Was für den SPIEGEL „Chaos“ und „Anarchie“ ist, das ist in unseren Nachbarländern demokratische Normalität. Wie man den Wählerwillen auch anders interpretieren kann.
Rot ist das Cover beim SPIEGEL ja immer noch, doch die Farbe hat nichts mehr mit der politischen Gesinnung zu tun, sondern allenfalls noch etwas mit der Zornesröte der Redaktionsoberen. Da hat doch der SPIEGEL, allen voran der Leiter der Berliner Redaktion, Gabor Steingart, und mangels eigener Positionen der wieselflinke Chefredakteur Stefan Aust, mit dem Spitznamen die „linke Bügelfalte“, alles getan und geschrieben, dass der nach deren Meinung historische Irrtum des deutschen Sozialstaates, der mit Bismarck begonnen und von Adenauer fortgesetzt wurde, endlich wieder revidiert wird und wir zwingend von der sozialen Marktwirtschaft in die Marktgesellschaft wechseln müssten. Aber der blöde Wähler bockte. Die Mehrheit der Deutschen hält am Sozialstaat fest.
Das ärgert natürlich die Chefetage und deren Zuschreiber in den Redaktionsstuben maßlos, sieht man sich doch in geradezu schröderschem Größenwahn als Meinungsführer in der politischen Medienlandschaft. Dieser Ärger drückt sich im Titel des Wahlsonderheftes aus: „Die Chaos-Wahl. Keine Macht für niemand“, wird da das Wahlergebnis gedeutet.
Was in anderen demokratischen Ländern absolut normal ist, nämlich dass die großen Volksparteien etwa ein Drittel der Stimmen haben und sich eben in einem Mehrparteiensystem mit kleineren Parteien verbünden müssen, ist für den SPIEGEL das „Chaos“, ja sogar die „Anarchie“: „Keine Macht für niemand, die alte Kampfparole der Anarchisten scheint die Lösung der Wahlbürger zu sein“, so beschimpft der SPIEGEL das Wahlvolk.
Was muss da erst in den Niederlanden mit neun Parteien, darunter sogar zwei Grüne, in Italien gar mit fünfzehn Parteien, in Schweden mit sieben Parteien, in Dänemark mit acht, in Finnland mit neun Parteien für ein Chaos herrschen.
Es sei richtig kompliziert, „weil es nach dieser Wahl in Wahrheit eine Mehrheit gibt, eine linke Mehrheit“. Aber das ist ja für den SPIEGEL gerade das Schlimme.
Der Agenda-Kanzler sei in den Hintergrund gedrängt worden, die Bühne im Wahlkampf gehörte dem „Traditionsgenossen“, einem „scheinlinken Kanzler“.
Für den SPIEGEL ist Kirchhof immer noch die „einzig große Entscheidung“ von Angela Merkel. „Endlich einer, der von außen kommt, einer der ganz anders redet als Politiker“, ein „leibhaftiger Reformer“ eben, obwohl der vom Spiegel zum „Steuerpapst“ Ausgerufene inzwischen längst selbst eingesehen hat, dass er als Oberhaupt der Reformgemeinde nicht taugt.
Alles was der SPIEGEL an angeblich notwendigen Systemveränderungen hochgejubelt hat, das will der psychisch gestörte Deutsche offenbar nicht. Weil die Redaktion das nicht selbst so offen auszusprechen wagt, leiht man sich das verfälschte Urteil (Siehe Eintrag im “Kritischen Tagebuch” vom 21.09.05) der Briten: „Bestellt werden, so scheint es, muss ein Psychiater“ lässt der SPIEGEL Thomas Huetlin schreiben.
Nun ist zuzugeben, dass das mit der Interpretation des „Wählerwillens“ eine schwierige Sache ist. Wollen die SPD-Wähler nun den Agenda-Kurs oder wollen sie die eher sozialen Töne des Wahlmanifestes?
Waren die FDP-Wähler gegen eine große Koalition? Haben die CSU-Wähler Stoiber für seine Beschimpfung der Ossis als „Frustrierte“ abgestraft? Hat die CDU wegen Kirchhof Stimmen eingebüßt? Darüber lässt sich trefflich spekulieren. Könnte es nicht auch so sein, dass die Wähler, in dem sie fünf Parteien in den Bundestag wählten, einfach ein Interesse daran haben, dass das real vorhandene politische Spektrum in der Bevölkerung wieder deutlicher im Parlament zum Ausdruck kommt?
Gerade der Erfolg der Linken, die ja keine politischen Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit den übrigen Parteien sehen und die von allen anderen Parteien regelrecht ausgegrenzt werden, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es vielen Wählerinnen und Wählern vor allem darum geht, dass im Parlament die unterschiedlichen Interessen in der Bevölkerung überhaupt erst wieder eine öffentliche Bühne bekommen.
Dass mehr Parteien in den Bundestag gewählt wurden, könnte ja auch einfach den Willen vieler Menschen zum Ausdruck bringen, dass das Parlament gegenüber einer „Kanzlerdemokratie“ mit ihren demokratisch nicht legitimierten, außerparlamentarischen Expertengremien und vor allem gegenüber der Übermacht der Lobbyisten gestärkt werden sollte. Könnte gerade durch die Wahl der Linken.PDS nicht auch ein Aufbegehren gegen den Meinungsmainstream der überwiegenden Zahl der Medien zum Ausdruck kommen?
Kein Vertreter von CDU/CSU, SPD, FDP oder Grünen vergisst bei einer Interviewäußerung den Hinweis, dass jetzt jeder mit jedem sprechen müsse, natürlich mit Ausnahme der Linken.PDS. Merkt eigentlich keiner von ihnen, welche Mauer sie damit zwischen Ost und West wieder hochziehen? Wie muss diese Diskriminierung bei immerhin einem Viertel der Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland ankommen? Sie haben Die Linke.PDS zur zweitstärksten Partei im Osten gewählt und ihre Stimme soll weder gezählt noch gehört werden? Was sollen sie vom Geschenk einer solchen Demokratie halten, die sie zu demokratischen „Outcasts“ erklärt?
Aber weil der SPIEGEL seinen neoliberalen Kampfauftrag nicht so leicht aufgibt, nimmt er den „verborgenen Charme“ der großen Koalition schon mal vorweg und formuliert einen ihm passenden Koalitionsvertrag. In dem ist „ein Aufweichen des Reformkurses, wie ihn jüngst die SPD in ihrem Wahlmanifest verordnet hat,… in einer christlich-sozialdemokratischen Allianz genauso ausgeschlossen wie ein liberale Radikalreform des Arbeits- und Tarifrechts nach den Plänen der FDP.“ Hauptsache der vom SPIEGEL propagierte „Reform“kurs wird nicht in Frage gestellt.