Ein Blick hinter die Kulissen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
„Aufschwung XXL“, Konsumlaune oder gar „Kaufrausch“ der Deutschen liest und hört man derzeit in fast allen Medien. Ein Leser der NachDenkSeiten hat sich die Zahlen einmal etwas genauer angeschaut und Jens Berger hat an einigen Stellen ergänzt.
- Generelle Anmerkungen zum Vorjahres- bzw. Vorquartalvergleich des BIP:
Sowohl im Vergleich zum 4. Quartal 2010 (BIP-Wachstum +1,5%) als auch im Vergleich zum Vorjahresquartal (BIP-Wachstum +5,2%) ist das BIP-Wachstum des 1. Quartals 2011 witterungsbedingt überzeichnet. In Bezug auf den Vergleich zum 4. Quartal 2010 wurde von den Medien (wenn auch eher beiläufig versteckt) darauf hingewiesen.
Wenn man nicht die saison- und kalenderbereinigten Werte, sondern die Rohwerte heranzieht, ist das BIP 2011/I im Vergleich zum BIP (2010/IV) sogar um 2,0% gesunken.
Das BIP-Wachstum ist jedenfalls auch im Vergleich zum Vorjahresquartal (1. Quartal 2010) optisch geschönt. So schrieb etwa das Handelsblatt im Mai vergangenen Jahres zur Entwicklung des BIP im 1. Quartal 2010:
“Ein stärkeres Wachstum verhinderten schrumpfende Bauinvestitionen: Grund dafür ist der strenge Winter. Schnee und Frost hatten wochenlang viele Baustellen lahmgelegt und viele weitere Branchen behindert.”
Demgegenüber war der Winter im 1. Quartal 2011 relativ mild, so dass der BIP-Anstieg (5,2% gegenüber dem 1. Quartal 2010) auch im Vorjahresvergleich deutlich überzeichnet ist.
Wenn man die Rohdaten betrachtet, ist ferner interessant, dass die Werte von 2011/I nur um 0,15% über dem dritten Quartal 2008 (dem letzten „Vorkrisenquartal) liegen. Da diese Werte noch nicht einmal inflationsbereinigt sind, kann man sagen, dass der sog. „XXL-Aufschwung“ noch nicht einmal die Krisendelle eingeholt hat.
- Wachstumsbeitrag des privaten Konsums im Vergleich zum 1. Quartal 2010 sowie zum 4. Quartal 2010:
Der Wachstumsbeitrag des privaten Konsums zum BIP-Wachstum des Vorjahresquartals (BIP-Wachstum +5,2%) beträgt 1,1%-Punkte. Dies entspricht einem Anteil von 21% am BIP-Wachstum zum 1. Quartal 2010.
Der Wachstumsbeitrag des privaten Konsums zum BIP-Wachstum des Vorquartals (BIP-Wachstum +1,5%) beträgt 0,2%-Punkte. Dies entspricht einem Anteil von 13% am BIP-Wachstum zum 4. Quartal 2010.
Zum Vergleich: Der Anteil des privaten Konsums am gesamten Bruttoinlandsprodukt beträgt im 1. Quartal 2011 56,5%. Im Vergleich hierzu fällt der Wachstumsbeitrag des von den Medien immer wieder hochgejubelten privaten Konsums (“Kaufrausch” etc.) zum BIP-Wachstum auch im 1. Quartal 2011 dürftig aus.
- Entwicklung des Außenbeitrages:
Der Wachstumsbeitrag aus dem erneuten Anstieg des Außenbeitrages (bzw. des sich darin manifestierenden Anstiegs des Leistungsbilanzüberschusses) zum BIP-Wachstum im Vergleich zum Vorjahresquartal (BIP-Wachstum +5,2%) beträgt 1,6%-Punkte. Dies entspricht einem Anteil von 31% des gesamten BIP-Wachstums 1. Quartal 2011.
Und im Vergleich zumVorquartal (BIP-Wachstum +1,5%) beträgt er 0,5%-Punkte. Dies entspricht einem Anteil von einem Drittel des gesamten BIP-Wachstums 1. Quartal 2011.Der Vergleich mit dem Wachstumsbeitrag des privaten Verbrauchs (Siehe Gliederungspunkt 2.) zeigt: Auch im 1. Quartal 2011 überstieg der Wachstumsbeitrag des Außenbeitrages jenen des privaten Verbrauchs deutlich, und dies, obwohl der private Verbrauch (wie erwähnt, mit einem Anteil am BIP in Höhe von 56,5%) den mit Abstand höchsten Beitrag zum BIP leistet.
Dies relativiert deutlich den Versuch des Statistischen Bundesamtes, der schwarz-gelben Bundesregierung sowie der Mainstreammedien, den erneuten kräftigen Anstieg der Exporte kleinzuschreiben, um von der Kritik an den hohen und weiter wachsenden deutschen Außenhandelsüberschüssen (Stichworte: Lohn- und Sozialdumping) abzulenken.
Die hiesige Politik und die deutschen Medien versuchen den Eindruck zu erwecken, die Bedeutung des Wachstumsbeitrags der Außenhandelsüberschüsse werde im laufenden Jahr gegenüber den Vorjahren zurückgehen. Doch selbst die Gutachten des Sachverständigenrates und der Wirtschaftsforschungsinstitute können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der deutsche Leistungsbilanzüberschuss (trotz steigender Importe) auch im Jahre 2011 weiter ansteigen wird. Dies bedeutet im Umkehrschluss: Die Verschuldung der übrigen Wirtschaftsnationen gegenüber Deutschland wird auch im laufenden Jahr nicht nur weiter anwachsen, sondern wegen der neuerlichen Zunahme des Außenbeitrags sogar mit beschleunigtem Tempo steigen.
- Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter sowie der Gewinn- und Vermögenseinkommen:
Die Nettolöhne und -gehälter sind im Vergleich zum Vorjahresquartal (1. Quartal 2010)
- in der Gesamtsumme nominal um 3,1% angestiegen. Inflationsbereinigt beträgt der Anstieg der Gesamtsumme der Löhne und -gehälter lediglich 0,9%.
- Je Arbeitnehmer sind sie nominal um lediglich 1,6% angestiegen. Inflationsbereinigt haben sich die Löhne und -gehälter je Arbeitnehmer sogar um -0,9% vermindert.
Demgegenüber haben sich die Gewinn- und Vermögenseinkommen mit einem nominalen Anstieg um 8,7% erneut kräftig erhöht. Auch inflationsbereinigt ist eine deutliche Zunahme um 6,5% zu verzeichnen.
In der schwachen Entwicklung der realen Löhne und Gehälter manifestiert sich zum einen die schwache Tarifentwicklung. Zum anderen zeigt insbesondere der Rückgang der realen Löhne und -gehälter je Arbeitnehmer, dass es sich bei der von den Mainstreammedien vielbejubelten Beschäftigungszunahme (“Jobwunder”) weitestgehend um qualitativ schlechte und schlecht bezahlte Arbeitsplätze handelt, v.a. Teilzeitjobs und Leiharbeitsjobs.
Die Bundesagentur für Arbeit verweist in ihrer monatlichen Pressekonferenz zu den aktuellen Arbeitsmarktdaten zwar stets darauf, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sei im Vergleich zum Vorjahr angestiegen. Dieser Anstieg beinhaltet jedoch auch die Zunahme der zumeist prekären Teilzeit- und Leiharbeit. Der Terminus “Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung” ist nicht mehr automatisch ein Synonym für qualitativ hochwertige und ordentlich bezahlte Arbeitsplätze.
- FAZIT:
Ein Blick hinter die Kulissen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zeigt:
Es ist bei weitem nicht alles Gold, was vordergründig glänzt. Hinter dem arroganten Aufplustern der hiesigen neoliberalen Kreise in Politik und Medien sowie bei den sog. Wirtschafts-“Experten” – insbesondere gegenüber den übrigen europäischen Nachbarn – steckt eine gehörige Portion Dreistigkeit. Denn das gegenüber unseren Nachbarn parasitäre Lohn- und Sozialdumping trägt maßgeblich zur ökonomischen Schieflagen zwischen Deutschland und zahlreichen Staaten der Eurozone bei.
Die von der hiesigen Politik diktierten Spar- und Lohnsenkungsprogramme an die Adresse der notleidenden Staaten werden die dortigen Probleme verschärfen und insbesondere die Situation der dort lebenden Arbeitnehmer verschlechtern. Der von der schwarz-gelben Bundesregierung aufgebaute Druck etwa zur europaweiten Einführung der “Rente mit 67”, auf die Löhne oder auf Sozialstandards und die unwahren Behauptungen Merkels bzgl. Rente, Urlaub und Arbeitszeiten in den südeuropäischen Staaten sind der Gipfel der Arroganz und lenken von den eigentlichen Problemen ab. Vor allem in den südeuropäischen Staaten wird man diese Großspurigkeit Merkels und ihrer Kabinettskollegen genau registrieren. Selbst der jeglicher Linkslastigkeit unverdächtige Altkanzler Helmut Schmidt kritisierte im Dezember 2010 die hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse und die daraus drohenden Gefahren für zukünftige ökonomische Entwicklung in Deutschland und Europa. Und schon im Juni vergangenen Jahres kritisierte Schmidt völlig zur Recht die “wilhelminische Großspurigkeit” der schwarz-gelben Regierungspolitiker. Helmut Schmidt: Europa brauche weder einen “deutschen Oberkommandierenden”, noch einen “deutschen Schulmeister”. Schwarz-Gelb und die sie unterstützenden Medien scheinen jedoch mit dem Motto “Am deutschen Wesen soll die Welt genesen” an ungute alte Zeiten anknüpfen zu wollen.
Die deutschen Arbeitnehmer sind die doppelten Verlierer: durch die Reallohnverluste und das Sozialdumping in der Vergangenheit und dadurch dass ihnen als Steuerzahler auch noch die Kosten für die sich herausbildende “Transferunion” mit aufgebürdet werden, während die Exportunternehmen wie in der Vergangenheit durch weitere Exportüberschüsse (selbst in die Krisenländer) auch künftig ihre Gewinne einfahren können.