Die Angst der europäischen Eliten vor den verängstigten Europäern

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Die Motive der gut 800.000 Iren, die Nein zum EU-Reformvertrag gesagt haben, sind vielfältig und mögen vielfach irrational erscheinen, sie lassen sich jedoch nahezu alle auf Ängste zurückführen, dass Irland durch den Lissabon-Vertrag nur verlieren könne.
Die Kampagne der Befürworter für den Reform-Vertrag war jedoch gleichfalls nur ein angstgetriebener Reflex der abgehobenen proeuropäischen Eliten gegenüber diesem Misstrauen der Bevölkerung. Wenn es nicht gelingt diese Angstparalyse der Bürgerinnen und Bürger der EU einerseits zu überwinden und andererseits die Angststarre, mit der sich die europäischen Eliten unbeweglich an ihrem politischen Kurs für Europa festklammern, aufzulösen, wird das die europäische Einheit früher oder später sprengen.

Die „Campaign Against the EU Constitu-tion“ (CAEUC), ein Aktionsbündnis der linken Parteien wie Sinn Fein, den Socialists und SWP (Socialist Workers Party) zusammen mit der Antikriegsbewegung, mit Gewerkschaften, mit Umweltverbänden und zahlreichen anderen Gruppierungen sprach vor allem Ängste der Iren an: Ganz unterschiedliche Ängste, wie dieAngst vor dem Verlust der irischen Steuerhoheit oder der Preisgabe der militärischen Neutralität, die Angst vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft, bis hin zur Angst vor der Zulassung der Abtreibung oder sogar vor der Bedrohung durch eine atomare Wolke über Europa. Es gab kaum ein politisches Feld, dem nicht ein europäisches Bedrohungspotential zugeschrieben wurde, von der Landwirtschaft, über die Fischerei, die Steuerpolitik, die sozialen Rechte, bis hin zur Enttabuisierung der Homosexualität. Der Nein-Kampagne war es möglich die Bedrohung durch alle Übel der Welt auf den Reformvertrag projizieren. Die wirtschaftliche Krise, das Platzen der Immobilienblase, die Teuerung boten die realen Anknüpfungspunkte zu einem bis vor kurzem in Irland noch unerwarteten EU-Skeptizismus bei.

Der Abstimmungssieg der EU-Vertagsgegner spiegelt einen denkwürdigen Stimmungsumschwung unter den Iren wieder, wo doch der „keltischen Tiger“ angeblich von der EU am meisten profitiert hatte.

„It could be worse“, das hat Heinrich Böll in seinem „Irischen Tagebuch“ als die am meisten gebrauchte Redensart der Iren notiert. „Things Can Only Get Worse“, so interpretierte ganz im Gegensatz zu dem von Böll konstatierten Nationalcharakter die Irish Times die Stimmungslage der Nein-Sager auf der grünen Insel. Die Mehrheit der Iren ist offenbar nicht mehr bereit, dem „Schicksal unbegrenzten Kredit“ (Böll) einzuräumen, sie glaubt anders als früher nicht mehr daran, dass man durch Europa nur gewinnen könne. Die Mehrheit denkt offenbar vor allem daran, was man durch diesen Vertrag verlieren könne.

Das erklärt auch, warum die Ablehnung quer durch die „Klassen“ (wie das in Irland noch heißt) und – bis auf die Region um Dublin – quer durch urbane und ländliche Regionen ging.

Diejenigen, die mit „nil“ abgestimmt haben, aber auch ein Großteil derjenigen, die nicht zur Abstimmung gegangen sind, glaubten den Versicherungen ihrer Regierung, ihrer wirtschaftlichen und politischen Eliten nicht mehr. Sie glaubten nicht mehr daran, dass diese Eliten wüssten, was gut für die Iren ist. Sie haben das Gefühl, dass die europäische Politik weit weg ist von den Sorgen der Bürgerinnen und Bürgern. Sie sehen in den Europapolitikern Leute, die weit abgehoben sind und die ohne Rücksicht auf die Sorgen der Bevölkerung tun und lassen können, was sie wollen.

Viele Gewinner des irischen Aufschwungs interessiert die Europäische Union ohnehin nicht, sie sehen sich als ihres eigenen Glückes Schmied an und führen ihren wirtschaftlichen Erfolg auf ihre persönliche Leistung zurück. Viele dieser Aufstiegsgewinnler sind gar nicht erst zur Urne gegangen, denn für sie sind staatliche Verträge so oder so nur von Übel.

Bis auf einige Ausnahmen sind im Aktionsbündnis der Vertragsgegner keine nationalistischen Europagegner vertreten. Die Gegner des Vertrags sind nicht gegen Europa, sie sind gegen einen Vertrag, dem sie misstrauen, den sie nicht verstehen, der jedenfalls keine Verbesserungen ihrer Belange in Aussicht stellt. Die Nein-Sager wollen ganz überwiegend einen anderen, einen besseren Vertrag. „It is a pro-European message“ erklärte der Gründer der „Libertas“ und No-Aktivist Declan Ganley, eine Botschaft für ein anderes, sozialeres Europa.

Obwohl mit Ausnahme der in der irischen Republik relativ bedeutungslosen Sinn-Fein-Partei alle anderen fünf im Parlament vertretenen politischen Gruppierungen für den Lissabon-Vertrag eingetreten sind, obwohl die Geschäftswelt und große Teile der Gewerkschaften, die Bauern und sogar die Bischöfe dem Vertrag ihren Segen gegeben haben, ist ihnen die Mehrheit der irischen Bürgerinnen und Bürger nicht gefolgt.

In der herben Niederlage nahezu der gesamten irischen Eliten, drückt sich auch ein tiefsitzender Widerwille der Iren gegen den herrschenden politischen Meinungsmainstream aus. Bezeichnend für das geradezu arrogante Weiter-So der Meinungs- und Machteliten war, dass sie die Gegner anfangs nicht ernst nahmen und gar nicht erst versuchten, der Bevölkerung zu erläutern, warum dieser Vertrag gut für die Iren sei. So war die Kampagne der Vertragsbefürworter je näher die Abstimmung rückte nur noch ein gleichfalls angstgetriebener Reflex auf die Angstkampagne der Vertragsgegner. Die Argumente der irischen Befürworter des Lissabon-Vertrages reagierten im Wesentlichen nur auf die Kampagne der Nein-Sager. Die Führungsschichten bauten offenbar darauf, wenn wir, die Eliten Ja sagen, dann muss das reichen. Den Befürwortern fehlten die Botschaften für eine positive Entwicklung für Europa und für Irland. Sie beschränkten sich vor allem darauf, haarsträubende Zukunftsbilder darüber an die Wand zu malen, was passieren würde, wenn die Iren nicht zustimmten: Schande für Irland, Isolation, Investitionsblockaden seien die Folge. Solche Bedrohungsszenarien, bestätigten aber das Misstrauen der Menschen eher, als dass sie Ängste zerstreuen konnten. „Yes sound anything but positive“ urteilte selbst die Irish Times.

Aber nicht nur den herrschenden Eliten in Irland sondern auch in ganz Europa sitzt nach der Abstimmungsniederlage die Angst im Nacken. Sie spüren, wie dünn das Eis ist, auf dem sie sich bewegen. Sie wissen nur zu gut, dass die Bevölkerungen in vielen Ländern Europas, wenn sie abstimmen dürften, gegenüber dem Lissabon-Vertrag eine genauso ängstliche und misstrauische Haltung einnehmen würden wie die Iren.

So haben etwa nach dem Eurobarometer 68 vom Herbst 2007 [PDF – 204 KB] in Deutschland nur 39 Prozent und eine Minderheit von 48 Prozent der Europäer Vertrauen in die Europäische Union. Nach einem anderen Stimmungsbarometer geben 64 Prozent der Befragten an, die Politik der Europäischen Union sollte sozialer sein. Doch diese Legitimationsdefizite, die sich seit längerer Zeit aufgebaut haben, werden von den dogmatischen Marktverfechtern und den EU-Technokraten nicht ernstgenommen – vielleicht sogar in ihrer Abgehobenheit nicht einmal wahrgenommen.

Geschichte wiederholt sich, wenn man nicht aus der Geschichte lernt. 2005 haben die Franzosen und die Niederländer die EU-Verfassung abgelehnt. Die politischen Eliten reagierten damals wie sie heute nach dem Nein der Iren reagieren.

Die Reaktionen der Politiker im übrigen Europa, lassen in keiner Hinsicht erkennen, dass sie ihre Lektionen aus den Niederlagen der Volksabstimmungen gelernt hätten oder etwas lernen wollten. Merkel und Sarkozy reden von „Respekt“ gegenüber der Abstimmung, lassen aber gleichzeitig erkennen, dass sie das Ergebnis gerade nicht respektieren wollen. Europas Eliten sprechen von einem Rückschlag, sie sind enttäuscht und sie verkünden trotzige Durchhalteparolen. Statt die ablehnenden Referenden als einen Anstoß zu nehmen, darüber nachzudenken, was falsch läuft in Europa, sucht man wie schon nach der Ablehnung der Franzosen und der Niederländer nun auch nach der Niederlage in Irland ausschließlich nach Umgehungsstrategien für das ablehnende Referendum.

Der Ratifizierungsprozess des Vertrages dürfe bloß nicht aufgehalten werden. Man setzt also die Selbsttäuschung fort und behauptet entgegen ganz anderer Signale, dass eine riesige Mehrheit nicht „von einer Minderheit einer Minderheit übertölpelt“ werden dürfe (Axel Schäfer, SPD). Nach dem Motto, warum sollten wir uns immer wieder von der Bevölkerung Knüppel zwischen die Beine werfen lassen, spricht sich der Präsident des Europäischen Parlaments, Pöttering (CDU), generell gegen die Methode des Volksentscheids aus. Der französische Präsident Sarkozy fordert wenige Stunden nach der Abstimmung die Iren auf, einfach nochmals abzustimmen. Der deutsche Außenminister droht aus Peking, dass Irland aus dem Integrationsprozess vorübergehend aussteigen könne, um ein Inkrafttreten des Vertrages in den übrigen Mitgliedsstaaten möglich zu machen. Selbst die ehemals so basisbezogenen Grünen wie Jürgen Trittin oder der Europaexperte Rainer Steenblock, wollen das Verfahren hinterfragen, „bei dem drei Millionen Menschen darüber entscheiden könne, wie 500 Millionen Menschen ihre (!) politische Zusammenarbeit gestalten, ohne dass das für sie Konsequenzen hat“. Man spielt einmal mehr mit dem Gedanken eines Europas der zwei Geschwindigkeiten mit einem Kerneuropa, das sich enger zusammenschließt und mehr oder weniger eng assoziierten Randstaaten. Und schließlich könne man zur Not auch einfach auf der Basis des Nizza-Vertrages weitermachen.

Die Angst vor weiteren Rückschlägen treibt die Europapolitiker zur Flucht nach vorne. Sie nehmen dabei in Kauf, dass ihre Gefolgschaft immer weiter zurückbleibt.

Ganz typisch ist die Debatte über den Lissabon-Vertrag bei uns im Lande:
Man verkauft den Vertrag als Gewinn an Handlungsfähigkeit, ja sogar an Demokratie. In ihrer technokratischen Abgehobenheit reduzieren die Politiker die Inhalte des Lissabon-Vertrages auf eine Art Institutionenlehre. Gerade so, als ob die Verlängerung der Amtszeit des Ratspräsidenten, die Verkleinerung der Kommission, der Verzicht auf die Einstimmigkeit oder ein bisschen mehr Mitsprache (nicht etwa mehr Mitentscheidung) des Europäischen Parlaments für die Menschen in Europa ein persönlicher Gewinn wären.

Es ist schon bemerkenswert, wie gerade in der öffentlichen Debatte in Deutschland kaum jemand über die Inhalte des Vertrages von Lissabon spricht. Und das hat seine Gründe: Man müsste nämlich einräumen, dass der Vertrag die liberalen Wirtschaftsrechte sozusagen als europäisches Verfassungsrecht festschreibt. Man müsste offensiv vertreten, dass die Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee in eine weltweit agierende europäische Interventionsarmee integriert werden soll und man müsste sich offen dazu bekennen, dass ganz Europa mit einem Überwachungsnetz zur Sicherheit nach innen und außen überzogen werden soll.

Ganz im Gegensatz dazu spüren die Menschen überall in Europa, dass bei ihrer sozialen Absicherung etwa bei der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, bei ihren Arbeitnehmerrechten vom Streikrecht bis zu den Wochenarbeitszeiten, mit diesem Vertrag ihre jeweils erkämpften unterschiedlichen sozialen Rechte von oben ausgehebelt werden. Die Intelligenz bei uns im Lande erkennt, dass mit diesem Vertrag kulturelle Errungenschaften, wie etwa der öffentlich-rechtliche Rundfunk den Marktgesetzen unterstellt oder Bildung zur Ware wird oder wie das Grundgesetz zum nachrangigen Recht degradiert wird.

Weil die Europapolitiker wissen, dass die derzeitigen Vertragsinhalte bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht als positive Botschaften für die Entwicklung zu einer politischen Union ankommen, traut man sich nicht sie offen auszusprechen.

Man hofft darauf, dass die Unehrlichkeit mit der die Ablehnung des früheren EU-Verfassungsvertrags durch die Franzosen und Niederländer unterlaufen wurde, nicht durchschaut würde. Glaubt man wirklich, dass in diesen Ländern die Zustimmung zu einem nahezu identischen und nur unverständlicher gewordenen neuen Vertrag dadurch gewachsen ist, dass man in Frankreich und den Niederlanden durch zwischenzeitliche Gesetzesänderungen eine neuerliche Volksabstimmung unterlaufen hat?

Angesichts solcher Verweigerungshaltungen gegenüber der Stimmungslage in der Bevölkerung drängen sich geradezu historische Vergleiche zu untergehenden Herrschaftsformen aus. Wie die Monarchen nicht wahrnehmen wollten, dass das Bürgertum deren Gottesgnadentum nicht mehr akzeptierte und wie die Bourgeoisie aus Angst vor dem aufkommenden Proletariat etwa mit dem Dreiklassenwahlrecht Brandmauern zur Stabilisierung ihrer Machtansprüche errichtete, so versuchen die quasi-feudal abgehobenen neuen europäischen Machteliten den Unmut und das Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger in Europa zu unterlaufen, indem vertragliche Fakten geschaffen werden.

Die Durchhaltparolen für den Lissabon-Vertrag nach dessen Ablehnung durch die Iren spiegeln nicht mehr und nicht weniger, als die Angst der europäischen Eliten vor dem Unbehagen der Europäer wieder. Gerade diese Angst der Machthaber ist dann wiederum der Nährboden für (notwendigerweise auch irrationale) Ängste der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem europäischen Einigungsprozess. Angst ist jedoch der schlechteste Ratgeber, denn aus der Angst von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern entsteht zunehmende Ablehnung und Schuldzuweisung, ja letztlich vielleicht sogar irgendwann Hass.

Die Europäische Union hat ein halbes Jahrhundert für Frieden, Stabilität und sogar für mehr Wohlstand gesorgt, das hat die Europäer für Europa eingenommen. Das Wohlstandsversprechen ist für viele angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Lohndumping schon gebrochen. Wenn das europäische Projekt noch weitere positive Identifikationen verliert, dann stellt es sich auf Dauer selbst in Frage. Die Ablehnung und die Schuldzuweisung werden sich dann vielleicht nicht mehr in Volksabstimmungen ausdrücken können, dafür könnte es aber weitaus gefährlichere Ventile geben.

Bemerkenswert

In Spanien und Großbritannien herrscht ein überaus positives Europabild vor (86 % bzw. 63% positive Wertungen), während Europa in Deutschland und Frankreich negativ eingeschätzt wird (51 % bzw. 54 % negative Antworten). An erster Stelle stehen die sozialen Erwartungen an Europa: 64 % der Befragten geben an, die Politik der Europäischen Union sollte sozialer sein, während sich lediglich 26% eine liberalere EU-Politik wünschen; dieser Erwartung drückt sich auch in dem gemeinsamen Wunsch nach einer Harmonisierung der Steuersysteme in den Ländern der EU aus: Insgesamt 68 % der Befragten sind dafür, und in allen in die Umfrage einbezogenen Ländern stellen die Befürworter die Mehrheit.

An zweiter Stelle geben die EU-Bürger als generelle Prioritäten für die kommenden Monate insbesondere die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (63%) und des Terrorismus (43%) an.

Das Meinungsforschungsinstitut LH2, die EBS Paris (European Business School) und Arte (Magazin Forum der Europäer) haben den ersten europäischen Stimmungsbarometer für Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien realisiert.

Nur, niemand denkt darüber nach was falsch gelaufen sein könnte. Nein man tut so als dürfe eine Minderheit von 862,415 Nein-Stimmen den europäischen Einigungsprozess nicht aufhalten.

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