„Ich hoffe, dass in den Verlusten auch ein Zeichen von Abwendung steckt“ – Interview mit Günter Wallraff
Die Otto Brenner Stiftung (OBS) hat wieder einmal einen kritischen Blick auf die Berichterstattung der deutschen Medien geworfen. Nachdem die Autoren Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz im letzten Jahr den Wirtschaftsjournalismus vor und während der Wirtschafts- und Finanzkrise begutachteten, analysierten sie in diesem Jahr die Berichterstattung Deutschlands auflagenstärkster Tageszeitung während der Euro- und Griechenlandkrise. Die Studie »Drucksache „Bild“ – Eine Marke und ihr Mägde« wird heute im Printformat veröffentlicht und am Freitag ausführlich auf den NachDenkSeiten vorgestellt. Bereits heute möchten wir unseren Lesern das Interview der OBS-Autoren mit dem Enthüllungsjournalisten und BILD-Kenner Günter Wallraff vorstellen. Jens Berger
Herr Wallraff, wie beschreiben Sie „Bild“?
WALLRAFF: Sie ist eine Art Wundertüte, da ist alles drin – Unterhaltung, menschliche Dramen, zum Konsum aufbereitet, Sex, Verbrechen, Appelle an niedere Instinkte. So verschieden die Themen auch sind, in einem gleichen sie sich: Es durchzieht sie der Charakterzug der mal subtilen, mal grobschlächtigen Beeinflussung. Es gibt ein Meinungsdiktat. Das gilt für jede einzelne Geschichte: Das ist die Wahrheit, hier steht sie, so war und so ist das. Und es gibt ein Diktat, welches das gesamte Blatt prägt. Eine sehr eindeutige Haltung, vor allem wenn es um politische Interessen geht. „Bild“ bedient immer die Interessen des konservativen Lagers, das ist eine Konstante. Das gilt vor allem, wenn Wahlkampf ist. Da ist Verlass auf „Bild“: Es wird immer der jeweils konservativste Kandidat unterstützt und der andere entweder ignoriert oder offen bekämpft. Das hat sogar Gerhard Schröder in seiner Amtszeit zu spüren bekommen, obwohl er sich dem Blatt für jede Homestory öffnete, obwohl er sich einen „Bild“-Mann als Regierungssprecher holte, obwohl er Hardliner-Sprüche losließ gegen Sexualstraftäter und straffällig gewordene Ausländer, obwohl er „Bild“ adelte, indem er sagte, er brauche zum Regieren nur „Bild“, „BamS“ und „Glotze“. Im Wahlkampf hat ihm das dann nichts mehr genützt …
Aber den Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber im Jahr 2002 und Angela Merkel im Jahr 2005 hat es umgekehrt letztlich doch auch nichts genützt …?
WALLRAFF: Das ist vom Ergebnis her in diesen beiden Fällen richtig. Von „Bild“ unterstützt zu werden, das ist heute – im Gegensatz zu früher – weniger denn je eine Garantie, Erfolg zu haben. Aber auch in diesen Fällen gilt: „Bild“ hilft. Ich versuche einmal, den möglichen Einfluss und die Kraft von „Bild“ zu beschreiben. Das Blatt hat sicher die Kraft, in solchen Wahlkämpfen die Stammwähler mit zu mobilisieren, mit bestimmten Kampagnen, die für den konservativen Kandidaten sprechen oder die seinen Gegenkandidaten denunzieren, Angst vor ihm schüren. „Bild“ hat meines Erachtens – besonders in politischen Auseinandersetzungen – eine Kraft zur Zerstörung: Indem sie Inhalte falsch oder etwas falsch darstellt, aus dem korrekten gültigen Zusammenhang herausreißt und in einen falschen hineinsetzt. Wenn der Wahlausgang knapp zu werden droht und „Bild“ in der Schlussphase eine entsprechende Kampagne gegen den nichtkonservativen Kandidaten startet, kann das schon die Entscheidung bringen. Zumal „Bild“ Kombattanten hat, die, wenn das Jagdhorn ertönt, mitmachen und ebenfalls losschlagen, nicht nur in Behörden und Parteien, auch in anderen Medien. Ich befürchte, dass diese Netzwerke im Medienbereich sogar stabiler und größer geworden sind. Wenn Journalisten um ihre Arbeitsplätze bangen oder junge Journalisten noch gar keinen richtigen Arbeitsplatz haben, überlegen sich viele, ob sie es sich mit einem potenziellen künftigen Arbeitgeber „Bild“ und damit Springer verscherzen oder ob sie sich ihn vorsorglich gewogen machen. Es ist doch heute so: Wenn Sie sich als Journalist mit Springer und „Bild“ anlegen, dann haben Sie faktisch einen großen, mächtigen Arbeitgeber weniger. Wenn Sie mit denen paktieren, dann haben Sie nicht einen potenziellen Arbeitgeber weniger, sondern einen mehr. Denn „Bild“ gut zu finden und dessen Themen und Weltbilder zu verstärken, das ist doch heute, im Gegensatz zu früher, für keinen Verlag mehr ein Grund, jemanden nicht einzustellen – im Gegenteil. Aus alldem schließe ich, dass „Bild“ mit seinen Netzwerken eine Macht in dieser Gesellschaft ist.
Helmut Schmidt hat in den 1970er Jahren, als er Bundeskanzler war, einmal gesagt, wer sich mit Springer und „Bild“ anlege, der begehe politischen Selbstmord. Das war schon damals eine politische Bankrotterklärung und ist es heute immer noch. Diese Diagnose sagt ja erst einmal mehr über die Sichtweise der Politik auf „Bild“ und den Springer-Konzern als über deren tatsächliche Macht.
Müssen Politiker vor „Bild“ unverändert Angst haben?
WALLRAFF: Sie stehen ständig unter Beobachtung von „Bild“. Bedenken Sie den Aufwand, den „Bild“ treibt, mit über 800 Mitarbeitern und vermutlich Hunderten, wenn nicht Tausenden von Zuträgern. Die sind tatsächlich in der Lage, alle Politiker, an denen sie Interesse haben, flächendeckend zu beobachten. Diese Politiker wissen, dass „Bild“ die private Sphäre nicht schützt, sondern – im Gegenteil – auch möglichst viel privates Material sammeln will. Und deshalb wissen die alle: Ich muss mit allem rechnen. Insbesondere wenn ich einen gewissen Einfluss und eine Bedeutung habe und mich deutlich links des Mainstreams bewege oder mal auch nur eine vom Mainstream abweichende Position vertrete. Dann schlagen die zu, keiner weiß, wann und wie. In meinen Augen ist „Bild“ so eine Art Zuchtmeister für Politiker, der mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitet. So hat Axel Springer selbst „Bild“ als seinen „Kettenhund“ bezeichnet. Der soll erst einmal nur einschüchtern, kann aber auch von der Leine gelassen werden und einen zerfleischen. Das ist auch ein Grund, warum sich viele dem Blatt zur Verfügung stellen: Sie wollen den Kettenhund milde stimmen. Das nützt aber nichts, siehe das Beispiel Gerhard Schröder.
Hat sich der Charakter von „Bild“ in den vergangenen Jahrzehnten in wichtigen Details oder gar im Grundsatz verändert?
WALLRAFF: Es gab und gibt Wellenbewegungen. Die hängen mit den jeweiligen Chefredakteuren zusammen. Diese prägen über die Auswahl der Themen und deren Machart schon die Tonlage des Blattes: beispielsweise aggressiver oder softer, spielerischer oder ideologischer. Da gibt es Hardliner und Nichthardliner. Claus Larass hat beispielsweise ein weniger gefährliches Blatt gemacht, da wurden weniger und weniger systematisch niedere Instinkte geschürt. Dann gibt es Chefredakteure, die politisch relativ frei, und welche, die fest eingebunden sind, wie beispielsweise der jetzige Chefredakteur Kai Diekmann bei Helmut Kohl und Teilen der Union. In Wahlkämpfen müssen dann sowieso alle parat stehen, aber jemand wie Diekmann, der steht ja im Zweifel ständig parat und erfüllt ein Übersoll.
Können Sie skizzieren, was Sie unter einer Wellenbewegung bei „Bild“ verstehen?
WALLRAFF: Also nehmen Sie Diekmann. Der ist politisch eingebunden, und er ist gegen alles, was auch nur annähernd progressiv aussieht. Ich glaube, der führt einen Kampf gegen die 68er und deren politisches Erbe. Der spricht das nicht aus, er ist ja nicht blöd, der inszeniert sich vielmehr ganz locker, ist Genossenschaftler bei der „Tageszeitung“. Gegen die 68er!, das ist seine Mission; die und deren Erbe würde er am liebsten in Gänze denunzieren. Erinnern Sie sich an die Kampagnen gegen Jürgen Trittin und Joschka Fischer! Und auf der anderen Seite werden dann die Hardliner, konkret einer der ausgekochtesten Politiker wie Roland Koch, hofiert und unterstützt. Denken Sie nur an die Kampagne, die Roland Koch in seinem Landtagswahlkampf 2008 gegen gewalttätige ausländische Jugendliche betrieb, das geschah ja in enger Zusammenarbeit mit „Bild“. Ich sehe hier einen sich zeitweise selbstironisch und locker inszenierenden Chefredakteur auf ideologischem Kreuzzug.
Unabhängig von solchen Wellenbewegungen: Was ist bei „Bild“ 2010 anders als beispielsweise bei „Bild“ Mitte der 1970er oder 1980er Jahre?
WALLRAFF: Was sich eher grundsätzlich geändert hat: Zu meiner Zeit kamen diejenigen bei „Bild“ voran, die gar nicht aus dem Journalismus kamen. Das waren beispielsweise Typen aus Drückerkolonnen, die es gelernt hatten, Leute geschickt oder massiv zu beeinflussen, weil sie denen etwas andrehen mussten und ihnen oft mit der Tür ins Haus fielen. Heute ist das grundsätzlich anders. Bei „Bild“ arbeiten Journalisten, die ihr Handwerk sehr wohl gelernt haben, ohne dass jedoch deshalb aus „Bild“ Journalismus geworden ist, zumindest so wie ich ihn verstehe. „Bild“ ist deshalb und aus anderen Gründen – die Gesellschaft hat sich im Grundsatz geändert, frühere Fronten und Lager gibt es nicht mehr – weniger grobschlächtig geworden, subtiler. Da sind heute schon Journalisten dabei, die würden gerne bei „Bild“ einen anderen Journalismus machen, das sind aber nicht diejenigen, die entscheiden. Mit manchen habe ich auch Kontakt. Ich denke immer noch, es müsste möglich sein, ein im guten Sinne aufklärerisches Boulevardblatt zu machen. Aber wahrscheinlich ist das doch ein Widerspruch in sich, die Machart des Boulevards und die Aufklärung. Da gibt es Leute, die beispielsweise keinen verleumderischen Stil pflegen. Aber wenn es darauf ankommt, dann bestimmen die Hardliner, unverändert.
Was zeichnet den Hardliner bei „Bild“ aus?
WALLRAFF: Sie setzen das Mittel der Verleumdung bedenkenlos ein. Sie differenzieren nicht, sondern sorgen dafür, dass die holzschnittartigen Weltbilder verbreitet werden. Das sind auch diejenigen, die dafür sorgen, dass bestimmte Politiker eingeschüchtert oder sogar abgeschossen werden. Sie lassen Politiker bis in die private Sphäre hinein verfolgen. Dort, wo ein handwerklich seriöser Journalist aufhört oder wo jemand wie ich aufhört, da fangen die überhaupt erst an. Auf deren Liste stehen diejenigen Politiker ganz oben, die in allen Fragen der Freiheit, der Toleranz eine milde Position haben, auch diejenigen, die beispielsweise dafür sind, die Macht der heute Mächtigen zu begrenzen. Diejenigen, die in diese Richtung ihren Kopf herausstrecken, müssen alle damit rechnen, von „Bild“ angegriffen und notfalls verteufelt zu werden. Und diese Hardliner sind nie allein. Da gibt es beispielsweise immer noch beste Kontakte zu einzelnen Mitarbeitern oder ganzen Seilschaften im BND, bis heute. Das sind Leute, die kommen im Zweifel als lockere Videoblogger und „taz“-Genossenschaftler daher und sind vollgestopft mit Elitedenken und Ideologie. Und über dieser Inszenierung verkennen viele Betrachter deren Grundhaltung.
Der Verlag sagt, die Reichweite von „Bild“ liege bei etwa 12 Millionen Menschen, die Auflage sei höchstprofitabel. Und „Bild.de“ habe regelmäßig 5 bis 6 Millionen Nutzer. Die verkaufte Auflage von „Bild“ ist jedoch von ihrem Höchststand von bis zu 5,5 Millionen in den 1980er Jahren auf nun etwa 2,9 Millionen Exemplare abgesunken, in einem zudem beträchtlich größeren Deutschland. Ist „Bild“ nur noch ein tönerner Riese?
WALLRAFF: Dieser Auflagenschwund ist für die schon etwas Beängstigendes. Das ist auch an den inzwischen doch recht intensiven Marketingmaßnahmen von „Bild“ abzulesen. Da gibt es schon enorme Werbeanstrengungen. Und wenn sie trotz dieser Anstrengungen unter die 3-Millionen-Grenze fallen, dann ist das noch einmal ein starker Prestigeverlust. Da helfen auch alle Verweise nichts, die anderen Medien verlören auch. Und die aktuellen Überlegungen von Diekmann, den Preis zu erhöhen, die deuten auch darauf hin, dass mit dem Auflagenverlust doch die wirtschaftliche Basis geschmälert wird, bei allem Gerede über die hochprofitable Auflage von „Bild“. Mir scheinen die Angaben über die Reichweite auch nicht sehr seriös zu sein. Glauben Sie, dass jedes Exemplar von „Bild“ von vier Leuten gelesen wird? Ich nicht. Diese Reichweitenzahl klingt märchenhaft. Warum ist das so? Zum einen werden die Leute inzwischen via Internet und Fernsehen mehr denn je mit diesen Boulevardgeschichten über Promis, Verbrechen und Sex versorgt. Und meine Hoffnung ist zum anderen, dass diese beachtlichen Verluste auch zeigen, dass wenigstens ein Teil der Leute diese Themen satt hat. Ich hoffe also, dass in diesen Verlusten auch ein Zeichen von Abwendung steckt.
Es ist trotzdem zu früh, von „Bild“ als einem tönernen Riesen zu sprechen. Aber was mir einleuchtet: Die eigentliche Macht, die „Bild“ hat, die ist heute mehr denn je geliehene Macht. Sie liegt in dem Glauben der anderen, vor allem auch der Journalisten und Politiker, „Bild“ sei derart mächtig. Das hat man früher gelernt und nie wieder überprüft, sondern das tragen alle einfach unüberprüft weiter. Dieser Glaube verleiht „Bild“ seine eigentliche Macht. Das heißt für Kritiker wie mich: Wir müssen genau analysieren, wie mächtig „Bild“ wirklich ist. Und da darf man nicht unter-, aber auch nicht übertreiben. Sonst erliegt man selbst einem vertraut gewordenen Mythos.
Umgekehrt: Es gibt immer noch beinahe 3 Millionen tägliche Käufer, also Konsumenten, denen „Bild“ 60 Cent wert ist. Was macht aus Ihrer Sicht die Attraktivität von „Bild“ aus?
WALLRAFF: „Bild“ löst Suchtverhalten aus, für die Leute, die nicht nachdenken, die sich nicht anstrengen wollen, die viel Unterhaltung wollen und ein bisschen mitbekommen, worüber die anderen Leute reden und reden sollen. „Bild“ beansprucht, seinem Publikum alles auf simpelste Weise zu erklären. Und das glauben die Leute. Sie merken, es ist alles simpel. Leider merken noch zu wenige, dass das alles nichts mit Erklärungen zu tun hat, sondern mit Ver-Bildung. „Bild“ verstellt den Menschen den Weg zur Wirklichkeit, indem sie sich mit einfachen und oft diffamierenden Weltbildern dazwischenstellt. Das ist die totale Desinformation. Und dieses Geschäft wird vom Verlag mit höchster Systematik betrieben. Es gibt eine vom Verlag selbst herausgegebene Analyse aus dem Jahr 1965 darüber, was „Bild“ ist und sein will. Eine Analyse, die übrigens den Machern helfen soll, das Blatt bewusster und präziser zu konzipieren. Da heißt es unter anderem: „BILD verkörpert für die Leser eine Instanz, die dafür sorgt, daß alles mit rechten Dingen zugeht und der einzelne gegenüber der gesellschaftlichen Apparatur nicht den Kürzeren zieht. In diesem Sinne ist „Bild“ Berichter und Richter zugleich.“ Oder an einer anderen Stelle heißt es, daß BILD teilweise eine Eltern-Rolle einnimmt und einnehmen will: „Es ist also wichtig, daß diese Instanz BILD zwei Wesenszüge vereint: männliche Autorität und Durchsetzungskraft einerseits, mütterliche Fürsorge und mütterliches Verständnis andererseits.“ „Bild“ lenkt von der eigenen, vielleicht bedrückenden Wirklichkeit ab und entlastet von allem, weil an allem, was schlecht ist, die jeweils anderen schuld sind.
Und eine Attraktivität besteht darin, dass „Bild“ eine enorme Verstärkerfunktion wahrnimmt. Sie spürt Trends oft früher als andere auf, macht sie mit hohem Aufwand zum Thema, fasst sie in Worte und in Schlagzeilen. So macht „Bild“ mit allen Mitteln Meinung: Personalisierung, Skandalisierung bis hin zur Hysterisierung. Auf diese Weise begegnet das Publikum wiederum Vertrautem aus dem eigenen Alltag. Das ist anziehend, denn so werden Menschen bestätigt: Die „Bild“ drückt das, was sie selbst an Vorurteilen und Feindbildern im Kopf haben, so drastisch aus, wie sie es nie gekonnt hätten.
Wenn sich dieser Begriff nicht verbieten würde, so wird „Bild“ bei ihnen fast zum Partner im Geiste.
Vermag „Bild“ noch zu polarisieren?
WALLRAFF: Es gibt seit Jahren einen Teil des Publikums, der sagt, „Bild“ sei doch keine Gefahr, auch wenn sie beispielsweise an niedrige Instinkte appelliert und diese damit fördert, am Leben erhält und adelt, so dass Leute, die so denken und fühlen, sich bestätigt fühlen. Dieser Teil des Publikums sagt: Das nimmt doch niemand mehr ernst, und für mich ist „Bild“ ein guter Comic. Diese Leute ziehen sich „Bild“ und seine Schlagzeilen als pure Unterhaltung rein. In den Augen dieser Leute ist „Bild“ auch gar nicht mächtig. Ich widerspreche dem. „Bild“ ist gerade unter Diekmann wieder politischer geworden, versucht Stimmung zu machen und Menschen in einem bestimmten politischen Sinne zu beeinflussen. Natürlich gibt es Mischungen: Den Bericht über den Vorzeigeausländer gibt es auch. Aber wer hat Thilo Sarrazin zu einer bestimmenden Figur gemacht: Das war „Bild“.
Wie will man sich Sarrazins wegen über „Bild“ aufregen, wenn zeitgleich eines der ehemaligen Flagschiffe einer kritischen Öffentlichkeit, „Der Spiegel“, mit einem Sarrazin-Vorabdruck neben „Bild“ in der ersten Reihe steht?
WALLRAFF: Ja, das ist richtig, „Bild“ ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angelangt. Der Schulterschluss „Spiegel“ und Springer-Konzern wurde unter „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust so richtig eingeübt. Und das hielt sich bis jetzt Ende Februar, als völlig überraschend ein doch recht kritischer „Spiegel“-Titel der „Bild“-Berichterstattung gewidmet war. Bis dahin wurde entweder kooperiert oder wenigstens Stillschweigen und Waffenstillstand gewahrt. Sie lasen im „Spiegel“ und vielen anderen Medien kaum noch etwas Kritisches über „Bild“. Die wenigen Verlage, die inzwischen das Mediensystem in Deutschland beherrschen, tun sich nichts mehr. Oder sie paktieren und starten regelmäßig gemeinsame Kampagnen wie „Bild“ und „Burda“ – wie zur Zeit die monatelange Hetze und Vorverurteilungen im Kachelmann-Prozess. Das ist beängstigend für die Pressefreiheit in Deutschland.
„Bild“ ist kein Outlaw mehr, sondern, im Gegenteil, in den vergangenen zehn Jahren sogar zum Leitmedium geworden. Das heißt, andere Medien richten sich mehr denn je nach „Bild“, schauen, welche Themen sie aufgreift und wie sie diese behandelt. Teilen Sie diesen Befund? Und wenn ja: Wie erklären Sie sich das?
WALLRAFF: Ich denke, die Gesellschaft hat sich in Richtung Entpolitisierung bewegt. Das Ausmaß an Desinformation und Nichtinformation hat beängstigende Ausmaße angenommen. Und in einem solchen Klima werden aufklärende Medien zu Outlaws, während „Bild“ sich darin wie ein Fisch im Wasser bewegen kann.
Was empfehlen Sie: Wie soll man mit „Bild“ 2011 umgehen? Deren inneren Zivilisierungsprozess fördern, also „Bild“ so umgarnen und einbinden, wie „Bild“ mit großem Erfolg seit einigen Jahren ehemalige Kritiker und Skeptiker umgarnt und einbindet? Ignorieren? Ernst nehmen und bekämpfen?
WALLRAFF: Der Springer-Konzern selbst ist nicht mehr dieser monolithische Block wie einst. Es gibt Überraschungen, Differenzierungen und Abweichungen. Es liegt nicht mehr eine Einheitsmeinung allen Springer-Blättern zugrunde.
Allerdings ist „Bild“ unter diesem Chefredakteur mehr denn je aus einem Guss. Ein Blatt, das sich bei wichtigen Themen wie selbstverständlich von der bunten täglichen Wundertüte zum Kampfblatt verwandelt, das selten subtil und meist grobschlächtig seine Weltbilder durchsetzen will. Die Kampagne gegen Griechenland war so ein Beispiel.
Solange sie noch diesen Charakter hat, muss „Bild“ ständig beobachtet und analysiert werden, so wie dies der Bildblog mit seinen sehr begrenzten Ressourcen immer noch macht. Wenn ständig auf diese manipulative Machart aufmerksam gemacht wird, dann kann man „Bild“ in Schach halten und von Fall zu Fall bremsen. „Bild“ ist ansonsten wie ein frei herumlaufender, therapieverweigernder Triebtäter, von dem man weiß: Der kann nicht anders, der ist gemeingefährlich. Das ist unverändert der Kern von „Bild“.