Ungereimtes und immer wieder „Reformen“
Tagebuchnotizen vom 18.10. abends. Wieder neigt sich ein denkwürdiger Tag seinem Ende entgegen.
- Der Bundespräsident verabschiedet das Kabinett Schröder und dokumentiert in seiner kleinen Ansprache einmal mehr seine Parteilichkeit: Er lobt das Kabinett Schröder dafür, dass es die Bundeswehr zu Kampfeinsätzen in den Kosovo Krieg geschickt hat, aber er erwähnt nicht die Weigerung der abtretenden Bundesregierung, in ähnlicher Weise den Irak-Krieg mitzumachen. – Köhler bringt selbst in einer kurzen Ansprache die gängigen Parolen der Neoliberalen unter: Zeichen des Umbruchs; verschärfter weltweiter Wettbewerb und Alterung erfordern eine neue Politik; um den Sozialstaat zu sichern, brauchen wir Veränderung; die neue Bundesregierung muss die begonnenen Reformen fortsetzen und so weiter. Er redet so, als habe er das Wahlergebnis gar nicht zur Kenntnis genommen. Es drückt jedenfalls alles andere aus als das, was Köhler sagt. Die Erklärung des Bundespräsidenten ist als Anlage 1 angefügt.
- Am gleichen Tag veröffentlicht das Bundespresse- und Informationsamt die Zusammenfassung einer Rede des scheidenden Chefs des Bundeskanzleramts und designierten Außenministers Steinmeier auf einer Mittelstandstagung mit der gleichen Werbung für die Fortsetzung der Reformen. Alles ein bisschen sozialdemokratisch eingefärbt, aber im Kern die Agitation für die Agenda 2010. Sie würde zwar nicht mehr Agenda 2010 heißen, aber um so konsequenter fortgesetzt werden müssen. Auch dieser Text ist als Anlage 2 angefügt.
- Steinmeier meint – so die Erklärung des Bundespresseamtes: <> Das klingt hier wie bei der Kampagne „Du bist Deutschland“. oder der Eröffnungsansprache des Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages Schily und es ist interessant zu beobachten: Die gleichen Leute und Kräfte, die jahrelang unser Land und seine Strukturen schlecht geredet haben, um Strukturreformern „alternativlos“ oder „objektiv notwendig“ erscheinen zu lassen, und deren Bundespräsident seine Rede zur Auflösung des Bundestags mit einer dramatischen Schwarzmalerei begonnen hatte, schalten plötzlich um. Jetzt, wo sie mit der Großen Koalition ihre „Reformen“ für gesichert halten, sehen sie die Welt plötzlich ganz anders. Das hätten Sie mal früher tun sollen, dann wäre unser Land nicht in einer so tiefen, wirtschaftlichen und psychischen Depression gelandet.
- Dem Vorsitzenden der Linkspartei Bisky hat die Mehrheit der Abgeordneten auch im dritten Wahlgang zum Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages die Wahl verweigert. Einmal abgesehen davon, dass ich es für einen Affront gegenüber den Wählerinnen und Wählern einer immerhin demokratisch legitimierten Partei halte, finde ich den Vorgang deshalb interessant, weil unter den Ablehnenden ja eine Mehrheit von Abgeordneten ist, die keine Gewissensbisse hat, einen Mann wie Wolfgang Schäuble zum Innen- und Verfassungsminister zu machen. Einen Politiker von dem man weiß, dass er so eben mal ein Kuvert mit 100.000 DM in bar, das von einem Rüstungslobbyisten stammte, entgegengenommen hat, ohne wissen zu wollen, woher das Geld kommt und warum es geflossen ist. Schäuble musste damals zurücktreten. Man stelle sich einmal vor, ein normaler Angestellter wäre, wegen eines solchen Fehlverhaltens gefeuert worden. Hätte er jemals wieder eine Chance, in der selben Firma wieder angestellt und gar noch in eine Leitungsfunktion übernommen zu werden? Rechnet man wirklich auf ein so kurzes Gedächtnis der Menschen in unserem Land? Offenbar tut man das.
- Steinbrück übt sich weiter in der Rolle als kommender Spar-Minister, sozusagen Hans Eichel als „Sparkommissar“ im Quadrat. Er erzielt auch die gleichen Anfangserfolge in den Medien wie Hans Eichel zu Beginn seiner Zeit als Bundesfinanzminister. Die deutschen Medien lieben Sparkommissare über alles. Weil sie den Rückzug des Sozialstaates wollen und weil sich Reiche einen armen Staat leisten können, und weil sie deshalb nicht begreifen wollen, dass in einer makroökonomischen Betrachtung Sparabsicht in der Haushaltspolitik nicht gleich Sparerfolg ist. Wir steuern auf eine Brüning’sche Situation zu. Das interessiert aber auch zu Beginn der großen Koalition offenbar niemanden. Als Ökonom fasst man sich an den Kopf und ist entsetzt wie kopflos Politik und Medien unser Land und unseren Staat weiter herunterwirtschaften wollen.
Anlage 1:
Erklärung des Bundespräsidenten zur Verabschiedung des Kabinetts Schröder:
Bundespräsident Horst Köhler hat die Arbeit des Bundeskanzlers und der Bundesministerinnen und Bundesminister mit dem Ende ihrer Amtszeit bei der Überreichung der Entlassungsurkunden gewürdigt und auf die Aufgaben der kommenden Bundesregierung hingewiesen
18.10.2005
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrte Bundesministerinnen und Bundesminister,
mit dem Zusammentritt des 16. Deutschen Bundestages endet nach dem Grundgesetz auch Ihre Amtszeit als Bundeskanzler und als Bundesministerinnen und Bundesminister. Dies bringen die Urkunden zum Ausdruck, die ich Ihnen sogleich aushändigen werde.
Herr Bundeskanzler, Sie haben mit Ihrer Koalition die Bundesrepublik Deutschland in das neue Jahrtausend geführt. Die sieben Jahre Ihrer Amtszeit standen weltweit im Zeichen des Umbruchs.
Gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit trat die Bundeswehr an der Seite von NATO-Partnern in ihren ersten Kampfeinsatz ein, um eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern. Der 11. September 2001 konfrontierte die Welt mit einem bis dato unvorstellbaren Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika, der alle freien und friedliebenden Menschen und Nationen traf. In den Jahren danach wurde auch unser Kontinent Europa zum Ziel des Terrors.
Abschließende Antworten auf die neuen weltpolitischen Herausforderungen haben wir noch nicht gefunden. Doch mit der Einführung des EURO und mit der Erweiterung der Europäischen Union um die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa sind wir zusammengerückt und stärker geworden, und Deutschland leistet tatkräftig einen wichtigen Beitrag für Frieden und Freiheit in der Welt.
In der Zeit nach ihrer Wiederwahl 2002 konzentrierte sich die Bundesregierung auf die Gestaltungsaufgaben im Inneren. Der verschärfte weltweite Wettbewerb und die Folgen der Alterung unserer Gesellschaft erforderten eine neue Politik. Die Agenda 2010 zu entwerfen und gegen große Widerstände durchzusetzen, verlangte politischen Mut und hohen Arbeitseinsatz. Wie Sie wissen, habe ich diesen Reformkurs immer unterstützt. Er dient dem Wohle Deutschlands.
Herr Bundeskanzler, im Sommer haben Sie sich entschieden, Neuwahlen anzustreben, da Sie für Ihre Politik keine verlässliche Mehrheit in den Reihen der Koalition mehr sahen. Meine Prüfung der Lage führte zu der Entscheidung, Neuwahlen anzusetzen.
Deutschland steht weiterhin vor großen Aufgaben. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Last der Schulden wiegen schwer. Wir alle wollen den Sozialstaat erhalten, aber wir wissen: Um einen modernen, starken Sozialstaat zu sichern, brauchen wir die Kraft und den Mut zur Veränderung.
Es wird Aufgabe einer neuen Bundesregierung sein, diesen Weg zu gestalten und die begonnenen Reformen mit Stetigkeit, Stimmigkeit und Berechenbarkeit fortzusetzen. Eine breite Basis im Bundestag bietet die Chance, die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam für diesen Weg zu gewinnen. Ich bin sicher: Deutschland hat die Begabung und die Fähigkeit, die vor uns liegenden Aufgaben zu meistern. Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren Bundes ministerinnen und Bundesminister:
Für die dem deutschen Volke geleisteten treuen Dienste spreche ich Ihnen Dank und Anerkennung aus.
Sie haben mit Ihrer ganzen Kraft unserem Land gedient. Jedem von Ihnen wünsche ich alles Gute für Ihren weiteren Weg und persönliches Wohlergehen. Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie, die Geschäfte bis zur Ernennung Ihrer Nachfolgerin oder Ihres Nachfolgers im Amt des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland weiterzuführen.
Anlage 2:
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
“REGIERUNGonline” – Wissen aus erster Hand
Veröffentlicht am: 18.10.2005
Große Koalition
Frank-Walter Steinmeier: Die Reformen gemeinsam konsequent fortführen
Mit Augenmaß und sozialer Verantwortung gelte es auch in der Großen Koalition, die mit der Agenda 2010 begonnenen Reformen zur Modernisierung der Sozialsysteme fortzusetzen und Deutschland zu neuer wirtschaftlicher Stärke zu bringen. Das hat der Chef des Bundeskanzleramts Frank-Walter Steinmeier auf einer Mittelstandstagung der deutschen Industrie gefordert.
Die kommende Bundesregierung müsse weiter daran arbeiten, “das zu stärken, was Deutschland stark gemacht hat”, sagte Steinmeier am 18. Oktober auf dem Tag des industriellen Mittelstandes beim Bund der Deutschen Industrie (BDI). Dazu zählten neben einem hohen Innovationspotenzial vor allem weltoffene Unternehmer und gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – und nicht zuletzt ein hohes Maß an sozialem Frieden in einem Staat, der verlässlich für Rechtssicherheit sorgt.
Mit diesen Stärken solle Deutschland sehr viel selbstbewusster umgehen, betonte Steinmeier. Das legten auch die Urteile internationaler Experten nahe, die der Bundesrepublik in den vergangenen Wochen mehrfach beachtliche Wettbewerbsstärke und eine dynamische Entwicklung bescheinigt hatten. Die Mittelständler tagen in Berlin unter dem Motto “In Deutschland zu Hause – erfolgreich in der Welt”.
Modernisierung eines Erfolgsmodells
Die bevorstehende Große Koalition habe von den Wählerinnen und Wählern den Auftrag zur Analyse und Renovierung des deutschen Erfolgsmodells erhalten, sagte Steinmeier. Bei der weiteren Modernisierung des Staates und der Sozialsysteme müsse allerdings auf gesamtgesellschaftliche Ausgeglichenheit geachtet werden, so der Kanzleramtschef. Forderungen nach einem radikalen Wechsel würden von den Menschen weniger als Ausweg, denn als Bedrohung verstanden – und gefährdeten so letztlich ihre Veränderungsbereitschaft.
Frank-Walter Steinmeier erinnerte daran, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht allein Aufgabe der Politik seien, sondern ein gesamtgesellschaftliches Produkt. “Jeder ist gefordert, um das Land gemeinsam nach vorn zu bringen”, sagte Steinmeier und erinnerte an die Kampagne der Initiative Partner für Innovation unter dem Motto “Du bist Deutschland!”. Panikmache und ein “fast schon masochistischer Pessimismus”, wie er in jüngerer Vergangenheit häufig zu beobachten gewesen sei, seien dabei nur hinderlich.
“Wir brauchen Ehrlichkeit und Klarheit über unsere Schwächen – aber auch über unsere Stärken”, so Steinmeier. Und die Stärken seien unverkennbar: Als weltweit anerkannte so genannte “Hidden Champions” sorgten insbesondere die Unternehmen der mittelständischen Industrie für einen deutschen Spitzenplatz bei den Hochtechnologien: etwa in der Automobiltechnik, bei den regenerativen Energien oder im Maschinenbau.
Keine “Koalition des Stillstands”
Auch die Zeichen der vergangenen Monate seien ermutigend: So ist die Produktivität der Unternehmen gestiegen, während die Lohnstückkosten zurückgingen. “Unser Land bewegt sich in die richtige Richtung”, erklärte Steinmeier. Diesen Wachstumstrend müsse die Politik nun stärken, indem sie die sozialen Sicherungssysteme weiter zukunftsfest macht.
Gleiches gelte für die gemeinsame Einsicht in die Notwendigkeit, die Investitionen in Bildung und Forschung zu erhöhen sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Um an die deutschen Erfolge der Vergangenheit anknüpfen zu können, sollen künftig drei Prozent des Bruttoinlandsprodukt (und damit rund 65 Milliarden Euro) in Forschung und Entwicklung fließen.