Europa ohne Europäer
Seit dem Wahlerfolg der europaskeptischen „wahren Finnen“ ist das politische Europa wieder einmal in Erklärungsnöten. Die Finanz- und Schuldenkrise lastet schwer auf dem Selbstverständnis der EU. Jahrzehntelang wurden unpopuläre politische Reformen in allen Mitgliedsstaaten gerne als Entscheidungen Brüssels verkauft, was das Image der supranationalen Institutionen der EU schwer beschädigt hat. Kritik an der EU wurde dabei tabuisiert und selbst Detailkritik wurde meist durch Fundamentalverteidigung pariert, während Europapolitik hinter geschlossenen Türen stattfand. Wenn die Politik nicht bald anfängt, einen offenen Europa-Diskurs zu führen, dürften die Europaskeptiker, die meist im rechten Lager zu verorten sind, auch in Zukunft Wahlerfolge feiern und damit Europa nicht nur als Institution, sondern auch als Idee desavouieren. Jens Berger
„Europafeindlichkeit“ und „Europaskeptizismus“ sind zwei Begriffe, die gerne undifferenziert als Kampfbegriff geführt werden, um den politischen Gegner zu diskreditieren. Will man hier differenzieren, muss man vier Arten [PDF – 225 KB] und zwei Formen [PDF – 95 KB] des Europaskeptizismus unterscheiden:
- Ökonomie: Die Kritiker sehen keinen persönlichen Vorteile oder gar persönliche Nachteile durch „Europa“.
- Souveränität: Die Kritiker bemängeln eine Abwanderung föderaler oder nationalstaatlicher Entscheidungsgewalt zu supranationalen Institutionen.
- Demokratie: Die Kritiker bemängeln demokratische Defizite in den supranationalen Institutionen und die verhältnismäßig geringe Macht des Europäischen Parlamentes als einziger Institution, die direkt gewählt wird.
- Politik/Soziales: Die Kritiker bemängeln bestimmte politische Positionierungen, Ideologien und Dogmen, die mit der EU und ihrer Politik verbunden sind.
Je nach Art der Kritik muss man ferner zwischen „hartem“ und „weichem“ Europaskeptizismus unterscheiden. Während die harten Skeptiker sich gegen die Institutionen als solches wenden und zumindest einen Stopp bei der weiteren Integration und oft sogar einen Austritt ihres Landes aus den Institutionen fordern, kritisieren die weichen Skeptiker einzelne Aspekte europäischer Politik, begrüßen aber die Institutionen und die Integration als solche. Harte und weiche Skeptiker sind also bereits bei ihrer Motivation grundverschieden. Während harte Skeptiker oft Einzelaspekte aufgreifen, um sie in ihre Fundamentalkritik einzupassen, sind die weichen Skeptiker meist bemüht, konstruktive Detailkritik anzubringen.
Die harten Skeptiker lassen sich in den allermeisten Fällen im rechten bis rechtsextremen Lager verorten, die weichen Skeptiker finden sich meist im linksliberalen bis linken Lager. Bedauerlicherweise wird die Fundamentalkritik der politischen Rechten jedoch meist mit der konstruktiven Detailkritik der Linken in einen Topf geworfen und entweder tabuisiert oder mit einer Fundamentalverteidigung beantwortet. Besonders augenfällig wurde diese undifferenzierte Reaktion auf Kritik, als es darum ging, den Lissabon-Vertrag durchzuboxen. Inhaltlich berechtigte Kritik am Lissabon-Vertrag wurde damals kurzer Hand mit dem Vorwurf der „Europafeindlichkeit“ vom Tisch gefegt.
Die öffentliche Wirkung dieser Strategie ist jedoch verheerend. Wenn kritische Bürger mit ihrem „weichen“ Skeptizismus ohne Not in den Topf der „harten“ Skeptiker geworfen werden, kann es durchaus passieren, dass sie sich in diesem Topf wohlfühlen. Der einzige Erfolg dieser Tabuisierung ist es, dass man aus Menschen, die sich ein besseres Europa wünschen, Europakritiker macht. Man muss den Menschen nur oft genug sagen, dass sie Europagegner seien und irgendwann werden sie es auch glauben. Populisten und Menschenfänger am rechten Rand müssen diese Unverstandenen nur noch einsammeln.
Schattenboxen gegen Europa
Wenn man die mediale Berichterstattung verfolgt, könnte man manchmal glauben, die EU sei eine bürokratische Superbehörde, die sich selbstständig gemacht hat – ein intransparenter Moloch aus Legislative, Exekutive und Judikative. In der Berliner Politik spielt die EU dabei mehr und mehr die Rolle eines imaginären politischen Gegners, vor dessen Pläne man die Bürger in Schutz nehmen will. Unpopuläre politische Pläne werden dabei gerne an Europa ausgelagert, um als EU-Richtlinie ihre Rückkehr in die nationale Politik zu feiern. Für die Politik ist dies ein wahrer Glücksfall. Sie muss dem Bürger nicht mehr erklären, warum sie für ein bestimmtes Gesetz (z.B. Vorratsdatenspeicherung) eintritt, sondern kann den schwarzen Peter nach Brüssel weiterschieben und sich hinter der Richtlinienkompetenz der EU verschanzen.
Selbstverständlich wird dabei die Frage, wer eigentlich in Brüssel die Gesetze macht, ebenso ausgeblendet, wie die Frage, warum Deutschland dann nicht auf europäischer Ebene gegen die jeweilige Richtlinie vorgeht. Es ist kein großes Geheimnis, dass in Brüssel kein Gesetz und keine Richtlinie gegen den ausdrücklichen Widerstand des mächtigsten europäischen Staates durchgesetzt werden kann. Anstatt diese Gesetze offensiv zu verteidigen oder – je nach Sachlage – zu kritisieren und öffentlich zu erklären, was man in den europäischen Gremien zu tun gedenkt, um gegen den jeweiligen Vorstoß vorzugehen, wird die EU von der Politik und den Medien meist als „höhere Gewalt“ dargestellt, deren Entscheidungen von uns Sterblichen weder kommentiert noch kritisiert werden dürfen.
Wer die EU in trauter Regelmäßigkeit als Buhmann für Gesetzte verantwortlich macht, die man nicht selbst offensiv kommunizieren will, braucht sich auch nicht zu wundern, wenn ein Teil des Volkes auf diesen Trick hereinfällt und in Brüssel tatsächlich einen Buhmann sieht.
Beispiel Diesel-Besteuerung
Dabei geht es nicht nur um Gesetze, die sich gegen die eigenen Bürger richten. Immer häufiger wird in den höchsten politischen Ämtern in Berlin auch ohne Sinn und Not gegen Brüssel polemisiert. Als Beispiel für dieses – sicherlich auch parteipolitisch motivierte – Treiben, kann die aktuelle Hysterie wegen der vermeintlichen Verteuerung des Diesel-Kraftstoffs durch einen Gesetzesplan der EU-Kommission gelten.
Was ist geschehen? Seit vielen Jahren ärgert die Bundesregierung sich darüber, dass LKW-Fahrer nicht in Deutschland, sondern im europäischen Ausland tanken und den Fiskus damit um Einnahmen bringen. Im Jahr 2007 gab die EU-Kommission dann den deutschen Wünschen nach und erarbeitete eine Steuerreform, bei der Mindeststeuersätze für die Kraftstoffe festgelegt werden sollten. Berlin stand natürlich voll und ganz hinter diesen Steuerplänen, ging es doch um 3,6 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen.
Als die Steuerreform in diesem Jahr wieder aufs Tableau kam, brachen zunächst die Medien und dann die Berliner Politik jedoch in blanke Panik aus. „Brüssel macht Diesel teurer“, so klang es unisono aus dem Blätterwald und sowohl Wirtschaftsminister Brüderle als auch Kanzlerin Merkel positionierten sich als die Interessenvertreter des deutschen Autofahrers gegen den „bürokratischen Reglementierungswahn“ aus Brüssel. Das ist erstaunlich, liegt der angedachte Mindeststeuersatz doch ohnehin weit unter dem deutschen Steuersatz, so dass die Pläne der EU-Kommission überhaupt keine Auswirkung auf den Tanksäulenpreis in Deutschland hätten, dem deutschen Fiskus aber dennoch nützen würden, da der Anreiz für den Tanktourismus ins europäische Ausland gemindert werden würde.
Wieder einmal hat die deutsche Politik auf billigste Art und Weise gegen ihren eigenen Vorstoß in Brüssel polemisiert und dabei einen gehörigen Flurschaden angerichtet. So wird man das Image der EU garantiert nicht verbessern können. Die europakritische Rechte reibt sich bei solchen Bubenstücken natürlich die Hände.
Unterschiedliche Vorstellungen von Europa
Glaubt man dem Eurobarometer [PDF – 3.4 MB] der Europäischen Kommission, unterscheidet sich das Wunschbild der Europäer von ihrer EU fundamental vom Status quo und dem Wunschbild der meisten Politiker. Mehr als jeder zweite Europäer sieht in der „Armutsbekämpfung und der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“ das politische Feld, dem die EU oberste Priorität zuweisen sollte. Dieser Punkt liegt dabei in den Umfragen meilenweit vor den anderen politischen Zielen der EU. Schaut man jedoch in den Lissabon-Vertrag oder auf die aktuelle politische Agenda der EU, so muss man erkennen, dass das Thema, welches den Europäern am meisten am Herzen liegt, im politischen Europa gar nicht stattfindet. Im Gegenteil – die verordneten Sparanstrengungen im Rahmen des Euro-Stabilitätspakts nehmen eine Zunahme der Armut und der sozialen Ausgrenzung billigend in Kauf, um die Stabilität der Finanzmärkte nicht zu gefährden.
Wohin bewegt sich Europa? Wie kann man einen sozialen Ausgleich und eine Politik im Sinne der Europäer befördern? Wie kann man die Demokratie auf EU-Ebene stärken? Wie kann man die Entscheidungen der europäischen Gremien transparenter machen? All diese Fragen haben eine Daseinsberechtigung und sollten öffentlich diskutiert werden. Doch diese Diskussion findet nicht statt. Auf jede kritische Frage wird stattdessen mit Fundamentalverteidigung geantwortet. Wer solche Fragen stellt, greift die EU jedoch nicht fundamental an, sondern verlangt Antworten zu Detailfragen.
„Das Volk“, so Tucholsky, „versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig“. Solange sich Politik und Medien jedoch sperren, offen und kritisch über Europa, seine Institutionen und den Euro zu diskutieren, treiben sie damit kritische Bürger – gewollt oder ungewollt – in die europakritische Ecke. Dort hat man simple Antworten auf komplexe Fragen – und nicht nur auf Fragen, die mit der EU und dem Euro zusammenhängen. Wer die Demokratie stärken will, muss sie auch leben.