weit die FDP hinter der Zeit und hinter der Wirklichkeit herhinkt. Es ist wie die Hoffnung eines Glatzenträgers, der immer noch daran glaubt, dass die Haare wieder wachsen werden.
Die FDP ist stolz auf ihre Politik und lobt sich selbst über den grünen Klee. Doch eitler Stolz macht bekanntermaßen blind. So kann die FDP wohl vor lauter Stolz auch wohl nicht mehr erkennen, dass sie mit ihrer Politik in der Wählergunst unter den „sonstigen“ Parteien gelandet ist, die üblicherweise am Wahlabend gar nicht mehr genannt werden.
„Weiter so“ hielten die Delegierten vorgefertigte Schilder nach Röslers Rede etwas gequält in die Höhe. In ihrer Wirklichkeit haben sie und ihr umjubelter Parteivorsitzender offenbar immer noch nicht bemerkt, dass ihre Partei sich weiter im Sinkflug befindet und kurz vor dem Aufprall in der wirklichen Wirklichkeit ist.
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