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Titel: Hinweise des Tages

Datum: 4. August 2010 um 8:58 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich:

Heute unter anderem zu folgenden Themen: Atlas der Sozialkürzungen; Die Schattenseiten des Jobwunders; Keiner ist “talentfrei”; Arbeit macht das Leben süß; Leiharbeiter ohne Rechte; Depression als europäisches Gemeinschaftsprojekt; Exportwachstum gebremst; Bertelsmanns Banalitäten; Strom ist zu teuer; Wahlrecht beim Kinderzuschlag; Pharmaindustrie verschaukelt Minister; reiche Frauen leben länger; Geschichte der Reichensteuer; Gutschein-Almosen; Sauerland und die Pension; Afghanistan-Krieg; Ungewissheit in Italien; China und der ICE; Wendung in Sachen Wikileaks; Armutsfalle Mikrokredite. (WL)

  1. Atlas der Sozialkürzungen der Bundesregierung 2011-2014
  2. Wie viele Arbeitslose haben wir wirklich? – Die Schattenseiten des Jobwunders
  3. Keiner ist “talentfrei”
  4. Arbeit macht das Leben süß? – Über den Druck auf Angestellte und Freischaffende
  5. Leiharbeiter: „Alle Pflichten, keine Rechte“
  6. Depression als europäisches Gemeinschaftsprojekt
  7. Inlands-Automarkt schwach – Exportwachstum gebremst
  8. »Bertelsmann plustert Banalitäten medial auf«
  9. Strom ist zu teuer
  10. Wahlrecht beim Kinderzuschlag und »Dunkelziffer der Armut
  11. Gesundheit: Minister verschaukelt
  12. Reiche Frauen leben länger
  13. Der Obolus der Rockefellers
  14. Kritik an Gutschein-Almosen
  15. Steuerzahlerbund, Sauerland und die Pension
  16. Afghanistan-Krieg
  17. Politische Ungewissheit in Italien
  18. China macht dem ICE Konkurrenz
  19. Erstaunliche Wendung in Sachen Wikileaks
  20. Armutsfalle Mikrokredite – Selbstmord wegen 25 Rupien

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Atlas der Sozialkürzungen der Bundesregierung 2011-2014
    „Unter unseren Verhältnissen …“ so lautete der Titel des ersten Armutsatlasses für Regionen in Deutschland. Vor über einem Jahr hat ihn der PARITÄTISCHE veröffentlicht. Unter unseren Verhältnissen heißt: Die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung lebt unter dem Lebensstandard, den das Wirtschaftswachstum in der Vergangenheit ermöglicht hätte. Die Bundesregierungen haben es einfach hingenommen: stagnierende Realeinkommen der Beschäftigten wie auch bei Rentnern und Beziehern von Transfereinkommen.
    In dieser Situation und nach einer Krise, die hoffentlich bald ganz ausgestanden ist, soll der Sozialbereich den größten Anteil des „Sparpakets“ schultern. Armutsgefährdete, Hartz IV-Bezieher und Niedrigverdiener, die Verlierer der vergangenen Wirtschaftsentwicklung und der aktuellen Krise, werden durch das „Sparpaket“ noch ärmer gemacht. Dies ist doppelt fatal. Zum einem für die Familien, die von Transferzahlungen in Teilen oder auch gänzlich leben müssen. Zum anderen verliert auch die regionale Wirtschaft. Familien am unteren Ende der Einkommensskala sparen nicht, sie benötigen ihre gesamten Einnahmen für ihren Lebensunterhalt. Mit anderen Worten, das, was sie einnehmen, geben sie auch aus. Deshalb der Titel „Unter unseren Verhältnissen II … – Atlas der Sozialkürzungen der Bundesregierung 2011-2014“.
    Quelle: Paritätischer Wohlfahrtsverband
  2. Wie viele Arbeitslose haben wir wirklich? – Die Schattenseiten des Jobwunders
    Der Arbeitsmarkt in Deutschland erholt sich nach der Krise erstaunlich schnell. Schon ist von dem deutschen Jobwunder die Rede. Doch die Arbeitslosenstatistik mit etwa 3,1 Millionen Arbeitslosen zeigt nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit sind die positiven Zahlen teuer erkauft. Ein Gespräch mit Gerhard Bosch vom IAQ.
    Quelle: br „Dossier Politik“ (Audio-Podcast, mp3, ca. 52 MB, ca. 55 Minuten)

    Anmerkung MB: Von Niedriglohnsektor, Leih- und Zeitarbeit als Einstieg in die reguläre Arbeit und anderen arbeitsmarktpolitischen Lebenslügen wird aufgeräumt. Über kleine Schönheitsfehler können wir fast hinweghören. Die überwiegend kritische Sendereihe ist immer öfter ein Ohr wert.

  3. Keiner ist “talentfrei”
    Im September letzten Jahres starteten die Deutsche Telekom und die BA ein Pilotprojekt zur Integration arbeitsloser Jugendlicher. Unter dem Motto “Meine Chance — Ich starte durch”, erhielten 61 junge Menschen die Möglichkeit über ein Langzeitpraktikum in eine Ausbildung bei der Deutschen Telekom einzusteigen. Zielgruppe waren Jugendliche aus der Grundsicherung (“Hartz IV”), denen bislang der Übergang in die Berufswelt nicht gelungen ist. Ein Jahr danach zeigt sich, dass es sich lohnt, vermeintlich schwachen Jugendlichen eine zweite Chance zu geben.
    50 junge Frauen und Männer werden von der Deutschen Telekom in ein festes Ausbildungsverhältnis übernommen, davon gehen 42 direkt in das zweite Ausbildungsjahr.
    Heinrich Alt, Vorstand Grundsicherung der Bundesagentur für Arbeit (BA), unterstreicht: “Unsere Frage muss lauten: Wie bringen wir “Problemschüler” auf die Pole-Position? Jeder zehnte Jugendliche in Deutschland schafft keinen Schulabschluss. 14 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 25 Jahre sind ohne Ausbildung. Das hat gravierende Folgen. Nur selten können sich Betroffene ins Berufsleben und in die Gesellschaft integrieren. Wir haben rund 300.000 arbeitslose Jugendliche, davon hat jeder Zweite keine Berufsausbildung. Über die Hälfte ist in Hartz IV. Damit entstehen gesellschaftliche Hypotheken für Jahrzehnte. Eine Berufsausbildung ist und bleibt der Schlüssel zur Integration. Wir müssen weg von Pauschalverurteilungen oder Schlagzeilen wie “Generation kann nix”, — damit vermitteln wir den Jugendlichen auch das falsche Signal. Wir sehen, dass die Wirtschaft schon jetzt auf die Leistungsschwächeren zugeht.”
    Quelle: Bundesagentur für Arbeit

    Anmerkung Orlando Pascheit: Schade, dass Projekte wie die Einstiegsqualifizierung (EQ) von Jugendlichen mit Vermittlungshemmnissen kaum von der Presse gewürdigt werden. Im Gegenteil, Negativmeldungen über Jugendliche stellen oft tagelang die Schlagzeilen und verbreiten oft eine Stimmung der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Vollkommen unter den Tisch fällt dabei, dass häufig genug ein Versagen der Politik vorliegt. Gerade Beispiele wie die betrieblichen Einstiegsqualifizierungen zeigen, dass Gegenstrategien möglich sind. Wer erinnert sich nicht an die Schreckensmeldungen über die Rütli-Schule (Berlin, Neukölln) vor vier Jahren. Daraufhin wurde ein Sofortprogramm in Gang gesetzt, eine Arbeitsgruppe gebildet, die im Laufe eines Jahres das Vorzeigeprojekt Campus Rütli entwarf. Heute ist die Schule mit 90 Prozent SchülerInnen nichtdeutscher Herkunft ein Beispiel für erfolgreiche, politische Antworten auf die die Problemlagen unserer Gesellschaft. Natürlich kosten solche Maßnahmen Geld. Angesichts der Unsummen die in Afghanistan verpulvert werde sind das Peanuts. Zudem würde eine gescheite Kosten- Nutzenrechnung sofort aufzeigen, dass der langfristige Nutzen bei weitem überwiegt, aber wir müssen ja sparen in der kurzen Frist.

  4. Arbeit macht das Leben süß? – Über den Druck auf Angestellte und Freischaffende
    Der Druck auf diejenigen, die noch eine Festanstellung haben, wächst. Werden die Leistungen nicht mehr erbracht, findet man Wege, langjährige Mitarbeiter vor die Tür zu setzen. In Einzelhandels-Unternehmen spricht man dann gar von “Aufarbeiten”: Unliebsamen Mitarbeitern, die den Anforderungen nicht mehr gewachsen, aber nur schwer kündbar sind, werden Aufgaben zugewiesen, von denen klar ist, dass sie deren Pensum nicht schaffen können. Gerade im Bereich der Arbeiten, für die nur eine geringe Qualifikation nötig ist, können sich Unternehmen das leisten – die “Reservearmee” auf dem Arbeitsmarkt ist groß genug. Aber auch in anderen Bereichen ist der Druck auf diejenigen, die durch Arbeit ihr Geld verdienen, deutlich gewachsen. Von wegen Ausbeutung – das muss man jetzt schon selber machen: Selbstausbeutung heißt der Trend. Und wer sich ohne Festanstellung durchs Leben kämpft, kann schnell merken, dass es nicht nur schön ist, sein eigener Herr zu sein, denn notgedrungen ist man ein strenger Herr zu sich selbst.
    Quelle 1: Deutschlandradio Kultur (Einleitungstext)
    Quelle 2: Deutschlandradio Kultur (Audio-Podcast, mp3, ca. 28 Minuten, ca. 13 MB)
  5. „Alle Pflichten, keine Rechte“
    Lozinka Keitel hat vier Jahre lang im Europäischen Patentamt gearbeitet – als Leiharbeiterin. Als es um eine feste Stelle ging, wurde sie abgelehnt. Jetzt kämpft die IT-Expertin vor Gericht um ihren Job. Eigentlich konnte bei dem Vorstellungsgespräch nichts schief gehen: Lozinka Keitel kannte Aufgaben und Anforderungen, die Kollegen und den Chef. Und mit allem kam sie gut zurecht. Das hatte sie bereits bewiesen. Viereinhalb Jahre lang. Denn die Stelle, auf die sich die IT-Expertin beim Europäischen Patentamt (EPA) in München bewarb, war im Grunde genommen ihre eigene. Sie bekam den Job aber nicht.
    Anmerkung: SZ
  6. Depression als europäisches Gemeinschaftsprojekt
    (…) Also müssen jetzt alle EU-Staaten sparen und gemeinsam die Krise vertiefen: Die Unternehmer sind ja noch keinesfalls bereit, ihre Investitionen stark auszuweiten, die Haushalte sparen eher mehr als weniger (auch aus Angst vor Sozialabbau), und die Leistungsbilanzüberschüsse gehen zurück. Konkret: Die den „CubMed-Ländern“ verordneten „Super-Sparpakete“ werden besonders die deutschen Exporte in diese Region einbrechen lassen (der gestrenge „Weltmeister“ hat am meisten zu verlieren). Gleichzeitig schwächen sich auch die Importe der USA und von China ab (dort bricht gerade der Immobilien- und Aktienboom zusammen). Im Klartext: Alle Sektoren versuchen nun zu sparen. Wenn dann der Stabilitätspakt noch verschärft wird, werden wir uns gegenseitig in eine Depression geißeln („sparst du an mir, spar ich an dir“ – in der Makroökonomie kann man immer nur krank schrumpfen, nie gesund).
    Die Alternative: Das Problem der Staatsverschuldung wird durch eine expansive Strategie bekämpft, gemeinsam mit den anderen systemisch bedingten Problemen wie Arbeitslosigkeit, Armut, Umweltverschlechterung, also durch einen „New Deal“ für Europa:

    • Zusätzliche Aufträge an die Unternehmen mit hohen Multiplikatoreffekten, insbesondere zur Bekämpfung des Klimawandels (thermische Gebäudesanierung, Verkehrsinfrastruktur, Energie- und Umwelttechnik, alternative Antriebstechnik für Individualverkehr): Dies stärkt die Investitions-, Kredit- und Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmen.
    • Massive Investitionen ins Bildungswesen, insbesondere auch im Hinblick auf Integration und Qualifikation der (jungen) Menschen mit Migrationshintergrund.
    • Bessere Absicherung der Hauptopfer der Krise wie Arbeitslose und (sonstige) Menschen an/unter der Armutsgrenze: Dies stärkt den Konsum, aber auch den sozialen Zusammenhalt.
    • (Anschub-)Finanzierung durch Beiträge der sozial best Gestellten, insbesondere der Besitzer großer Finanzvermögen (Finanztransaktionssteuer, Abgabe auf Wertpapierdepots, Erhöhung der Kapitalertrags/Abgeltungssteuer auf 35%, temporäre Erhöhung des Spitzensteuersatzes): Dies verteilt Sparen zum Staat um, der Konsum wird kaum gedämpft.
    • In Deutschland ließen sich so ohne soziale Härten die Staatseinnahmen um 100 bis 150 Mrd. € erhöhen (jawohl). Auch möge man bedenken: Die Mageren können den Gürtel kaum enger schnallen, den „Leistungsträgern“ täte eine Verschlankung gar nicht schlecht, sie brauchten dann weniger zu schleppen.

    Wenn die „Reichen an Geld“ hingegen darauf bestehen, dass der Staat seine Schulden an sie durch Verringerung seiner Ausgaben abzahlt, dann verlangen sie eine logische Unmöglichkeit: Die Deckung der Staatsschuld besteht ja im künftigen Wirtschaftswachstum – eine kollektive Sparpolitik führt aber in die Krise.
    Quelle: weissgarnix

    Anmerkung unseres Lesers G.K.: Die wirtschaftspolitischen Vorschläge Stephan Schulmeisters (Forscher am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung) werden hierzulande bei den tonangebenden Medien und den politisch Verantwortlichen auf taube Ohren stoßen. Siehe hierzu auch “Hinweise des Tages vom 8. Juni 2010”, Ziffer 1a. Noch sonnen sich diese Kreise in den hohen Exportzuwächsen und möchten der Öffentlichkeit weismachen, das deutsche “Exportmodell” sei beispielgebend zumindest für Europa (wenn nicht sogar für den “Rest der Welt”, was jedoch schlichtweg unmöglich ist, da jedem Außenhandelsüberschuss zwingend Außenhandelsdefizite in anderen Staaten gegenüberstehen). Vor den von Stephan Schulmeister beschriebenen ökonomischen Gefahrenherden (auch vor dem aus der deutschen Exportmanie resultierenden Anwachsen der Auslandsverschuldung zahlreicher anderer Staaten, insbesondere innerhalb der Eurozone) verschließt man hierzulande die Augen.

    Ergänzende Anmerkung AM: Der Kommentierung unseres Lesers G.K. und auch den meisten Vorschlägen von Stephan Schulmeister kann ich folgen. Mit manchen von Schulmeisters Analysen habe ich jedoch große Probleme. Zum Beispiel: Ich verstehe manches einfach nicht. Seine Darstellung der Abläufe in Etappen, begonnen in seinem Beitrag in der Zeit 45/1996, ist eine ziemliche Zwangsveranstaltung – wie immer, wenn versucht wird, die Weltgeschichte in historische Epochen einzuteilen. Manche Beschreibungen der historischen Abläufe sind schräg. Die Verknüpfung von Einkommensverteilung mit Nachfrageschwäche ist zwar gefällig, weil sie die Kritik an der Einkommensverteilung fördert, sie ist aber makroökonomisch nicht schlüssig. Schulmeisters Argumentationen gelten oft nur für eine geschlossene Volkswirtschaft. Am Ende halte ich Schulmeister für zu optimistisch, wenn er die Etappe 10 beschreibt, vor der wir jetzt stehen.

    Im jetzigen Text in Weissgarnix heißt es:

    „Im Frühjahr 2010 stehen wir unmittelbar vor der Etappe 10. Mit dem Ausbruch der großen Krise sind wir zwar am Ende der finanzkapitalistischen Sackgasse angekommen und damit am Anfang einer neuen Talsohle im „langen Zyklus“ (etwa analog zu 1930/31). Für das finale Scheitern des Neoliberalismus braucht es aber noch ein „Großexperiment“: Das gemeinsame Sparen aller EU-Länder.“

    Im Text von 1996 mit dem Titel „Zehn Etappen zum Abgrund“ heißt es noch klarer:

    „In der zehnten Etappe werden die neoliberalen Experimente so gründlich gescheitert sein, daß ihre Theoretiker in eine Sinnkrise und ihre Praktiker in eine politische Krise stürzen. Erst dann wird eine neue Wirtschaftstheorie und eine darauf basierende Gesamtstrategie entwickelt werden können. Gemeinsam mit einer wieder engeren Kooperation zwischen Unternehmern und Gewerkschaften werden sie das Fundament für den Beginn eines neuen Wachstumszyklus bilden.“

    An diesen Automatismus glaube ich nicht. Wir erleben jetzt schon, dass die Theoretiker und Praktiker des Neoliberalismus gescheitert sind. Aber sie befinden sich aus ihrer Sicht nicht in einer Sinnkrise. Die Sinns, die Hüthers, die Zimmermanns, die Straubhaars, die Brüderles und Merkels, die SpiegelOnliner, die BILD-Macher und die Talkshow-Redaktionen schwimmen doch propagandistisch oben auf. Sie sind dank Lobby, politischer Korruption und Meinungsmache fähig, ihr Scheitern zu verdecken. Wenn man diese ihre Rettungsmethoden nicht offen legt, dann wird man ihr Scheitern auch nicht sichtbar machen können. Um dieses Defizit zu schließen gibt es die NachDenkSeiten und „Meinungsmache“ – das sei einmal unbescheiden hier angemerkt.
    Ernsthaft: die herrschende Ideologie wird nicht automatisch und auch nicht wegen einer großen Krise versinken. Zum Todesstoß braucht es etwas mehr als das Leiden der Massen. Es braucht eine offensive weltanschauliche Auseinandersetzung, es bedarf des andauernden und mit Fakten gesättigten Hinweises auf das Scheitern und vor allem den Blick hinter die Kulissen der geläufigen Manipulation. Weil andernfalls die große Mehrheit der Menschen gar nicht erkennt, dass die neoliberale Ideologie und die massive Interessenverfilzung und Bereicherung gescheitert ist.

    Damit die Bedeutung der radikalen Aufklärung sichtbar wird, zwei praktische Hinweise:
    Obwohl zum ersten klar ist, dass der Löwenanteil der Staatsverschuldung nicht auf die Konjunkturprogramme zurückzuführen ist und die Konjunkturprogramme eher helfen, die Staatseinnahmen zu fördern und so die Verschuldung zu reduzieren, ist es der neoliberalen Propaganda gelungen, die Konjunkturprogramme sehr viel mehr zum Sündenbock zu stempeln als zum Beispiel die Milliarden für die Bankenrettung.
    Und zum zweiten: Stehen Frau Merkel, Herr Schäuble und Herr Brüderle wegen ihres Sparkurses schlecht da? Das Bekenntnis zum Sparkurs beten doch alle Multiplikatoren nach und viele Menschen glauben, dies sei der richtige Weg. Deshalb wird es gelingen, das Scheitern anderen anzuhängen – den Griechen, den Spaniern, den Konjunkturprogrammen usw. – Es sei denn, wir zeigen einer breiteren Öffentlichkeit die Mechanismen auf, mit der das Scheitern verdeckt wird.

    Dazu passt:

  7. Inlands-Automarkt schwach – Exportwachstum gebremst
    Die Flaute am deutschen Automarkt hat sich im Juli fortgesetzt. Die Zahl der Pkw-Neuzulassungen sank im Vergleich zum Vorjahresmonat um 30 Prozent auf 237 500 Fahrzeuge, wie der Verband der Automobilindustrie (VDA) und der Importeursverband VDIK am Dienstag mitteilten. Gegen den Trend steigerten Porsche und Mercedes ihre Verkaufszahlen im Inland. Die Exporte der deutschen Autobauer legten weiter zu, jedoch nicht mehr so rasant wie in den vergangenen Monaten.
    Quelle: WELT

    Anmerkung J.A.: Daran sind natürlich eindeutig die viel zu hohen Löhne der Durchschnittsarbeitnehmer in Deutschland und die fehlenden Fachkräfte schuld …
    Man fasst sich an den Kopf und fragt sich, warum am selben Tag in derselben Zeitung tatsächlich unwidersprochen die Behauptung präsentiert wird, Deutschland bräuchte dringend mehr Fachkräfte und die Löhne
    dürften auf keinen Fall steigen. Liest niemand die Zeitung auf Logikfehler gegen?

  8. »Bertelsmann plustert Banalitäten medial auf«
    Bertelsmann verkündet in einer neuen Studie: Die Arbeitslosigkeit geht bis 2020 zurück. Die Stiftung berechnet, bis dahin würde die Zahl der Vollerwerbarbeitsplätze um 1,7 Millionen im Vergleich zu 2003 zunehmen. Was ist der Zweck solcher Schönwetter-Prognosen?
    Zum einen befinden wir uns im Sommerloch, zum anderen ist die derzeit herrschende Politik nicht gut angesehen. Die Studie besagt: »Laßt uns mal weiter machen, auch wenn es im Moment nicht gut aussieht; wird schon alles gut werden.«
    Bertelsmann plustert hier Banalitäten medial auf. Der Konzern hat als einer der Akteure, die gezielte Lobbypolitik machen, den Zugang zur CDU/FDP Bundesregierung. Diese profitiert davon, aber vorrangig macht der Konzern Propagandaarbeit im klassisch neoliberalen Sinn, und hat insofern den Nachwuchs und die Zukunft im Blick.
    Quelle: junge Welt
  9. Strom ist zu teuer
    Die privaten Stromkunden werden in diesem Jahr rund eine Milliarde Euro mehr an die Energiekonzerne überweisen, als gerechtfertigt wäre. Das ist das Ergebnis einer Studie von Gunnar Harms im Auftrag der grünen
    Bundestagsfraktion. Harms ist selbst Einkäufer für Strom und Gas für einen Industriepark in Nordrhein-Westfalen. Am Beispiel der seit dem 1. August gültigen Strompreiserhöhung des Energiekonzerns RWE weist Harms nach, dass die Preise für Haushaltskunden in diesem Jahr eigentlich um 0,8 Cent pro Kilowattstunde hätten sinken müssen. Denn selbst wenn RWE den Strom für die Haushaltskunden langfristig beschaffe, müssten die stark gesunkenen Strompreise an der Börse EEX in Leipzig spätestens in diesem Jahr auch bei den Haushaltskunden ankommen, argumentiert Harms.
    Quelle: Tagesspiegel
  10. Wahlrecht beim Kinderzuschlag und »Dunkelziffer der Armut«
    In der (fach-) politischen Debatte um die Reduzierung von Kinder- bzw. Familienarmut spielt ein Vorschlag seit geraumer Zeit eine zunehmende Rolle:
    Die Forderung nach Einführung eines Wahlrechts zwischen Kinderzuschlag und Wohngeld auf der einen sowie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (»Hartz IV«) auf der anderen Seite.
    So plädierten beispielsweise in der Sachverständigenanhörung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes die geladenen Verbände und Experten mehrheitlich für die Einführung eines solchen Wahlrechts. Die SPD kündigte in ihrem Wahlprogramm eine entsprechende Regelung für die 17. Legislaturperiode an.
    Am 20. November 2009 verwies die seinerzeitige Familienministerin von der Leyen (CDU) auf einen anstehenden Gesetzentwurf ihres Hauses, der ein solches Wahlrecht vorsehen werde. Zuvor hatte bereits der Familien Report 2009 für »eine Wahloption zwischen dem Bezug des Kinderzuschlags und von ALG-II-Leistungen für alle Haushalte« plädiert. Und jüngst bekräftigte auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) noch einmal seine Position zur Einführung der Wahloption beim Kinderzuschlag.
    Quelle: Arbeitnehmerkammer Bremen [PDF – 311 KB]

    Anmerkung J.S.: Was als Instrument im Kampf gegen Kinder- bzw. Familienarmut “angepriesen” wird, erweist sich bei näherem Hinsehen leider als Beitrag zur Verbreiterung der Dunkelziffer der Armut, also als genaues Gegenteil der ins Feld geführten Absichten der Befürworter eines generellen Wahlrechts zugunsten des Kinderzuschlags.

  11. Gesundheit: Minister verschaukelt
    Die Pharmabranche hat eine Lücke im Spargesetz von Gesundheitsminister Rösler gefunden: Jetzt umgeht sie die Zwangsrabatte – frech, aber legal. Die neue Passage im Sozialgesetzbuch, die die Industrie freudig stimmt, besagt: Wenn ein Pharmaunternehmen seine Preise zum 1. August senkt, dann wird ihm dieser Betrag auf seinen 16-prozentigen Zwangsrabatt angerechnet, maximal um zehn Prozent. Betroffen sind diejenigen Medikamente, für die die Kassen noch keine Erstattungspreise festgesetzt haben. Die Regelung ist grundsätzlich sinnvoll, weil die Firmen so einen Anreiz haben, ihre Präparate billiger zu machen. Doch das führt nun dazu, dass die Unternehmen noch schnell mal ihre Preise anheben, nur um sie zwei Wochen später wieder aufs alte Niveau fallen zu lassen. So läuft es bei Omnitrope von Sandoz wie beim Krebsmittel Erbitux von Merck Serono und Hunderten anderen. Die Preise stiegen im Juli meist um rund zehn Prozent an – und wurden zum 1. August um nahezu denselben Betrag wieder abgesenkt. Das ist bereits in den Preisdatenbanken vermerkt.
    Röslers Staatssekretär Daniel Bahr (FDP) kündigte an diesem Montag an, das Gesetz zu präzisieren. Außerdem werde geprüft, wie durch höhere Abschläge ein möglicherweise entstandener Schaden für die gesetzliche
    Krankenversicherung ausgeglichen werden könne. Den kurzfristigen Gewinn könnten die Firmen mittels höherer Rabatte ab Januar 2011 zurückgeben müssen.Doch bis ein neues Gesetz in Kraft tritt, bleibt der Industrie genug Zeit, im Dickicht der Paragrafen und Änderungsgesetze nach neuen Lücken und Unstimmigkeiten zu suchen.
    Quelle: SPIEGEL Online

    Anmerkung Orlando Pascheit: Das ist wieder einmal typisch Spiegel. Da wird der ungeliebte Minister verschaukelt und das Ministerium steht wegen handwerklicher Fehler dumm da, aber die Trickserei der Industrie wird fast bewundernd herausgestellt. Kein Wort darüber, dass sich die Industrie zum Schaden aller vom Leitbild des ehrbaren Kaufmanns verabschiedet hat.

  12. Reiche Frauen leben länger
    Die BMW-Erbinnen Susanne Klatten und Johanna Quandt haben sie, Verlagslenkerin Friede Springer, ebenso Auto-Unternehmerin Maria-Elisabeth Schaeffler oder Tchibo-Mitbesitzerin Ingeburg Herz: die Aussicht auf ein sehr langes Leben. Dass Frauen in Deutschland älter werden, wenn sie überdurchschnittlich gut verdienen, ist nun erstmals wissenschaftlich erwiesen. “Frauen, die zu den oberen zehn Prozent der Verdiener gehören, leben etwa drei Jahre länger als Frauen aus den niedrigsten zehn Prozent”, sagt Friedrich Breyer. Er ist Wirtschaftsprofessor an der Universität Konstanz. Zusammen mit Jan Marcus vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat er den Zusammenhang zwischenLebenserwartung und Einkommen von Frauen erforscht. Ihre Studie haben sie am Dienstag in Berlin veröffentlicht.
    Quelle 1: Tagesspiegel
    Quelle 2: DIW

    Anmerkung Orlando Pascheit: Welch eine Überraschung! Das hätten wir nun wirklich nicht erwartet.

  13. Der Obolus der Rockefellers
    Je weniger die Reichen abgeben, desto größer wird der Abstand zu den Armen. Eine kleine Geschichte des Spitzensteuersatzes.
    Von den dreißiger Jahren an begann sich in den Industriestaaten die Schere zwischen Reich und Arm zunächst zu schließen. Seit Mitte der achtziger Jahre geht sie wieder auseinander. Der Schluss liegt nahe, je höher die Spitzensteuer, desto gleicher die Gesellschaften. Das oberste Prozent der absoluten Topverdiener streicht heute in den USA wie in den zwanziger Jahren fast 25 Prozent der Gesamteinkommen ein – in den siebziger Jahren waren es weniger als zehn Prozent.
    Aus der Gleichzeitigkeit von Entwicklungen, das sagen die Gesetze der Statistik, lässt sich noch nicht auf eine kausale Verbindung schließen. Auch Globalisierung und technologischer Wandel gelten unter Experten als Ursache für die Zunahme der Ungleichheit, ebenso die Erosion der Gewerkschaftsmacht und die Deregulierung der Finanzmärkte. Die Steuerpolitik aber hat den Trend in jedem Fall befördert. So waren die großen Vermögen, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab, in der weitgehend abgabenfreien Zeit des 19. Jahrhunderts angehäuft worden. In der Weltwirtschaftskrise und den beiden Weltkriegen wurden sie heftig dezimiert, und der Fiskus verhinderte durch seine rigiden Steuergesetze einen Ausgleich der entstandenen Verluste. Seit zwei Jahrzehnten kann nun auf Erden wieder relativ ungestört Geld verdient werden.
    Quelle: Zeit
  14. Kritik an Gutschein-Almosen
    Die vom Bundesverfassungsgericht angeordnete Neuregelung der Hartz-IV-Sätze sorgt weiter für Kontroversen. Die großen Kirchen und der Paritätische Wohlfahrtsverband forderten am Dienstag erneut mehr Geld für bedürftige Eltern und Kinder. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, und der Vorsitzende des Diakonischen Rats, Landesbischof Frank Otfried July, drängten die Regierung dazu, die Sätze zu erhöhen. Zugleich kritisierten sie die von Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) geplanten Gutscheine für die Kinder von Langzeitarbeitslosen.
    Quelle: junge Welt
  15. Steuerzahlerbund, Sauerland und die Pension
    Tagelang ging – offenbar ungeprüft – die Meldung durch die Medien, daß der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) im Falle seines Rücktritts nicht nur seine Pension als Oberbürgermeister sondern auch seinen Pensionsansspruch aus seiner Zeit als Oberstudienrat verwirken würde, und nur der Arbeitgeberanteil zur Rentenversicherung nachgezahlt würde. Dabei beriefen sich die Medien auf eine entsprechende Veröffentlichung des Bundes der Steuerzahler.
    Nun hat gestern das Innenministerium von Nordrhein-Westrfalen klargestellt, daß dem nicht so ist. Sauerland würde nicht ins Bodenlose fallen, sondern selbstverständlichen blieben seine Pensionsansprüche sowohl aus seiner Zeit als Oberstudienrat wie auch aus seiner Amtszeit als Oberbürgermeister von Duisburg erhalten. Mit welcher Motivation die Medien die Behauptung des Steuerazahlerbundes einfach so nachplapperten läßt sich schwer sagen, vielleicht wurde einfach auch nur nach einem Grund gesucht, aus dem Sauerland sich weigerte, die politische Verantwortung zu übernehmen, vielleicht war es einfach auch nur Unwillen oder Unlust, die Behauptung des Steuerzahlerbundes nachzuprüfen.
    Der Vorfall wirft ein Schlaglicht darauf, wie eine gestreute Legende durch die Medien getragen wird. In zahlreichen Beiträgen auf den Nachdenkseiten und auch seinen Büchern hat Albrecht Müller bereits auf diesen Mißstand in den Medien hingewiesen, daß ideologische Formeln und auch schlicht falsche Informationen, die allerdings zur Meinungsmache dienen, in den Medien einfach und kritiklos voneinander abgeschrieben werden. Auch in diesem Fall wäre es die Pflicht der Medien gewesen, erst mal selbst zu recherchieren, statt einfach nur die Behauptungen des Bundes der (Spitzen)Steuerzahler nachzuplappern.
    Quelle: Bercanay`s Blog
  16. Afghanistan-Krieg
    1. Der Krieg ist verloren
      Pakistans Präsident Asif Ali Zardari gibt den Krieg der USAund der NATO gegen die Aufständischen in Afghanistan verloren. Es werde den ausländischen Truppen nicht gelingen, die Islamisten am Hindukusch zu besiegen, sagte Zardari während eines zweitägigen Frankreich-Besuchs in einem Interview, das die Pariser Tageszeitung Le Monde in ihrer heutigen Ausgabe veröffentlicht. »Die internationale Gemeinschaft, zu der Pakistan gehört, verliert gerade den Krieg gegen die Taliban«, äußerte der Staatschef. »Das liegt vor allem daran, dass wir den Kampf um die Herzen und um die Köpfe verloren haben.« Die Zeit spiele für die Taliban, denn diese hätten gelernt abzuwarten. Die USA und die NATO hätten die Lage in Afghanistan »unterschätzt«.
      Quelle: junge Welt
    2. Zielen und treffen: Der Mann fürs Harte
      Weil innenpolitisch der Druck beständig zunimmt und das angekündigte Datum des Abzugsbeginns im Juli 2011 gefährdet erscheinen könnte, gerät jetzt ein Instrument in den Fokus der Öffentlichkeit, über das Politiker und Militär lieber schweigen: “Counterterrorism”, also die gezielte Tötung von Taliban, Al-QaidaKämpfern und Extremisten. Ausführender Arm dieses neuen, als solches aber unausgesprochenen Konzepts ist der US-Kommandeur der Afghanistantruppen, David Petraeus. Der VierSterne-General ist Vordenker und Autor der bisherigen US-Strategie am Hindukusch. In seiner Weisung vom Sonntag allerdings, gerichtet an alle rund 120 000 Männer und Frauen der Internationalen Nato-Schutztruppe (Isaf), hat er allein durch seine martialische Wortwahl deutlich gemacht, dass es Verschiebungen geben wird.
      Sein Vorgänger, der wegen Indiskretionen entlassene General Stanley McChrystal, hatte dekretiert, dass der Erfolg der Mission nicht an der Zahl der getöteten Feinde gemessen werde, sondern daran, wie viele
      Zivilisten vor Gewalt geschützt werden könnten. Der Schutz der Bevölkerung bleibt offensichtlich auch für Petraeus das oberste Ziel.
      Allein die Mittel, es zu erreichen, werden künftig möglicherweise andere sein: “Jagt sie ohne Unterlass”, heißt es in seiner Richtlinie, “rammt eure Zähne in das Fleisch der Aufständischen und lasst nicht mehr los (…) Findet und eliminiert diejenigen, die die Bevölkerung bedrohen (…) Nehmt das ganze Netzwerk ins Visier, nicht nur Einzelne.”
      Gezielte Tötungen sind ethisch höchst problematisch, und das nicht nur, weil ein Risiko bleibt, “die Falschen” zu treffen, Umstehende auch, Unbeteiligte, Angehörige. Ihre Zweckmäßigkeit ist fraglich, weil sie
      Rachegelüste provozieren und kompromissbereite Gegner schwächen können – jedenfalls ist das für viele das entscheidende Ergebnis des israelischen Vorgehens im Gazastreifen. Und sie sind rechtlich umstritten, weil sie ohne Anhörung und Beweise erfolgen. Grundsätzlich gilt gleichwohl: “Gezielte Tötungen sind nicht per se völkerrechtswidrig”, wie Christian Schaller von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik meint. Das Kriegsrecht erlaube unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit in einem zwischenstaatlichen Konflikt die Tötung von Kombattanten, also Angehörigen der Streitkräfte – und es erlaube in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten wie dem in Afghanistan durchaus die Tötung von “streitkräfteähnlichen, organisierten bewaffneten Gruppen”: Sie dürften, sagt Schaller, “als militärische Ziele jederzeit unter Beachtung der sonstigen Regeln des humanitären Völkerrechts angegriffen werden, auch wenn sie vorübergehend keine Waffen führen und sich beispielsweise in ihre Quartiere zurückgezogen haben”.
      Quelle: Tagesspiegel
    3. Bundeswehr lieferte Namen für Taliban-Jagdliste
      Die Bundeswehr ist stärker in die Einsätze zur gezielten Tötung von Aufständischen in Afghanistan verwickelt als bisher bekannt. Nach SPIEGEL-Informationen hat Deutschland mehrere Namen auf die Jagdliste setzen lassen. Mindestens ein Taliban-Kommandeur wurde danach von US-Spezialkräften getötet. Der SPD-Verteidigungsexperte Hans-Peter Bartels kritisierte vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse über gezielte Tötungen die Informationspolitik der Bundesregierung. “Es genügt nicht, nur die Obleute des Verteidigungsausschusses zu informieren, wenn die ihr geheimes Wissen dann nur begrenzt weitergeben dürfen”, sagte er dem SPIEGEL. “Stattdessen sollte nach Abschluss von Operationen das gesamte Parlament in Kenntnis gesetzt werden.” Bartels hält “Capture or Kill”-Operationen für “prinzipiell problematisch, nicht zielführend und kontraproduktiv”. “Wenn wir von Taliban-Kommandeuren reden, geht es doch oft um Anführer im Rang eines Feldwebels, die vielleicht 10 bis 15 Mann unter sich haben. Das sind keine zentralen Feldherren, die da erwischt werden”, sagte der SPD-Politiker. Stattdessen habe der “Hass” auf Seiten der Afghanen noch zugenommen, “weil auch Leute getötet wurden, die man nicht hätte töten dürfen”.
      Quelle: Spiegel Online
    4. Priorität Mord
      Auf der Grundlage eines Artikels der New York Times (NYT) unter dem Titel »Gezieltes Töten ist neuer US-Fokus in Afghanistan« berichteten verschiedene Medien der USA und Großbritanniens in großer Aufmachung am Sonntag über die zentrale Bedeutung, die Mord und Mordkommandos in der »neuen« Kriegführung von US-Präsident Barack Obama spielen. Der Wechsel zu dieser Strategie könne, so die NYT, »den Charakter des Krieges ändern und potentiell – aus der Sicht einiger Offizieller – ein politisches Abkommen mit den Taliban beschleunigen.« In den letzten fünf Monaten wurden nach dem Bericht der Zeitung 130 wichtige Aufständische ausgeschaltet. Geheimdienstberichte besagten, daß sich unter den Talibankämpfern die Furcht ausbreite, in höhere Kommandopositionen zu gelangen wegen der Gefahr, zum Ziel der US-Spezialkräfte zu werden. Nun werde von Seiten der USA überlegt, ob der Druck bereits ausreiche, um mit den Taliban zu verhandeln.
      Quelle: junge Welt

      Anmerkung Orlando Pascheit: Leider versagen die Medien darin, die Politik zu zwingen, Farbe zu bekennen. Aber unsere Journalisten, die sonst relativ schnell mit Urteilen zur Hand sind, haben bei den Todeslisten anscheinend selbst keine eigene Meinung. Die “junge Welt” positioniert sich zwar eindeutig mit dem Wort “Mord”, scheint es aber nicht für nötig zu halten, dieses Urteil ihren Lesern gegenüber zu erläutern. Von den anderen Zeitungen wird dann mal ein Politiker oder ein Völkerrechtler zitiert. Nur was hilft es, wenn wir jetzt vielleicht wissen, dass unter bestimmten Bedingungen “streitkräfteähnlichen, organisierten bewaffneten Gruppen” angegriffen werden können, “auch wenn sie vorübergehend keine Waffen führen und sich beispielsweise in ihre Quartiere zurückgezogen haben”. Wir wollen wissen, ob unsere Politiker für Todeslisten plädieren oder diese ablehnen – und warum. Ist das Zuviel verlangt von einer „im Feld“ stehenden deutschen Regierung? Auch stellt sich die Frage, inwieweit die Bundesregierung hinter den Afghanistan-Leitlinien von General David Petraeus steht. Aufforderungen wie, “rammt eure Zähne in das Fleisch der Aufständischen und lasst nicht mehr los”, künden nicht nur von einer neuen Tonlage, sondern bereiten eine Hetzjagd neuer Qualität vor.

    5. „Afghanistan-Mission: Regierung informiert Bundestag nur lückenhaft“
      Als Wächter über die Armee müssten die Bundestagsabgeordneten besonders gut über die Afghanistan-Mission informiert sein. Die WikiLeaks-Enthüllungen belegen erstmals, wie unzureichend die deutsche Regierung die Parlamentarier über die Operation am Hindukusch unterrichtet.
      Quelle: Spiegel Online
  17. Politische Ungewissheit in Italien
    In Italien sind baldige Neuwahlen nicht auszuschliessen. Berlusconi könnte darauf hinwirken, um seinen Widersacher Fini am Aufbau einer Allianz zu hindern. Hiesigen Auguren vermuten, dass er insgeheim auf
    Neuwahlen schon im Herbst oder sonst spätestens im nächsten Frühling setzt, um Fini und andere Widersacher am Aufbau einer schlagkräftigen Allianz zu hindern. Wie auch der Soziologe Luca Ricolfi am Montag in
    einem Zeitungskommentar ausführte, läuft die Zeit klar gegen Berlusconi. Für Berlusconi ist es aber auch nicht risikolos, mit einem vorzeitigen Sturz seiner Regierung die Flucht nach vorn zu ergreifen. Das würde
    nicht unbedingt sofortige Neuwahlen bedeuten, sondern brächte zuerst den Staatspräsidenten ins Spiel, der allein das Parlament für Neuwahlen auflösen darf und zuerst abzuwägen hat, ob nicht die Voraussetzungen
    zumindest für eine Übergangsregierung bestehen. Von einer Übergangsregierung erhofft sich die noch stark gespaltene Gegnerschaft Berlusconis aber nicht nur mehr Zeit, um die eigenen Reihen zu schliessen. Es besteht auch die Hoffnung, zusätzlichen Streit in Berlusconis Lager stiften zu können. Führende Vertreter des PD haben bereits erklärt, dass sie selbst eine Übergangsregierung unter Giulio Tremonti hinnehmen könnten – wohl wissend, dass sich auch der Wirtschaftsminister mit Berlusconi nicht mehr gut versteht und diesen gerne selber ablösen würde.
    Quelle: NZZ

    Anmerkung: Das einzig Traurige an dieser Entwicklung ist, dass weder Europa zu dieser beitrug noch die Linke in Italien, sondern der moderne Rechtskonservative, Gianfranco Fini.

    Dazu:

    „Es ist, als habe eine Seuche das Land ergriffen“
    Erfolgsautor Andrea Camilleri: Die Schäden, die der Berlusconismus in Italien angerichtet hat, sind mit denen des Faschismus zu vergleichen. “Italien ist 150 Jahre alt, und es geht ihm schlechter als mir mit 85.
    Erste Jubiläumsfeiern gab es schon. Die Politiker der Lega Nord, dem Koalitionspartner von Berlusconis PDL in der Regierung, sind ferngeblieben. Ich finde, Minister haben die Pflicht, an Veranstaltungen zur nationalen Einheit teilzunehmen. Einige Minister aber vertreten offen Ansichten, die das Gegenteil der Einheitsidee bedeuten. Ich bin kein Nationalist, das war ich nie, ich bin Kommunist. Aber man kann nicht im Zentrum de Staates Leute haben, die nicht an die Verfassung glauben. In Deutschland war damals einer der Vorwürfe gegen die
    RAF-Terroristen, dass sie Verfassungsfeinde waren. Das schien mir ein äußerst ernster Vorwurf zu sein. Auch bei uns gibt es Verfassungsfeinde, aber sie sind an der Macht. Und niemand klagt sie an. …
    Als ich sehr jung war, 1945, unmittelbar nach der Befreiung Italiens, las ich einen Artikel des großen amerikanischen Journalisten Herbert Matthews. Die Überschrift hieß: ‘Ihr habt ihn nicht getötet.’ Er meinte, indem ihr Mussolini umgebracht habt, habt ihr nicht den Faschismus getötet. Er beschrieb, welche Schäden der Faschismus sogar in der DNS der Italiener hinterlassen habe. Und dass es Jahrzehnte brauchen würde, sie zu heilen. Damals hat mich das schrecklich wütend gemacht. Im Lauf der Jahre habe ich Matthews mehr und mehr recht gegeben. Der Faschismus ist wie ein mutierendes Virus. Und so befinden wir uns in neuen Formen
    des Faschismus. Es sind mutierte Formen. Deshalb glaube ich, die Schäden des Berlusconismus werden so sein wie die Schäden des Faschismus. Es ist wie eine Verseuchung des Wesens der Italiener.
    Quelle: SZ im Pressespiegel des italienischen Wirtschafts- und Finanzministeriums [PDF – 237 KB]

    Anmerkung Orlando Pascheit: Nicht uninteressant ist, dass dieses berlusconikritische Interview (in der SZ kostenpflichtig) im Pressespiegel des italienischen Wirtschafts-und Finanzministeriums erschienen ist, in dem eigentlich nur Wirtschaftsthemen aufgegriffen werden. Positioniert sich hier Giulio Tremonti, der derzeitige Minister für Wirtschaft und Finanzen?

  18. China macht dem ICE Konkurrenz
    Peking hat eigene Hochgeschwindigkeitszüge entwickelt und will sie exportieren. Sie sind schneller als der ICE. Chefingenieur He Huawu wies Vorwürfe zurück, dass Chinas Züge Kopien von ICE, TGV oder Shinkansen
    seien. Die aus dem Ausland ursprünglich erworbenen Bahnsysteme hätten China als Plattformen gedient. Von ihnen aus seien neue Technologien “innovativ” zu eigenständigen Systemlösungen weiterentwickelt worden. Die “Weltbank” spricht in einem Bericht vom “größten Bahninvestitionsprogramm, das von einem einzelnen Land unternommen wurde.” Sie warnt angesichts der Kosten, dass sich nur wenige Hochgeschwindigkeitsstrecken rechnen. Zwei Jahre, nachdem China 2008 seine erste Hochgeschwindigkeitsbahn zwischen Peking und Tianjin in Betrieb nahm, verfügt es heute über elf Hochgeschwindigkeitsstrecken mit 6920 Kilometern Länge. Sechs Millionen Menschen wurden dabei beschäftigt. Bis 2012 will Peking weitere 800 Milliarden Yuan ausgeben, um das Bahnnetz von 90.000 Kilometer auf über 110.000 Kilometer auszudehnen und sein Hochgeschwindigkeitsnetz auf über 13.000 Kilometer zu erweitern.
    Quelle: WELT Online

    Anmerkung Orlando Pascheit: Die Weltbank und ähnliche Institutionen haben nicht begriffen, dass sich solche Infrastrukturprojekte vollkommen privatwirtschaftlichem Kalkül entziehen. Natürlich werden Fahrkartenverkauf und Transportgebühren nicht die unmittelbaren Kosten solcher Projekte decken, aber der indirekte Gewinn für die Volkswirtschaft und Gesellschaft ist nicht hoch genug einzuschätzen. Für die neoliberal geprägte Entwicklungspolitik der Weltbank, die den Entwicklungsländern die Privatisierung ihrer Infrastruktur (Wasser, Energie, Verkehr, Bildung Gesundheit) als Heil nahelegt bzw. aufdrängt, ist der Erfolg Chinas eine Blamage sondergleichen.

  19. Erstaunliche Wendung in Sachen Wikileaks
    Das Magazin “Forbes” berichtet, dass es sich bei dem angeblichen Hacker Adrian Lamo, dem sich der amerikanische Soldat Bradley Manning wegen des Irak-Videos “Collateral Murder” angeblich anvertraute, tatsächlich um einen Sicherheitsspezialisten im Regierungsdienst handelt. Nun wird die Darstellung Lamos durch neue Informationen ad absurdum geführt, die ein Reporter des amerikanische Magazins “Forbes” veröffentlichte. Danach ist Lamo ein Sicherheitsspezialist, der für das geheime “Project Vigilant” arbeitete. Im Juni veröffentlichte der “San Francisco Examiner” erstmals eine Reportage über dieses Selbstschutzprojekt. In ihr berichtete ein Projektleiter namens Chet Uber davon, dass die von der Privatwirtschaft finanzierte Truppe den Militärbehörden, dem FBI und der NSA zuarbeitet. Täglich soll Vigilant die Aktivitäten von mehr als 250 Millionen
    IP-Adressen speichern und imstande sein, “über jeden Namen, jedes Pseudonym oder jede IP-Adresse einen Bericht zu erstellen”.
    Als Beispiel der Leistungsfähigkeit des Projekts nannte Vigilant-Direktor Uber den Fall Bradley Manning. Nach seiner Darstellung wurde sein Mitarbeiter Adrian Lamo auf Mannings Internet-Nutzungsverhalten aufmerksam und konnte durch Analyse des Netzwerkverkehrs nachweisen, dass Manning “Collateral Murder”, das Video aus dem Irakkrieg, an Wikileaks weitergeleitet hatte. Nach den erfolgten Kontakten zwischen Lamo und Manning will es wiederum Chet Uber gewesen sein, der für seinen Freiwilligen den Kontakt zu den Strafverfolgern herstellte: “Ich war es, der die Regierung benachrichtigte.”
    Mit diesem Bekenntnis erfährt die Geschichte um Wikileaks eine neue Wendung. Stimmen die Angaben von Chet Uber, ist Bradley Manning nicht mehr der allzu naive Soldat, der sich einem überraschten Dritten anvertraute. Stimmen die Angaben, werden amerikanische Bürger in größerem Stil überwacht als bisher angenommen, mit steigender Tendenz.
    Quelle: FAZ

    Anmerkung Orlando Pascheit: Sollte also der geneigte Leser der NDS also eine Karriere als Whistleblower starten wollen, sollte er sich den Rat von John Naughton (Guardian) zu Herzen nehmen und sich an Wikileaks als einzig richtige, vertrauenswürdige Adresse für Whistleblower wenden und nicht etwa die Veröffentlichung auf einer selbstgestrickten Website oder in einem sozialen Netzwerk anstreben. Misstraue allem und jedem, auch gegenüber Deinem Internet Provider bzw. benutze Tor.

  20. Armutsfalle Mikrokredite – Selbstmord wegen 25 Rupien
    Das Geschäft mit Mikrokrediten boomt. Sie sollen aus der Armut helfen. Doch für viele Frauen in Indien sind sie zur Armutsfalle geworden.
    Quelle: taz


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