Heute unter anderem zu folgenden Themen: Boom oder nicht; düsterer Sommer in USA; Juncker wirft Deutschland “Sozialdumping” vor; arbeitslos und krank; der nächste Rentenschock; Hartz-IV-Chipcard; Atomlobby spielt mit der Politik; täglich Schwabenstreiche; gestutzte Bankenkontrolle; Karlsruhe als Schutzpatron der Manager; Katastrophenkonzerne; Netzwerke; Justiz im „Sachsen-Sumpf“; gemeinnützige Bertelsmann Stiftung; Brodeln in der Gesellschaft; Freiheit-Gleichheit-Elite; arme Doktoranden; Krieg gegen den Terror schafft Terror; US-Einmischung in Lateinamerika; Du musst den Gürtel enger schnallen. (WL)
- Boom oder nicht, das ist die Frage
- Chinesische Verhältnisse in Deutschland
Auch sollte man die vorläufigen – und mangels Details wenig aussagekräftigen – Zahlen zum zweiten Quartal einmal im Kontext betrachten.
Denn trotz des sprunghaften Anstiegs der Wirtschaftsleistung liegt diese immer noch um 3,8 Prozent unterhalb jenes realen exponentiellen Trends, der zwischen der Wiedervereinigung und dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 vorgeherrscht hat. Dass der BIP-Deflator nur mit einer annualisierten Rate von 0,3 Prozent (0,7 Prozent zum Vorjahr) steigt, hat schon seinen Grund.
Vielleicht sollten die Volkswirte noch mal einen Blick auf die detaillierten BIP-Zahlen werfen, wenn diese am 24. August veröffentlich werden. Im ersten Quartal lag die um den Verbraucherpreisindex bereinigte Nettolohn- und Gehaltssumme um 5,5 Prozent unter dem Niveau von Anfang 1991. Zum Glück kann man in Sachen Reallöhnen noch nicht ganz von chinesischen Verhältnissen sprechen.
Quelle: FTD
- Kein Boom: Konsum lahmt weiter
Die Wirtschaft in Deutschland boomt – doch der private Konsum trägt nicht dazu bei. Im vergangenen Jahr war er durch die Abwrackprämie aufgebläht worden, die Deutschen hatten Autokäufe vorgezogen und geben nun weniger aus. Im Gesamtjahr 2010 dürfte der Konsum daher schrumpfen, trotz Arbeitsmarktwunder. Damit stellt sich die Frage: Kommt der Aufschwung auch bei den Arbeitnehmern an? (…) Ob der aktuelle Aufschwung bei den deutschen Arbeitnehmern letztlich die Konsumlaune steigert, hängt jedoch wesentlich von der Inflationsrate ab. Die Preissteigerungsrate dürfte dieses Jahr etwa ein Prozent betragen und 2011 zwischen 1,3 und 1,7 Prozent liegen. Die Tariflöhne steigen nach Prognosen 2010 und 2011 um jeweils etwa 1,5 Prozent. Die effektiv gezahlten Löhne hingegen legen schwächer zu. Das bedeutet: Real bleibt den Arbeitnehmern dieses Jahr unterm Strich wohl weniger in der Tasche als 2009. Und 2011 dürfte das Plus abermals mager ausfallen.
Wie es dann weitergeht, ist umstritten. Während die Commerzbank den Wirtschaftsaufschwung fortschreibt und hohe Lohnsteigerungen erwartet, ist Deutsche-Bank-Ökonom Mayer skeptisch: „Es wird schwierig bleiben“, sagte er der Frankfurter Rundschau. „Denn ab 2012 ist aufgrund der schwächeren Konjunktur und dem Zwang zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit wohl wieder Lohnmäßigung angesagt.“ Einen Konsum-Boom wird es also kaum geben. Damit hängt das deutsche Wachstum weiter am Export − weil stärkere binnenwirtschaftliche Impulse ausbleiben.
Quelle: FR
Anmerkung unseres Lesers G.K.: Schon während des letzten “Booms” (4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007) stieg zwar das kumulierte reale (d.h. inflationsbereinigte) Bruttoinlandsprodukt, die realen Arbeitnehmereinkommen und die realen staatlichen Transferzahlungen waren jedoch rückläufig, wie eine Analyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zeigt [PDF – 393 KB]:
- reales Bruttoinlandsprodukt: + 7%
- reale Lohn- und Gehaltssumme: -1,5% (je Arbeitnehmer: sogar -3,5%) – reale Transferzahlungen: -5,5%.
Hinter den stark rückläufigen realen Transferzahlungen verbergen sich die Nullrunden bei den nominalen Renten, stagnierende nominale Leistungen bei Kindergeld, BAföG und anderen staatlichen Leistungen. Nur zu einem geringen Teil hat auch die niedrigere Arbeitslosenzahl dazu beigetragen.
Vernachlässigt man das auch von der Frankfurter Rundschau übernommene Gerede vom aktuellen “Boom” und dem angeblichen “Arbeitsmarktwunder”, dann zeigt dieser Beitrag, dass auch in der aktuellen Erholungsphase der deutschen Wirtschaft der Druck auf die Arbeitnehmereinkommen mit hoher Wahrscheinlichkeit erhalten bleibt. Denn der von Deutschland ausgehende Druck auf die Löhne und Gehälter sowie die Sozialleistungen insbesondere in den übrigen Staaten der Eurozone wird von den hiesigen neoliberalen Kreisen höchstwahrscheinlich als Drohkulisse gegen die Arbeitnehmer und Gewerkschaften instrumentalisiert werden.
- Gedopter Superstar
Die deutsche Wirtschaft glänzt mit ihren Wachstumszahlen. Für den Aufschwung gibt es drei ineinandergreifende Erklärungen. (…) Dabei handelt es sich keineswegs um ein Wunder.
Die Kanzlerin hatte erstens das Glück, den richtigen Koalitionspartner im Winter 2008/09 zu haben, als sie gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück Konjunkturpolitik betrieb. Getreu den Lehren des größten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, wurde der Einbruch der Nachfrage mit höheren Staatsausgaben auf Pump bekämpft. Stichworte sind die Abwrackprämie, das extrem verlängerte Kurzarbeitergeld sowie zusätzliche Investitionen in Infrastruktur. Das hat prima funktioniert und ist der Beweis dafür, dass Nachfragepolitik durchaus wirken kann. Wenn überhaupt, dann ist es ein Wunder, dass die Politik ausnahmsweise nicht auf ihre neoliberalen Berater gehört hat und Keynes den Vortritt gelassen hat.
Zweitens hat das deutsche Konsensmodell, das oft kritisierte Gemauschel zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung, in der Krise seine Stärke unter Beweis gestellt. Es waren die Gewerkschaften, die erst die Arbeitgeber für längeres Kurzarbeitergeld und Abwrackprämie begeisterten und dann gemeinsam die Regierung überzeugten. Und es waren die Gewerkschaften, die es damit den Unternehmern erleichterten, Jobs zu sichern trotz des enormen Nachfrageeinbruchs.
Drittens und leider am wichtigsten für das starke zweite Quartal: Deutschland ist in der vergangenen Dekade zu einem sogenannten „kleinen, ganz offenen Land“ verkommen. So bezeichnen Volkswirte Länder, die stark vom Welthandel abhängen, für deren Wachstum der Gesundheitszustand der Weltwirtschaft entscheidend ist. Und die Weltwirtschaft war noch viel stärker durch Konjunkturpolitik à la Keynes gedopt als die deutsche Wirtschaft.
Damit ist das Märchen erzählt. Die deutsche Wirtschaft wird so bald nicht mehr so kräftig wachsen, weil weltweit die Konjunkturprogramme auslaufen.
Quelle: FR
Anmerkungen unseres Lesers G.K.: Zu Robert von Heusingers Einschätzungen einige Ergänzungen:
- Auch die SPD und vor allem Peer Steinbrück mussten im Herbst 2008 regelrecht zu einer keynesianisch ausgerichteten Konjunkturpolitik getragen werden. Richtig ist allerdings, dass unter einer schwarz-gelben Regierung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine adäquate Konjunkturpolitik zeitlich noch mehr verschleppt worden wäre. Darüber hinaus wäre das Volumen höchstwahrscheinlich zu mickrig ausgefallen, um einen noch stärkeren Wachstumseinbruch zu verhindern. Vor allem das öffentlichkeitswirksame Aufplustern des Bundeswirtschaftsministers Brüderle ist mehr als peinlich.
- Robert von Heusinger unterschätzt scheinbar die manipulativen und aufhübschenden Effekte der immer weniger aussagefähigen Arbeitslosenstatistik.
- Die von der Großen Koalition beschlossene Ausweitung der Kurzarbeiterregelung war eine sinnvolle Entscheidung, da hierdurch Qualifikationsverluste bei den Arbeitnehmern sowie eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung verhindert werden. Neoliberale Arbeitsmarktökonomen stehen dem jedoch sehr häufig ablehnend gegenüber, weil dies angeblich zu einer “Konservierung des Arbeitsmarktes” führe. Während die diversen Bundesregierungen in den vergangenen Jahren zum Vollstrecker neoliberaler Arbeitsmarktpolitik wurden (Stichwort: “Agenda 2010″), schlug man bei der Kurzarbeiter-Regelung den Rat der neoliberalen Arbeitsmarktökonomen aus. Der maßgebliche Grund dürfte der für die Politik angenehme statistische “Neben”-Effekt geschönter Arbeitslosendaten sein. (Zumal im Vorfeld der letzten Bundestagswahlen).
- Robert von Heusinger spricht sich gegen Steuererhöhungen aus. Für niedrige und mittlere Einkommen ist dies stimmig. Für hohe Einkommen und Vermögen hingegen wäre eine stärkere steuerliche Belastung sozial verantwortbar und ökonomisch sinnvoll. Siehe hierzu die “Hinweise des Tages vom 8. Juni 2010”, Ziffer 1a (“Rechnung ohne die Realität gemacht”).
- Amerika erlebt einen düsteren Sommer
Die Krise zeigt sich in den USA erneut mit aller Macht: Wer Geld übrig hat, der spart und lässt das Konsumieren sein. Ein Augenschein an der neuenglischen Küste bestätigt diese Einschätzung. An den weiten Sandstränden hat es zwar weiterhin Besucher. Aber in den Läden der Badeorte bleibt die Ware liegen, obwohl viele Besitzer bereits Rabatte von 50 Prozent und mehr anbieten. Die Zahlen bestätigen den subjektiven Eindruck. Seit dem Frühsommer sind die private Nachfrage und das Wirtschaftswachstum überall in den USA erlahmt, während die Arbeitslosigkeit im Juli erneut anstieg. Dabei führt die offizielle Quote von 9,5 Prozent in die Irre, da sie Arbeitsfähige ausklammert, die bei der Jobsuche aufgegeben haben. Von der miserablen Wirtschaftslage besonders betroffen sind neben Schwarzen und Latinos jugendliche US-Bürger, von denen jeder vierte arbeitslos ist. Dies ist der schlechteste Wert seit 1949. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist inzwischen so hoch wie während der Grossen Depression in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Quelle: NZZ
- Juncker wirft Deutschland “Sozialdumping” vor
Der Luxemburger Premierminister hatte schon im Frühling Lohnerhöhungen in Deutschland gefordert. Am vorigen Dienstag, beim großen Pressebriefing vor der Sommerpause, platzte Jean-Claude Juncker der Kragen. “Den Weg, wie Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert hat, würde ich in unserem Land nicht gerne gehen”, sagte Juncker unverblümt und warf der Bundesregierung ganz offen “Lohn- und Sozialdumping” vor.
Explizit verglich er die Lohnentwicklung der beiden Länder: Während die deutschen Arbeitnehmer seit Beginn der Währungsunion 1999 bis heute mit einer schmalen Lohnsteigerung von zwölf Prozent vorlieb nehmen mussten, konnten sich die Luxemburger über 41 Prozent mehr Geld freuen. Wenn man die Inflation mit einbezieht, so Juncker, “hat sich das Realeinkommen der deutschen Arbeitnehmer verschlechtert”. Schuld daran seien unter anderem die Hartz-Reformen, die “ganze Teile der Bevölkerung in den Niedriglohnsektor hinabgedrückt” hätten. “Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als 700 Euro im Monat”, regt sich Juncker auf.
Er wirft Deutschland vor, mit niedrigen Löhnen Profit auf Kosten anderer Länder zu machen und attackiert “eine Fehlentwicklung der deutschen Gesamtwirtschaft und der Tariflandschaft”.
Quelle: Luxemburger Wort
Anmerkung unseres Lesers G.K.: Die Kritik des Vorsitzenden der Eurogruppe und christdemokratischen luxemburgischen Premierministers Jean-Claude Juncker am deutschen Lohn- und Sozialdumping wurde von den deutschen Medien nahezu vollständig verschwiegen. Die konservative luxemburgische Zeitung “Luxemburger Wort” führt am Ende ihres Beitrags “Argumente” ins Feld, welche die Kritik Junckers zumindest teilweise entkräften sollen:
- Das “Luxemburger Wort” schreibt: “Bei der Bundesregierung sieht man das naturgemäß anders. “Die Lohnfindung in Deutschland ist nicht Sache der Politik, sondern der Sozialpartner”, sagt Heike Helfer, Sprecherin des Berliner Arbeitsministeriums.”
Es wird sowohl von der Zeitung “Luxemburger Wort” als auch von der Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums verschwiegen, dass vor allem die “Agenda 2010” (insbesondere Hartz IV) sowie der von den deutschen Mainstream-Medien und von neoliberalen deutschen Wirtschafts-“Experten” seit vielen Jahren erzeugte massive Druck auf die deutschen Arbeitnehmer und Gewerkschaften das hiesige Lohn- und Sozialdumping erst möglich gemacht haben: “Lohnzurückhaltung”, ansonsten Androhung von Arbeitsplatzabbau.
- Die konservative luxemburgische Zeitung schreibt unter Bezugnahme auf die Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums:
“Außerdem hätten die Reformen am deutschen Arbeitsmarkt zu mehr beschäftigungspolitischer Dynamik geführt. „Sie haben die Eintrittsschwellen in den Arbeitsmarkt gesenkt und mehr Menschen in Arbeit gebracht”, ist man sich in Berlin sicher.”
Diese Aussage verschweigt, dass die sog. “beschäftigungspolitische Dynamik” zu einer massiven Qualitätsverschlechterung der Arbeitsplätze geführt hat: Umwandlung von ehemals zeitlich unbefristeten sowie hinreichend entlohnten Vollzeit-Arbeitsplätzen in zumeist prekäre Mini- und Teilzeitjobs, befristete Arbeitsverhältnisse und Leiharbeitsplätze. Diese massive Qualitätsverschlechterung der Arbeitsplätze hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Deutschland europaweit mittlerweile den höchsten prozentualen Anteil der im Niedriglohnsektor beschäftigten Arbeitnehmer aufweist. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass das seit 2006 von den hiesigen Medien immer wieder hochgejubelte angebliche “Jobwunder” in nicht geringem Maße auf statistische Tricks und statistische “Bereinigungen” zurückzuführen ist. Siehe hierzu die NachDenkSeiten-Beiträge “Das angebliche Jobwunder” sowie “Statistisches Bundesamt: Rund neun Millionen Menschen wünschen sich (mehr) Arbeit”.
Die deutschen Lohnstückkosten sind lt. europäischer Statistikbehörde Eurostat im Zeitraum 2000 bis 2009 um magere 7% angestiegen (Staaten der Eurozone ohne Deutschland: +29%). Selbst unter Berücksichtigung der im internationalen Vergleich niedrigen Zielinflationsrate der EZB (1,9%) wäre ein Anstieg der deutschen Lohnstückkosten um 19% nicht nur stabilitätskonform, sondern ökonomisch sogar geboten gewesen.
- Die luxemburgische Zeitung schreibt:
“In der deutschen Öffentlichkeit ist es unbestritten, dass der Konsum im Lande zu gering ist. Doch die Gleichung höhere Löhne – mehr Konsum muss nicht unbedingt aufgehen. Grund dafür ist, dass die Deutschen einen vergleichsweise hohen Teil ihres Einkommens sparen.”
Nicht “die” Deutschen sparen einen vergleichsweise hohen Teil ihres Einkommens, wie auch hierzulande von den politisch Verantwortlichen und den Mainstream-Medien immer wieder suggeriert wird. Dies zeigt die nachfolgende Grafik auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes zur Höhe der Sparquoten in Abhängigkeit von der Höhe der Haushaltsnettoeinkommen:
Die Sparquoten betragen bei monatlichen Haushaltsnettoeinkommen
- unter 900 € -12,8%
- bis 1.300 € -0,5%
- bis 1.500 € +1,2%
- bis 2.000 € +2,6%
- bis 2.600 € +5,2%
- bis 3.600 € +9,6%
- bis 5.000 € +14,1%
- bis 18.600 € +21,8%.
Die Sparquoten für Haushaltsnettoeinkommen oberhalb 18.500 € werden vom Statistischen Bundesamt nicht berichtet. Diese dürfte noch deutlich oberhalb der hier ausgewiesenen maximalen Sparquote (21,8% bei einem Haushaltsnettoeinkommen von 18.600 €) liegen.
Für die Haushalte mit monatlichen Nettoeinkommen unterhalb 1.300 € weist das Statistische Bundesamt sogar negative Sparquoten auf, d.h. bei diesen Haushalten wächst Monat für Monat der Schuldenberg. Bei einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von 2.000 € beträgt die monatliche Ersparnis gerade einmal 26 €. Die monatliche Ersparnis erhöht bei einem Haushaltsnettoeinkommen von 2.600 € auf 135 €. Bei einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen in Höhe von 18.600 € steigt die monatliche Ersparnis auf beträchtliche 4.055 €.
Die Ausbreitung des Niedriglohnsektors sowie die damit im Zusammenhang stehende Zunahme bei der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen führt in der Konsequenz zu einem Ansteigen der durchschnittlichen Sparquote, wovon allerdings “die” Deutschen bei weitem nicht gleichermaßen profitieren. Neoliberale Interessenvertreter reklamieren den importdämpfenden Effekt der hohen deutschen Ersparnisse, obwohl hierfür doch maßgeblich die aus der Ideologie resultierende zunehmende Einkommens- und Vermögenskonzentration verantwortlich ist. Vor diesem Hintergrund kann man die vom “Luxemburger Wort” wiedergegebene Aussage eines deutschen Politikers nur als zynisch betrachten:
“So gab kürzlich ein deutscher Minister zu bedenken, man könne schließlich die Menschen nicht per Gesetz zwingen, ihr Geld auszugeben.”
- Das konservative “Luxemburger Wort” schreibt:
“Davon abgesehen passt eine Tatsache nicht ins Bild des Nachbarlandes, das sich auf Kosten seiner Handelspartner bereichert: Im Gleichschritt mit den Exporten sind auch die Importe gestiegen. Deutschland führt derzeit so viele Güter ein wie noch nie seit Beginn der Außenhandelsstatistik.”
Diese Aussage verschleiert die Fakten: Entscheidend dafür, ob die Exporte einen Beitrag zum BIP-Wachstum leisten, ist der Außenhandelssaldo, also der Differenzbetrag aus Export und Import. Der Außenhandel kann somit nur dann einen positiven Wachstumsbeitrag zum BIP leisten, wenn der absolute Differenzbetrag zwischen Exporten und Importen (der Außenhandelsüberschuss) den Vorjahreswert übersteigt. Schon im ersten Quartal 2010 resultierte nahezu das gesamte deutsche BIP-Wachstum aus der Zunahme des Außenhandelsüberschusses gegenüber dem Vorjahresquartal. Im Umkehrschluss heißt dies jedoch, dass sich das Wachstum der Auslandsverschuldung gegenüber Deutschland bei den unter Außenhandelsdefiziten leidenden Staaten im Vergleich zum Vorjahr weiter beschleunigt hat.
Fazit: Es ist bezeichnend für die hiesigen Mainstream-Medien, dass sie die deutliche Kritik des Vorsitzenden der Eurogruppe und christdemokratischen luxemburgischen Premierministers Jean-Claude Juncker am lohn- und sozialdumpingbasierten deutschen “Exportmodell” nahezu vollständig verschwiegen haben. Und: Der Artikel des konservativen “Luxemburger Worts” ähnelt hinsichtlich der Rechtfertigungsversuche der deutschen Exportmanie der Taktik des überwiegenden Teils der deutschen Medien. Aufbauend auf diesen Rechtfertigungsversuchen sollen dann insbesondere in den übrigen Staaten der Eurozone “Reformen” nach deutschem Muster durchgedrückt werden (Arbeitsmarkt-“Reformen”, “Lohnzurückhaltung”, “Rente mit 67” etc.). Sobald die Löhne und Gehälter sowie die sozialen Leistungen in den übrigen Eurozonen-Staaten unter Druck geraten, werden die hiesigen neoliberalen “Wirtschaftsexperten”, Medien und Wirtschaftslobbyisten gegenüber den deutschen Arbeitnehmern und Gewerkschaften neues Drohpotenzial aufbauen, frei nach dem Motto: “Wenn wir uns von den `maßvollen´ Lohnabschlüssen der vergangenen Jahre verabschieden und den Sozialstaat nicht `reformieren´, dann sind hierzulande die Arbeitsplätze in Gefahr”.
- Arbeitslos und krank
Für die Arbeitgeber war die Entwicklung erfreulich. Im Vergleich zu den 70er-Jahren fehlen die Beschäftigten deutlich seltener wegen Krankheit am Arbeitsplatz. Erschreckend ist dagegen der Gesundheitszustand der Arbeitslosen, wie eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zeigt. Demnach sind Arbeitssuchende je nach Altersgruppe gut doppelt so häufig krank wie Erwerbstätige.
„Arbeitslos zu werden, ist für viele Menschen ein Schicksalsschlag. Und je länger die Arbeitslosigkeit dauert und je geringer die Perspektiven auf einen Wiedereinstieg sind, desto belastender wird die Situation für die Betroffenen und ihre Familien“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach der Frankfurter Rundschau. Dies schlägt sich in einem hohen Krankenstand nieder. Bereits in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen ist der Krankenstand bei Beschäftigten deutlich niedriger (drei Prozent) als bei Arbeitssuchenden (4,4 Prozent). Diese Differenz wird mit zunehmendem Alter größer. In der Gruppe der 55- bis 59-Jährigen sind Erwerbslose etwa d 2,2 Mal so häufig krank wie Menschen mit Job. Ihre Krankenstandsquote beläuft sich auf 15,2 Prozent.
Quelle: FR
- Den Deutschen droht der nächste Rentenschock
Dilemma für Sparer: Die Rente wirft immer weniger ab und jetzt wackelt auch noch der Garantiezins der Lebensversicherung.
1986 pflasterte Norbert Blüm die Republik mit Plakaten: 60 Millionen Deutsche sollten wissen, dass die Rente sicher ist. Doch der Sozialminister lag daneben. Um ihren Wohlstand im Alter zu sichern, sahen sich viele Bundesbürger deshalb gezwungen, zusätzlich vorzusorgen.
Millionfach legten sie sich seit den Neunzigerjahren eine Lebensversicherung zu, manche sogar zwei oder mehr Policen. Fast 25 Millionen neue Verträge wurden geschlossen.
Die Versicherungen konnten glaubhaft machen, dass diese Form der Altersvorsorge sicher sei. Heute schlummern in deutschen Schubladen und Aktenordnern fast 100 Millionen Lebenspolicen mit einer Versicherungssumme von sagenhaften 2,5 Billionen Euro. Nun folgt der nächste Rentenschock. Mit jedem neuen Kontoauszug, den die Assekuranzen verschicken, bekommen die Kunden schwarz auf weiß: Auch hier sind die einst in Aussicht gestellten Rentensummen alles andere als sicher.
Quelle: WELT
Anmerkung E.H.: Eine zusätzliche private Altersversorgung lohnt sich doch nur, wenn es keine bessere Alternative gibt. Wählen wir einmal die naheliegendste Alternative: die Einzahlung der zusätzlichen Sparbeträge in die – propagandistisch madig gemachte – gesetzliche Rentenversicherung. Dafür wählen wir einen alleinstehenden 30-Jährigen, der 35 Jahre lang einmal in eine Riester-Rente und als Alternative in die Deutsche Rentenversicherung monatlich 100 € einzahlen würde. Wie sieht der Vergleich aus?
Bei einem besseren deutschen Versicherungsunternehmen wird eine garantierte Riester-Rente von 201 € fällig. Hiervon muss aber der Nachteil, bedingt durch die Riester-Rente, abgezogen werden, denn durch den sog. Riester-Faktor reduziert sich die gesetzliche Rente um 54 €, wenn der 30-Jährige sein Bruttogehalt von 30.000 € beibehält.
Letztendlich ergibt das Zurücklegen von monatlich 100 € einen effektiven Rentenmehrertrag (vor Steuern) von 147 € im Alter von 65 Jahren. Wie hoch in 35 Jahren die Kaufkraft ist, sollte eigentlich allen Riester-Sparern bekannt sein, genauso das Kapitalanlagerisiko in den nächsten Jahrzehnten. Für ein paar Brosamen wird es wohl reichen, denken viele. Von einer rentablen Geldanlage kann man aber nicht sprechen.
Der 30-Jährige erzielt sogar eine negative Rendite, wenn er einen dynamischen Job mit jährlichen Gehaltssteigerungen von etwa 5% hat, denn dann ist die Rentenkürzung bei der GRV aufgrund des Riester-Faktors größer als die garantierte Riester-Rente bei konstant gehaltenen Riester-Beiträgen. Man sieht, dass der Riester-Faktor ganz schön unterschätzt wird. Wenn der Sparer nachrechnet, würde er deprimiert erkennen, dass die 100 € jeden Monat aufgrund politischer Entscheidungen irgendwie verschwinden, nachdem zuvor ein Teil davon an die Vermittler und Aktionäre verjuxt wurde. Basta. Der Riester-Sparer kann die großzügige Spende wenigstens von der Steuer absetzen. Früher nannte man so etwas “Grauer Kapitalmarkt”, wo wertlose Schiffsbeteiligungen von der Steuer abgesetzt werden konnten.
Die Herren Rürup, Raffelhüschen und die anderen werbenden Mietprofessoren haben hier ganze Arbeit für ihre Auftraggeber, die Banken/Versicherungslobby, geleistet. Den langfristigen Schaden tragen eindeutig die gutgläubigen Arbeitnehmer, die nicht bei privaten Versicherern oder Banken angestellt sind.
Ganz anders sieht die Rendite bei der gesetzlichen Rentenversicherung aus. Als Alternative hätten die von uns (und nicht von der Versicherungslobby) gewählten Parlamentarier die Zuführung der sog. Riester-Rentenbeiträge in die gesetzliche Rentenversicherung beschließen können. Nein, sie hätten sie beschließen müssen, denn der effektive Rentenmehrertrag (vor Steuern) beträgt 211 €, wenn die Zulagen gleich behandelt werden. Hinzu kommen noch die gesetzlichen Rentenerhöhungen in den nächsten 35 Jahren.
Eindeutiger Sieger ist die gesetzliche Rentenversicherung gegenüber der kostenträchtigen Riester-Rente – und das trotz der unendlichen, bewusst gewollten Kürzungsorgien seit Blüm, CDU. Besonderen Dank verdienen seine SPD-Nachfolger, allesamt mit bekannten Namen, die in diesen Tagen für die Rente ab 67 trommeln als mediale Klinkenputzer für die Versicherungsgesellschaften.
- Die Wirklichkeit der Zusatzbeiträge zur Krankenversicherung
Eine persönliche Erfahrung unseres jungen Lesers F.R.:
Ich bin 23 Jahre und im dritten Lehrjahr als Industriemechaniker beschäftigt. Ich wohne leider noch bei meinen Eltern, da ich keinen Zuschuss bekomme (erst ab 25 Jahren!!!)
Bei der DAK bin ich krankenversichert. Da ich ein geringes Einkommen von 335,- Euro Netto monatlich habe … und meine Eltern als Rentner an der Grenze zur Armut leben, wurde von mir nicht der monatliche Zusatzbeitrag von 8,00 Euro entrichtet. Ich bin in den Widerspruch gegangen. Heute kam die Antwort vom Widerspruchsausschuss:
“Da der Zusatzbeitrag auf 8,00 Euro monatlich festgesetzt wurde, gilt er für alle Mitglieder unabhängig von der Höhe ihrer Einnahmen. Ausnahmen sind nicht möglich; auch dann nicht, wenn die monatliche beitragspflichten Einnahmen wie bei Ihnen niedriger als 800,00 Euro sind.”
Unter diesem Eindruck schreibe ich Ihnen diese Zeilen, denn der Entscheid ist unmenschlich. Andere Kassen verfahren bei so einem geringen Einkommen meines Wissens nach ganz anders.
Für mich ist der einseitig erhobene Zusatzbeitrag nicht mit unserem Grundgesetz vereinbar. Der Gedanke eines im Grundgesetz verankerten Sozialstaates wird durch einseitige Belastung des Versicherten und auch ohne Differenzierung nach Einkommen in Frage gestellt. Im Übrigen betrifft dies auch aus meiner Sicht den Beitrag in Höhe von 0,9 %, den der Versicherte mehr als ein Arbeitgeber oder der Rentenversicherungsträger zahlen muss.
Für mich ist unvorstellbar, dass der Vorsitzende der DAK mit vermutlich 18.000,- Euro Monatsgehalt ebenso nur 8,00 Euro Zusatzbeitrag wie ich mit 335,- Euro Lehrgeld zahlen muss.
Die starken Schultern müssen in einer gerechten Gesellschaft mehr tragen wie die schwachen. Wieso wird dieses Prinzip durch die Bundesregierung aufgegeben? Die Vorgehensweise wurde vom Bundesversicherungsamt genehmigt?
- Hartz-IV-Chipcard
Spätestens seit sich ein Auslandskorrespondent der Frankfurter Rundschau vergeblich nach einer „erfolgreich eingeführten“ Chipkarte für Sozialhilfeempfänger in Schweden umgesehen hat, reißt die Kritik an der Hartz-IV-Chipcard von Sozialministerin von der Leyen nicht mehr ab. Nach der Schwedenlüge wurde kurzerhand Stuttgart als Geburtsstätte der „Familienkarte“ ausgerufen. Doch wer wirklich hinter dem Stuttgarter Modell steht und mit den ohnehin dürftigen Bildungschancen von 1,77 Mio. Kindern aus präkarisierten Familienverhältnissen ab 2011 einträgliche Geschäfte machen darf, verschweigt das Sozialministerium. Aus gutem Grund? Es ist der französische Privatisierungsmulti SODEXO, der mit der Privatisierung von Haftanstalten und einem makabren Handel mit Gefängnisinsassen nicht nur in USA Milliarden verdient.
Quelle: gegen-stimmen.de
Anmerkung WL: Interessant ist auch der Hinweis von Joachim Weiss auf das gescheiterte Experiment in Berlin mit einer Sodexo Chipkarte für Asylbewerber schon vor 7 Jahren, als sich herausstellte, dass damit mehr Geld für die Provision an dieses Unternehmen bezahlt werden mussten, als wenn die Hilfe an Asylbewerber bar ausgezahlt wurde.
- Atomlobby spielt mit der Politik
- Angedrohte AKW-Abschaltung gefällt Greenpeace
Atomkonzerne haben mit der Abschaltung von Kernkraftwerken gedroht. Laut Greenpeace hätte das aber gar keine Auswirkung auf die Stromversorgung.
Die Drohung der Atomkonzerne, bei Einführung einer Brennelementesteuer Kernkraftwerke sofort stillzulegen, ist nach Greenpeace-Berechnungen eine leere. Auch ohne die sieben ältesten Meiler und den nicht produzierenden Pannen-Reaktor Krümmel werde es keinen Strommangel geben, erklärte die Umweltorganisation am unter Berufung auf Berechnungen des Aachener Instituts EUtech.
Die Werke trügen nur noch zu 5,4 Prozent zur Versorgung bei. Die übrigen neun moderneren Atommeiler könnten bis zum Jahr 2015 abgeschaltet werden.
Nach den Greenpeace-Zahlen exportiert Deutschland zudem knapp die Hälfte der von den acht sofort abschaltbaren Atomkraftwerken produzierten Strommenge ins Ausland. Die Erneuerbaren Energien trügen bereits mehr als 16 Prozent zur Stromproduktion bei. Mit Blick auf die Abschaltungsdrohung der Konzerne sagte der Greenpeace-Atomexperte Tobias
Münchmeyer: „Das ist keine Drohung, sondern eine gute Nachricht.“
Quelle: WELT
- Der direkte Draht ins Kanzleramt
Kaum angedacht, schon von der Energielobby abgeschossen: das Bundesfinanzministerium plante eine neue Steuer für in Kraftwerken verfeuerte Kohle. “Nach Informationen des Handelsblattes aus Regierungskreisen hat die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), Hildegard Müller, am Mittwoch nachmittag selbst zum Telefonhörer gegriffen, um das Thema durch einen Anruf im Bundeskanzleramt aus der Welt zu schaffen. Dort sei rasch emntschieden [sic] worden, den Finanzminister zurückzupfeifen”, berichtet das Handelsblatt. Einen prägnanteres Beispiel für die Problematik von Seitenwechseln könnte die Politik kaum liefern. Denn Hildegard Müller war bis 2008 selbst Staatsministerin im Kanzleramt und galt als enge Merkel-Vertraute. LobbyControl hat ihren nahtlosen Wechsel in einen Lobbyjob damals scharf kritisiert. Mit dem Einwerben ehemaliger Entscheidungsträger kaufen sich finanzstarke Lobbygruppen ihre Netzwerke und ihr Insider-Wissen – zu ihrem direkten Vorteil, wie das aktuelle Beispiel zeigt. LobbyControl fordert deshalb eine dreijährige Sperrfrist (Karenzzeit), bevor Politiker Lobby-Tätigkeiten übernehmen dürfen.
Quelle: LobbyControl
- Täglich Schwabenstreiche
Mit dem Abriss der beiden Seitenflügel des Stuttgarter Bahnhofs könnte begonnen werden, rechtlich steht dem nichts mehr im Wege. Doch grosse Teile der Bevölkerung laufen Sturm, der Bürgermeister (CDU) beklagt Diffamierungen, die grüne Partei als Gegnerin des Projekts ist im Stimmungshoch. Worum geht es?
Vieles ist triftig, was die Gegner von «Stuttgart 21» gegen das Projekt einwenden, zumal dessen verkehrstechnische Seite wirkt unausgegoren. Auch die Risiken für Stuttgarts Mineralwasserquellen, das zweitgrösste Vorkommen in Europa, sind nicht von der Hand zu weisen. Die Mitsprache der Bürger wurde in einer Weise ausgehebelt, wie dies in der Schweiz unmöglich wäre. Aber die stadtplanerische Idee, Stuttgart durch den Gewinn des Gleisfelds baulich nach innen zu verdichten, anstatt die Zersiedlung auf der grünen Wiese weiter zu fördern, bleibt bestechend. In der Hitze des Gefechts, zu welchem der harsche Streit um den Neubau geworden ist, könnte Folgendes passieren: Der Nord- und der Südflügel des Bonatz-Baues werden abgerissen, weil die unter Druck stehende Deutsche Bahn glaubt, Fakten schaffen zu müssen – die Trassees und Tunnels aber, das Liniennetz, das den eigentlichen Sinn von «Stuttgart 21» ausmacht, wird nicht realisiert. Das wäre dann kein Schwaben-, sondern ein Schildbürgerstreich.
Quelle: NZZ
Anmerkung Orlando Pascheit: Ein den Gegnern des Projekts vielleicht zu ausgewogener Artikel, dennoch lesenswert.
Dazu passt:
In die falsche Richtung
Der Staat gibt Milliarden für unsinnige Schienenprojekte aus, kritisiert das Umweltbundesamt. Vor allem die ICE-Trasse von Leipzig nach München sowie der Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs hätten für den Güterverkehr keinen Nutzen.
Quelle: Tagesspiegel
- Rudolf Hickel: Gestutzte Bankenkontrolle
Dem Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht wurde deshalb vom G20-Gipfel der Auftrag erteilt, Empfehlungen für einen ausreichenden Risikopuffer auszuarbeiten. Diesem Gremium der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich gehören Vertreter aus 27 Staaten an. In dieser neuen, Ende 2009 gestarteten Runde unter dem Etikett »Basel III« geht es um Mindestanforderungen, die nach den unterschiedlichen Risiken von Bankgeschäften einzuhalten sind. Auch Regelungen zur Bonitätsprüfung von Kreditkunden sowie zur Früherkennung von Bankenmissmanagement gehören dazu.
Das erste Empfehlungspaket rief massive Proteste durch die großen Finanzhäuser unter aktiver Mitwirkung der Deutschen Bank hervor. Die Finanzmarktaufseher kuschten mal wieder vor der machtvollen Interessenpolitik, wobei Deutschland eine skandalöse Führungsrolle übernahm. Die Vertreter der Bundesbank sowie der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ließen sich mit ihrem Veto gegen die ursprünglichen Empfehlungen vor den Karren von Ackermann und Co. spannen.
Einer Studie des Investmenthauses JP Morgan Chase zufolge konnte durch die hinterhältige Lobbyarbeit die Belastung gegenüber den ursprünglichen Empfehlungen zur Eigenkapitalvorsorge von 263 Milliarden auf 93 Milliarden US-Dollar gesenkt werden. Wichtige Instrumente zur künftigen Verhinderung von Bankenkrisen sind nun verwässert worden: Beim Kernkapital, mit dem laufende Verluste aus Risikogeschäften zu decken sind, wurden neben Stammaktien und einbehaltenen Gewinnen zusätzliche Posten aufgenommen (etwa Steuergutschriften, immaterielle Vermögenswerte, die stärkere Anrechnung des
Eigenkapitals der Banktöchter). Besonders ärgerlich ist der Erfolg der Bankenlobby bei der Aufweichung der geplanten Höchstverschuldungsgrenze; die Schuldenfinanzierung hatte die jüngste Finanzmarktkrise maßgeblich mitverursacht. Eine verbindliche Regel der Kreditbeschränkung durch die Finanzaufseher ist auf 2018 vertagt worden.
Um künftig Finanzmarktkrisen unmöglich zu machen, müsste die Macht der Banken demontiert werden. Erste Schritte zur Rückkehr zu dienenden Banken wären die Trennung des Kredit- und Einlagengeschäftes vom riskanten Investmentbanking sowie das Verbot stark kreditfinanzierter, hochriskanter Spekulationsgeschäfte.
Quelle: Neues Deutschland
- Genosse der Bosse: Manager haben neuen Schutzpatron in Karlsruhe
Gerettet hat Klaus Landowsky eine alte römische Rechtsregel, die er als Jurastudent an der Freien Universität kennengelernt haben dürfte: Nulla poena sine lege, keine Strafe ohne Gesetz. Sein Handeln war falsch, doch womöglich verletzte es kein Strafgesetz. Nun freut sich der Mann, der nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts übergangsweise wieder als unschuldig gilt. Und nicht nur sich hat er einen Gefallen getan. Jeder, der mit viel Geld umgeht, das ihm nicht gehört, kann sich sicherer fühlen.
Die Karlsruher Richter haben nichts anderes getan als das, was die Gerichte seit Jahren tun. Sie haben die Voraussetzungen für Untreue-Verurteilungen präzisiert. Eine leichtfertige Kreditvergabe beispielsweise ist erst strafbar, wenn das anvertraute Vermögen dadurch konkret und messbar beschädigt wird – und der Täter dies zum Zeitpunkt der Kreditvergabe weiß und will. Denn hinterher sind alle schlauer. Deshalb wäre es wohlfeil, jedem Bankmanager einen Prozess zu machen, weil ein Kredit geplatzt ist. Im Einzelfall wird der Nachweis künftig schwieriger, eine solche notwendigerweise sehr theoretische Schadensermittlung ist Expertensache. Die Richter müssen dazulernen und öfter externe Gutachter heranziehen. Aber das ist nötig, um den unscharfen Untreue-Tatbestand auf Fälle echten Unrechts zu begrenzen. Bloße Misswirtschaft ist straflos.
Quelle: Tagesspiegel
Anmerkung WL: Wenn also eine Bank mit Billigung des Aufsichtsrats z.B. ihre faule Papiere weitergereicht hat und der Schaden erst bei einer anderen Bank eingetreten ist, dann ist das keine Untreue sondern cleveres Verhalten. Im Übrigen betrifft dieses Urteil nur einen einzelnen Fall das Berliner Bankenskandals. Die juristische Aufarbeitung des Bankenskandals läuft noch, aber das Land Berlin ist durch die Kapitalzuführung von 1,7 Milliarden Euro sowie durch die Übernahme von bis zu 21,6 Milliarden Euro an Immobilienrisiken mittlerweile finanziell stark belastet. Aber man muss befürchten, dass diese Aufarbeitung im Sande verläuft, wie in vergleichbaren Fällen auch.
- Katastrophenkonzerne
Einige Firmen haben gewaltige Zerstörungen angerichtet und Menschen auf dem Gewissen. Warum existieren sie noch?
Konzerne sterben nicht: nicht Exxon, nicht Bayer, nicht Wyeth (…). Am härtesten trifft es Unternehmen noch, wenn sie sich eine Schadensersatzklage einhandeln, und ganz besonders, wenn US-amerikanisches Zivilrecht zur Anwendung kommt. Exxon zahlte für die Ölpest, die ein Tankerunglück 1989 in Alaska auslöste, rund eine Milliarde Dollar an die Betroffenen. Doch was ist eine Milliarde für einen Konzern, der zwischen April und Juni rund 7,5 Milliarden Dollar Gewinn gemacht hat?
Oder Bayer. Mehr als 14.000 Menschen sahen sich vor zehn Jahren durch einen Cholesterin-Senker namens Lipobay geschädigt. Auch Todesfälle wurden mit dem Medikament in Verbindung gebracht. Bayer bestritt zwar die Verantwortung, zahlte aber mehr als 1,2 Milliarden Dollar. Ruinös war das nicht.
Im deutschen Rechtsstaat sind nach oben offene Bußen nicht gewollt.
In Deutschland werden solche Summen nie erstritten, weil es die Sammelklage und einen Strafschadensersatz wie in den USA nicht gibt. Hierzulande vertraue man eher auf Verwaltungs- und Strafrecht, sagt Matthias Lehmann, Experte für Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Halle. Die Befugnisse der Behörden sind aber begrenzt, und dafür gibt es nach Lehmanns Ansicht gute Gründe: In einem Rechtsstaat müssten Bürger wie Unternehmen die ihnen drohenden Sanktionen voraussehen können. Das schließt nach oben offene Bußen aus, um jeden Anschein von Willkür zu verhindern. Also legt der Gesetzgeber Höchstgrenzen fest. Dabei orientiert er sich an durchschnittlich schweren Fällen, also eher am Unfall eines Tanklasters als an einer großen Ölpest.
Für Konzerne wie BP heißt das, dass sie Strafen meist aus der Portokasse zahlen können.
Quelle: Zeit Online
- Netzwerke
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Anmerkung WL: Bundespräsident Wulff machte diesen Sommer in der 20-Millionen-Euro-Villa Maschmeyers „Paradise Castle“ auf Mallorca Urlaub und Westerwelle sagte dazu Bild am Sonntag: „Veronica (Ferres, d. Red.) und Carsten sind wunderbare Menschen und zauberhafte Gastgeber. Die Kritik, die es in diesem Zusammenhang an Bundespräsident Christian Wulff gab, halte ich für unangemessen.“
- Justiz im „Sachsen-Sumpf“
- Verurteilt wegen Journalismus
Das Urteil war unmissverständlich: 50 Tagessätze à 50 Euro für die Journalisten Thomas Datt und Arndt Ginzel. Weniger klar hingegen die Begründung, die Richter Hermann Hepp-Schwab vortrug. Kaum war er damit fertig, begann unter den zahlreichen Journalisten und Prozessbeobachtern das Rätselraten: “Wofür sind die jetzt verurteilt worden?” Von allen Vorwürfen wegen Verleumdung und übler Nachrede, die die Staatsanwaltschaft und die Nebenklage im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Sachsensumpf vorgetragen hatten, war schließlich nur ein Satz übrig geblieben. Für strafwürdig befand das Amtsgericht Dresden allein folgende, als Frage formulierte Passage in einem im Juni 2008 auf Zeit Online erschienenen Artikel: “Gerieten sie unter Druck, weil der einflussreiche Richter Dienstaufsichtsbeschwerde gegen sie erhob?”
Quelle: taz
- Aufklärung unerwünscht
Willkommen in der Bananenrepublik: Wegen übler Nachrede über zwei Polizisten in Veröffentlichungen zum sogenannten Sachsensumpf sind die beiden freien Journalisten Arndt Ginzel und Thomas Datt vom Dresdner Amtsgericht schuldig gesprochen worden. Ihr Vergehen: Im Zusammenhang mit Recherchen über die Verstrickung hochrangiger Justizbeamte mit dem Rotlichtmilieu und über die Vorgänge um das “Kinderbordell” Jasmin hatten sie in ihrem Artikel kritische Fragen gestellt, warum die Ermittlungen seinerzeit im Sande verliefen.
Für das Dresdner Gericht sind diese Fragen – auf die Polizei wie Staatsanwaltschaft die Antwort bislang schuldig blieben – aber keine berechtigten Fragen. Sondern Tatsachenbehauptungen und damit schwere und ehrverletzende Vorwürfe gegen die Polizei. Dabei hatten die fraglichen Beamten gar keine Anzeige erstattet; vielmehr hatte das der Polizeipräsident persönlich übernommen – und auch das erst auf Drängen der Staatsanwaltschaft. Die Wirklichkeit ist der Satire also einmal mehr um Längen voraus.- Wenn es noch einen Beleg dafür brauchte, dass zumindest dieser Aspekt im Morast des Sachsensumpfs wohl doch deutlich mehr ist als nur “heiße Luft”, von der die Dresdner Staatsanwalt höchst voreilig sprach: Mit diesem Prozess ist er erbracht.
Quelle: taz
- Das Medienverhalten junger Erwachsener gibt Rätsel auf
Grundsätzlich gilt: Je unpolitischer eine TV-Nachrichtensendung, desto jünger ist ihr Publikum. Mit dem Anteil der Soft News steigen auch die Marktanteile bei den jüngeren Zuschauern: Bei den RTL-Nachrichten sind 20 Prozent des Publikums unter 40, bei Sat1 23 Prozent und bei den News auf RTL2 und Pro7 gar 51 beziehungsweise 61 Prozent.
Fernsehsender auf der ganzen Welt haben ein eklatantes Problem, mit klassischen Politik-Sendungen junge Menschen zu erreichen. Wobei »jung« hier ohnehin weit gefasst wird: gerade mal 4 Prozent der Zuschauer der Sendung ZDF-Heute sind jünger als 40, bei der Tagesschau im Ersten sind es 11 Prozent.
Für die Zuschauer ist das alte Nachrichten-Publikum ökonomisch unerfreulich, auch wenn die Werbeindustrie sich langsam von ihrer Fixierung auf die »werberelevante Zielgruppe« der 14- bis 49-Jährigen löst.
Den Tageszeitungen ergeht es da nicht besser als den Nachrichtenformaten im TV.
US-Teenager widmen sich laut einer Umfrage der Kaiser Family Foundation von 2009 täglich 7,5 Stun-den Medien aller Art, jedoch durchschnittlich nur drei Minuten der Lektüre von Tageszeitungen. Innerhalb von zehn Jahren fiel der Anteil zeitungslesender US-Teenager von 42 auf 23 Prozent.
Im traditionell print-affinen Japan liest zwar noch immer rund die Hälfte der 20- bis 29-Jährigen regelmäßig Tageszeitungen, unter den 40- bis 49-Jährigen sind es allerdings mehr als 80 Prozent (The Economist, 4.2.2010). In Deutschland nahm laut einer Allensbach-Studie 2008 nur noch ein Viertel der Teenager »fast jeden Tag« eine Tageszeitung zur Hand. Zwei Jahrzehnte zuvor waren es noch doppelt so viele.
Quelle: Message
- Zur Gemeinnützigkeit der Bertelsmann Stiftung
Bei der Bertelsmann Stiftung handelt es sich nach vielen soziologischen Ansichten und Untersuchungen um eine Institution die vergleichbar ist mit einer ausgelagerten steuerbefreiten Marktforschungs-, Marketing- und Vertriebsabteilung der Bertelsmann AG und Ihrer Tochterunternehmen, insbesondere der Arvato AG.
Die Kritik an der durch die Finanzverwaltung zu Unrecht bejahten Gemeinnützigkeit der Stiftung hat in den letzten Jahren aufgrund fundierter soziologischer Untersuchungen der Vernetzungen zwischen der Stiftung und den Unternehmen der Bertelsmann-Gruppe sowie der Funktion der Stiftung als bedeutenste Politikberaterin in der Bundesrepublik Deutschland zu Recht an Schärfe und Ausmaß zugenommen. Denn im Ergebnis empfehlen die Untersuchungen der Stiftung stets Konzepte, die eine Entstaatlichung bisher öffentlicher Aufgaben und deren Privatisierung und damit unternehmensfreundliche Lösungen vorschlagen; sie kommen somit zumindest mittelbar auch den Unternehmungen der Bertelsmann-Stiftung zugute. In vielen Fällen hält das Bertelsmann-Tochterunternehmen Arvato sogar Lösungen bereit, die sich aufgrund der Untersuchungen der Bertelsmann-Stiftung als Lösungskonzepte geradezu anbieten.
Denn die Stiftung betreibt die Vorfelduntersuchungen, berät anschließend die Entscheider (Politiker) in Form von handouts und lädt zu Kongressen ein, zu denen die Politiker und Spitzen der Verwaltung eingeladen werden. Anschließend bietet die Arvato AG (Eine 100 % ige Tochter der Bertelsmann AG) die Lösungskonzepte an; natürlich gegen ein entsprechend hohes Entgeld. Beispiel: “Würzburg integriert”.
Quelle: Glocalist
Siehe auch:
Schlimme Vorwürfe gegen Bertelsmann-Stiftung
Lobbyismus vor Gemeinnutz? Das neue Buch des Münchener Journalisten Thomas Schuler, “Bertelsmann Republik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik”, wirft der Bertelsmann-Stiftung Machtmissbrauch vor. Der Konzern reagiert prompt: Der Mohn-Vertraute Thielen weist die Kritik an der Gemeinnützigkeit scharf zurück.
Quelle: Handelsblatt
- Oskar Negt: „In dieser Gesellschaft brodelt es“
SPIEGEL: Nach dem Scheitern des Sozialismus ist aber kein neues Weltprojekt, kein radikal anderer Gesellschaftsentwurf zu sehen.
Negt: Ja, das bestimmende Merkmal der Krisenbewältigung ist heute die gleichsam betriebswirtschaftliche Rationalisierung der gesellschaftlichen Einzelbereiche. Die Realität, mit der wir konfrontiert sind, hat eine gespensterhafte Qualität. Ein Rettungsfonds von 480 Milliarden für angeschlagene Banken – das ist für mich eine negative Utopie. Noch vor zwei, drei Jahren hätte man sich so etwas nicht vorstellen können. Die Realitätslosigkeit dieses Umgangs mit der Krise ist eines der wesentlichen Motive, die mich umtreiben….
Die gegenwärtig vorherrschende Form des falschen, verdrehten Bewusstseins, das, was ich die Ideologie betriebswirtschaftlicher Rationalisierung mit ihrer Umverteilung nach oben und dem Sparzwang nach unten nenne, läuft den traditionellen Emanzipationsidealen von Aufklärung, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit zuwider. Dieser verkürzte, auf Anpassung an das Bestehende ausgerichtete Realitätssinn höhlt die politische Moral aus und gefährdet damit das Fundament unserer Demokratie…
Es kommt zu einer unmerklichen, aber folgenreichen Wirklichkeitsspaltung: Die subjektiven Orientierungen des Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen driften auseinander. Am Ende steht eine gebrochene Gesellschaftsordnung, in der, wie Sie zu Recht sagen, das offizielle Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig erscheint – die Wahlen werden nicht gefälscht, die Korruption ist nicht endemisch, die Machtteilung wird respektiert, Recht wird gesprochen. Aber im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es, mit Ausbrüchen ist zu rechnen, in der Abwendung vom System entstehen politische Schwarzmarktphantasien – das Einfallstor für Populisten jeder Art.
SPIEGEL: Wie wollen Sie denn der Flucht ins Private entgegenwirken? Dort sehen die Menschen, vor allem Jugendliche, die Freiheitsräume, die ihnen im großen Ganzen abhandengekommen sind.
Negt: Es mag ein bisschen verstaubt und anachronistisch klingen, aber ich sehe nur eine Möglichkeit: politische Bildung. Seit Jahrzehnten gehe ich der Frage nach, wie politisches Urteilsvermögen entsteht. Es gilt, das Besondere der je eigenen Lebenswelt mit dem Allgemeinwohl der Gesellschaft dialektisch in Zusammenhang zu bringen. Deshalb vertrete ich die These: Demokratie muss gelernt werden – immer wieder, tagtäglich, ein Leben lang. Die Menschen werden nicht als politische Wesen geboren. Der Mensch als Zoon politikon, als politisches Lebewesen im Sinne von Aristoteles, ist das Ergebnis eines ständigen Erziehungs- und Lernprozesses, nicht eine anthropologische Konstante.
SPIEGEL: Gut, aber in die Banalität der Lebenspraxis übersetzt, hört sich das nach Erwachsenenbildung, Volkshochschule, Gewerkschaftsseminaren an. Also nicht gerade verlockend.
Negt: Von besonderem Eifer ist in dieser Hinsicht tatsächlich wenig zu verspüren, das räume ich sofort ein. Aber die Verbindung von Bildung und Demokratie ist einzigartig. Sachwissen, Berufsqualifikation ist mit jeder Gesellschaftsverfassung vereinbar, auch mit einer totalitären; politische Bildung dagegen nur mit einer demokratischen Ordnung, denn ihr Ziel ist der mündige, aufgeklärte Bürger, der es wagt, sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen…
In der betriebswirtschaftlichen Logik ist politische Bildung mit keinem Mehrwert verbunden. Aber das spiegelt ein kurzfristiges Denken in einem verengten Gegenwartshorizont wider. Auf lange Sicht ist nur ein System stabil und friedensfähig, in dem die Menschen bei allem, was sie tun oder unterlassen, immer im Auge behalten, wie es das Gemeinwesen berührt.
Quelle: Spiegel Online
Anmerkung WL: Enttäuschend ist, wie so ein kluger Kopf wie Negt auf die Meinungsmache hereinfallen kann, dass die Linke bei der Bundespräsidentenwahl den Konservativen zum Sieg verholfen habe. Da scheint Negt selbst borniert zu sein, siehe “Bedient Euch der Grundrechenarten, um Lügen zu erkennen!”.
Völlig unverständlich ist, wie Negt etwa die Agenda-„Reformen“ „bestenfalls“ als „kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen halt“ bezeichnen kann. Ist etwa mit den Rentenreformen nicht die Sicherheit einer auskömmlichen Rente zerstört worden? Ist mit Hartz nicht die Arbeitslosenversicherung kaputt gemacht und der rasche Sturz in die Bedürftigkeit programmiert worden? Ist mit dem Spruch „fördern und fordern“ nicht die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit auf die Arbeitslosen verlagert worden? Ist damit nicht prekären Arbeitsverhältnissen Tür und Tor geöffnet worden? Hat man damit nicht die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften völlig zerstört? Haben nicht die „Reformen“ auf dem Finanzsektor die Finanzkrise erst möglich gemacht?
Die Hartz-„Reformen“ als einen Bruch mit der „Gerechtigkeitstradition“ der SPD abzutun, ist doch mehr als nur eine Verharmlosung.
- Ulrich Herrmann: Freiheit – Gleichheit – … Elite?
Welche Bildung braucht Exzellenz- bzw. Eliteförderung?
Die Universität als autonome Korporation ist im Kern beseitigt. Die Universität ist keine Lebensform mehr, sondern ein Arbeitsplatz. „Bildung durch Wissenschaft“ ist in der neuesten, der vor-humboldtschen BA/MA-Universität technokratisch beseitigt worden…
Jedes Plädoyer für die Förderung wissenschaftlicher Eliten muss daher bei der nachhaltigen Breitenförderung aller überhaupt für geistige Erziehung geeigneten jungen Menschen – also: fast aller jungen Menschen – beginnen. Denn nur ein so weit angelegter Fischzug kann sicher sein, dass kein potentielles Talent ohne Förderung verkümmert. Nur ein Schul- und Ausbildungssystem, das für alle offen ist, die von ihm profitieren können, ist auch ein gutes System für die Förderung wissenschaftlicher Eliten. Denn es ist das Wesen von Leistungseliten, extrem knapp zu sein – auch der Verzicht auf wenige potentielle Talente ist ein teuer bezahlter Fehler.“
Exzellenzförderung ist mehr als die Ausbildung von Fachleuten, denn es geht nicht nur um Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern vor allem auch um Einstellungen und Haltungen: letztlich um die Formung des Charakters…
Dieser Weg in eine „Bildungsrepublik“ ist ganz gewiss ein Holzweg und wird z. B. im Übergang zur Universität nur dadurch kaschiert, dass diese im ihr aufgezwungenen BA-System von einer Studier- zu einer Memorieranstalt mutierte. Weshalb es für mich auch völlig unerfindlich ist, warum es für diesen Betrieb eine Exzellenzinitiative für Lehre geben soll, wo doch der Erwerb von ECTS-Punkten nur durch Lernen zustande kommt, von Lehre weitgehend abgekoppelt ist und deshalb gar nicht auf exzellente Lehre, sondern prüfungsrelevante Studienmaterialien angewiesen ist!…
Studienanfänger werden (zumeist durch das Killerfach Mathematik) in Scharen vertrieben, und besonders im Lehramtsstudium bleibt die Exzellenzförderung derjenigen, die später in den Höheren Schulen als Exzellenzförderer Talente entdecken und fördern sollen, auf der Strecke: für die Wahrnehmung aller außerfachlichen Bildungsangebote der Universitäten bleibt faktisch keine Zeit; die Stoffhuberei erstickt die Entwicklung von Fragestellungen; Geschichte und Theorie des Faches bleiben ausgeblendet, so dass die Studierenden wissenschaftstheoretisch und wissenschaftspolitisch „blind“ bleiben; Nachfrage nach und Auswahl von Vorlesungen, Seminaren und Übungen neben dem schmalen Pflichtprogramm aufgrund von Interesse, Neigung und persönlicher Zuordnung wurde ersetzt durch den Zwang, interesselos feste Angebote (Module) bei beliebigen Anbietern zu absolvieren…
Ich bin der festen Überzeugung, dass in den vergangenen fünf Jahren an Gymnasien und Universitäten mehr „Humankapital“ und vor allem „-potenzial“ vernichtet bzw. verhindert wurde, als alle jetzigen und künftigen Exzellenzprogramme wieder anzuregen vermögen, zumal die Kassen leer sind. Die Inhalte drohen, das eigentliche Ziel, weshalb sie vermittelt werden, zum Verschwinden zu bringen: differenziertes Denken und kritische Reflexion. Wobei Ausnahmen bestätigen mögen, dass die Regel anderes lautet. Damit aber ist der Weg zu Exzellenz und Elite verbaut. Denn wer die Welt nicht versteht, kann sie niemandem erklären.
Quelle: Vortrag anlässlich der 5. Reckahner Bildungsgespräche „Talent, Begabung, Elite – Welche Exzellenzförderung braucht Bildung?“ des VdS Bildungsmedien e.V. am 18. Juni 2010 in Potsdam.
Quelle: Forum kritische Pädagogik
- Doktoranden vor der Pleite
Dumpinglöhne, Selbstausbeutung und sehr viel Arbeit: Zehntausende deutsche Doktoranden leben in prekären Verhältnissen. Statt sich um den notleidenden Forschernachwuchs zu kümmern, setzen die Universitäten auf Prestigeprojekte. Jetzt regt sich Widerstand.
Die Promotion, das einstige Prunkstück einer deutschen Bildungskarriere, verliert ihren Glanz. Der “Dr.”, die schicken zwei Buchstaben vor dem Namen, ist heute auch eine Chiffre für Existenzangst. Für eine Zeit im Leben, die sich viele gern ersparen würden, wenn es eine Alternative gäbe.
Jeder dritte der bundesweit rund 100.000 Doktoranden ist vom sozialen Absturz bedroht, schätzt Matthias Neis, der bei der Gewerkschaft Ver.di für den Wissenschaftsnachwuchs zuständig ist.
Von den Hochschulen ist kaum Unterstützung zu erwarten, ihre Hilfe für Doktoranden erschöpft sich darin, Prestigeprojekte wie Doktorandenkollegs und interdisziplinäre Graduiertenschulen in die Welt zu setzen. Dort forschen die Doktoranden nicht allein im stillen Kämmerlein, sondern meist in Gruppen an Großprojekten, am besten interdisziplinär. Dafür gibt es Geld von der Politik, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, Exzellenz zu belohnen.
Nach Schätzungen der Hochschulrektorenkonferenz promovieren ohnehin nur 10 bis 15 Prozent der Doktoranden an den Kollegs.
Quelle: Spiegel Online
Anmerkung WL: Statt unsere Hochqualifizierten jungen Leute zu fördern (z.B. ähnlich wie in den Niederlanden) bezahlen wir lieber ausländischen Wissenschaftlern ein „Begrüßungsgeld“.
- Irlands fatale Gier nach Boden, Backsteinen und Mörtel
Der Kollaps des aufgeblähten Immobilienmarktes beschert der Gesellschaft eine schwere Hypothek für die Zukunft. In der vergangenen Woche sind die armseligen Statistiken über den wirtschaftlichen Einbruch im letzten Jahr noch einmal nach unten revidiert worden: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) schrumpfte 2009 um 7,6 Prozent, das Bruttosozialprodukt gar um 10,7 Prozent. Letzteres enthält die repatriierten Gewinne der multinationalen Konzerne nicht und sagt folglich mehr über die Befindlichkeit der einheimischen Wirtschaft aus. Die irische Arbeitslosenquote stieg im Juli auf 13,7 Prozent und erreichte damit den höchsten Stand seit 1994. Dabei zeigte sich, dass die Zunahme bei qualifizierten Arbeitskräften besonders hoch war. Einen Lichtblick bieten die irischen Exporte. Die weitgehend vom multinationalen Sektor hergestellten Produkte waren nur wenig von der Wirtschaftskrise betroffen.
Quelle: NZZ
Anmerkung Orlando Pascheit: Irgendetwas läuft schrecklich falsch in der Bewertung des wirtschaftlichen Erfolgs sogenannter Wunderländer wie Irland, Spanien oder auch einigen osteuropäischen Ländern, wenn sich die Bewertung nur auf die Wachstumsraten des BIP beschränken, wenn Fragen nach dem Gewinn an Konkurrenzfähigkeit, der produktiven Verwendung von Investitionen kaum gestellt werden, sondern ganz schlicht aus dem hohen Wachstum der Schluss gezogen wird, dass diese Länder alles richtig gemacht hätten.
- Krieg gegen den Terror schafft Terror
- Truppenabzug: Im Irak übernimmt die Angst das Kommando
Die US-Kampftruppen verlassen den Irak – mitten in einer Welle gezielter Morde und Entführungen. US-Präsident Obama ist dennoch entschlossen, seine Kampftruppen in zwei Wochen endgültig aus dem Irak abzuziehen. Niemand ist mehr sicher vor den Killerkommandos, die nachts mit schallgedämpften Pistolen kommen und kleine magnetische Sprengladungen an Haustüren, Gartentoren oder unter Autos platzieren. Wahllos trifft es Familien von Politikern, Polizisten, Scheichs, gemäßigten Klerikern, Offizieren oder Ärzten. Jeder, der für den irakischen Staat arbeitet und sich für demokratische Verhältnisse einsetzt, gilt als Ziel. „Wir lebten wie in einem Gefängnis“, sagt ein pensionierter Mathematiklehrer, der zusammen mit Frau und Tochter ins jordanische Amman geflohen ist. „Die Gefahr ist überall und überhaupt nicht greifbar.“ Die Flucht sei der Familie sehr schwergefallen. „Aber wir haben es nicht mehr ausgehalten, so konnten wir einfach nicht weiterleben.“
Auch mit der politischen Situation geht es bergab. Fünf Monate nach den Wahlen ist immer noch keine neue Regierung in Sicht. Das Parlament hat sich nach einer einzigen zwanzigminütigen Sitzung auf unbestimmte Zeit vertagt. Die beiden Hauptrivalen, Ex-Premier Iyad Allawi und der bisherige Regierungschef Nuri al Maliki, sind hoffnungslos zerstritten.
Quelle: Tagesspiegel
Anmerkung Orlando Pascheit: Was einmal als Krieg gegen den Terror begann, endet als Brutstätte des Terrors.
- Verdeckter Kampf gegen den Terror
Obama hat gemäss einem Zeitungsbericht «Schattenkriege» gegen Terroristen in Asien, Afrika und früheren Sowjetrepubliken deutlich verstärkt. In zahlreichen Ländern seien – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – neue geheimdienstliche und militärische Operationen gestartet worden. Konkret habe das Weisse Haus Drohnen-Angriffe in Pakistan deutlich verstärkt, Angriffe auf Al-Kaida-Mitglieder in Somalia autorisiert und grünes Licht für Geheimoperationen aus Kenia heraus gegeben. Gemeinsam mit europäischen Verbündeten seien Terrorgruppen in Nordafrika ausgehoben worden. Das Pentagon habe zudem mit Hilfe von angeheuerten Privatfirmen Geheimdienstinformationen über Verstecke von militanten Extremisten in Pakistan gesammelt. Im Jemen sei eine Militärkampagne gestartet worden, die offiziell nie bestätigt wurde.
Statt eines «Hammers» setze man nun auf das «Skalpell», sagte im Mai Obamas Spitzenberater im Anti-Terror-Krieg, John Brennan. Kritiker bemängeln allerdings, dass der US-Kongress zunehmend die Kontrollhoheit über die Anti-Terror-Einsätze verliere. Der neue Kurs der Regierung verwandle den US-Auslandsgeheimdienst CIA zunehmend in eine paramilitärische Organisation, schreibt die Zeitung weiter. Das Verteidigungsministerium werde zugleich der CIA immer ähnlicher, weil das Pentagon immer häufiger etwa im Nahen Osten zu Spionagemissionen eingesetzt werde.
Quelle 1: NZZ
Quelle 2: New York Times
Anmerkung Orlando Pascheit: Jenseits grundsätzlicher Bedenken, stellt sich die Frage, inwiefern ein Raketenwerfer einem Skalpell gleicht, der Raketen mit Streumunition verschießt – Die NDS wiesen gestern auf Versuch hin, Abu Laith al Libi auf diese Weise auszuschalten, einen Libyer, der al-Kaida zugerechnet wird.
- Washington setzt Einmischung in Lateinamerika fort.
Die Destabilisierung progressiver Regierungen gehört weiter zum Repertoire von Washingtons Botschaftern in Lateinamerika. Anfang August nominierte die Obama-Administration Larry Palmer als ihren neuen diplomatischen Vertreter in Venezuela. Palmer ist kein Anfänger: Als US-Botschafter in Honduras setzte er sich von 2002 bis 2005 für eine totale Öffnung der Märkte ein und leitete danach die CIA-nahe »Interamerikanische Stiftung« (IAF) in Washington. Noch vor seiner Akkreditierung in Caracas zeichnete der Diplomat bei einer Anhörung im US-Senat ein düsteres Bild seines zukünftigen Gastlandes. Es gäbe »klare Verbindungen zwischen Mitgliedern der Chávez-Regierung und der FARC«, der kubanische Einfluss in der Armee sei »besorgniserregend«, Sozialarbeiter würden von »kubanischen Paramilitärs geschult«. Er sehe es als seine Aufgabe in Venezuela an, »die Demokratie und die Pressefreiheit« zu überwachen. Präsident Hugo Chávez forderte darauf in seiner Fernsehsendung »Aló, Presidente« am 8. August Präsident Obama auf, einen anderen Kandidaten auszusuchen: Palmer sei für eine diplomatische Funktion ungeeignet. Für Philip Crowley, Pressesprecher des State Departments, verfügt Palmer jedoch genau über die »notwendige Erfahrung«, um in Venezuela ein erfolgreicher Botschafter zu sein. Fragt sich nur, für wen.
Der Fall Palmer zeugt von erstaunlichen Parallelen mit dem jetzigen US-Botschafter in Honduras, Hugo Llorens, der am Putsch gegen Präsident Manuel Zelaya tatkräftig mitgewirkt hatte…
Obwohl die Mitwirkung Washingtons und des Pentagon über dessen Militärbasis Palmerola an dem Putsch schon vor dem Interview nachgewiesen worden war, belegen die von Valenzuela während des 90minütigen Interviews vorgelegten Dokumente, wie aktiv der in Kuba geborene Botschafter Llorens und die CIA in die Ereignisse verwickelt waren.
Quelle: junge Welt
- Zum Ende: Du musst den Gürtel enger schnallen
Quelle: YouTube