In Deutschland ein beschönigender Satiregipfel, in Frankreich Hessels „Empört euch“
In letzter Zeit wird Frankreich des Öfteren mit Deutschland verglichen – dort die aufmüpfige Stimmung und das Engagement der Bürger, hier bei uns verschlafene Trägheit. Diesem Schema neige ich normalerweise nicht zu, weil ich in der Nähe des Elsass wohne und durch eigene Anschauung und von Freunden die politische Trägheit dieses Teils Frankreichs kenne. Aber gestern sah ich den „Satiregipfel“ mit dem neuen Moderator Nuhr und seinen Gästen; zur geistig-moralischen Erholung las ich dann Auszüge aus Stéphane Hessels Schrift „Empört euch!“ bei FAZ.Net. Welch ein gewaltiger Unterschied! Albrecht Müller.
Hierzulande verkommt eine früher einmal „Scheibenwischer“ genannte und von Dieter Hildebrandt geprägte Kabarettsendung zu einem dümmlichen Produkt von Spindoktoren der herrschenden Kreise in Politik und Wirtschaft. Dort in Frankreich gewinnt die Schrift eines politisch und für Humanität und Gerechtigkeit engagierten Aufklärers eine große Aufmerksamkeit. Es lohnt sich, beides nacheinander anzuschauen und zu lesen, wenn Sie am Wochenende ein bisschen Zeit haben. (Bisher ist allerdings der Satiregipfel als Video noch nicht abrufbar; vermutlich aber bald. Hier die Vorschau.)
Einige Anmerkungen zum Satiregipfel mit Nuhr:
Es war die erste Sendung mit Dieter Nuhr als Moderator und Nachfolger von Richling. Sie war angefüllt mit unglaublich flachem Zeug.
Die Sendung ist offensichtlich eingebunden in den beginnenden Landtags- und Bundestagswahlkampf. Dieter Nuhr und Gäste hielten sich in weiten Teilen der Sendung an das, was an Botschaften im Dienste der Schwarz-gelben Regierung und der dahinter steckenden Finanz- und Wirtschaftsinteressen vermittelt werden soll:
- Grundtenor: Es geht uns wunderbar. Nuhr findet es blöd, sich zu empören und säuselt einem stattdessen den neoliberalen Blödsinn ins Ohr. Beispiel: “… Deutschland geht es gut, so gut wie lange nicht mehr; alle beneiden uns, die ganze Welt, aber wir meckern und laufen mit hängenden Schultern und Mundwinkeln durchs Leben….” Großes Gelächter.
Es ist bemerkenswert, dass diese derzeitige Hauptbotschaft von Schwarz-gelb jetzt auch zentraler Inhalt einer angeblichen Satiresendung geworden ist und vermutlich weiter sein wird. Auf der Basis permanenter Penetration dieser Botschaft werden sich die Umfragewerte von Schwarz-gelb verbessern. - Nuhr polemisiert gegen den Sozialstaat. Jeder Dritte Euro werde für Soziales ausgegeben. Das ist die übliche, manipulierende Rechnung der Sozialstaatsgegner. Sie rechnen die Sozialversicherungsleistungen und -beiträge zu den sozialen Transferleistungen.
- Er polemisiert gegen öffentliche Verantwortung.: “… manche (!!!) Mitbürger meinen, der Staat muss her. Klar, der kann es ja auch viel besser, vor allem bei den Banken …”
- Er unterstützt in diesem Kontext die von Ackermann und Co. zu ihrer eigenen Entlastung gestreute Parole, wonach die Landesbanken quasi die Hauptverantwortlichen für die Finanzkrise sind und am meisten Geld versenkt haben.
- Nicht fehlen durften auch in dieser Sendung Elemente der Dauerkampagne gegen die Linken, insbesondere die Linkspartei und den Kommunismus. 80-100 Mio. Tote habe der Kommunismus auf dem Gewissen. – AM: Man kann das schlecht nachzählen, aber man wird davon ausgehen können, dass zum Beispiel die 20 Millionen toten Russen des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs großzügig eingerichtet worden sind. Allein schon die Tatsache, dass in einer Kabarettsendung solche Zahlen eingeführt werden, ist bemerkenswert. – Dass sogar im Satiregipfel nun die Antikommunismus-Debatte wie in den fünfziger Jahren wieder belebt wird, ist ein Beleg dafür, dass man uns das allen ernstes in den nächsten Wahlkämpfen zumuten wird. Ein Rückfall in die fünfziger, das hätte ich mir auch in schlimmen Träumen nicht ausmalen können.
Fazit eines NachDenkSeiten-Lesers: Der Satire-Gipfel ist zu einem reaktionären Propagandainstrument verkommen. –
Ich kann dem nicht widersprechen. Wirklich bemerkenswert ist die Gleichschaltung mit den erkennbaren Wahlkampfthemen und Parolen von Schwarz-gelb. Dass die ARD das mit sich machen lässt, liegt auf der Linie der Anpassung an die Methoden der kommerziellen Sender, und es zeigt, wie sehr auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender inzwischen mehrheitlich von konservativem und rechtem Gedankengut durchdrungen sind. Erstaunlich ist in diesem Kontext, dass die verantwortlichen Sender – der WDR und RBB – in sozialdemokratisch regierten Ländern liegen. Daran kann man sehen, dass die Sender inzwischen wirklich staatsfern sind, soweit ein eher fortschrittlicher Einfluss betroffen sein könnte. Man kann weiter sehen, dass von Rotfunk wirklich keine Rede sein kann.
Einige Anmerkungen zu Stéphane Hessels Schrift „Empört euch!“
Zunächst nur einige der wichtigen Aussagen. Sie sind zentral anders als die Parolen im Satiregipfel:
- „Wir alle müssen darüber wachen, dass unsere Gesellschaft eine Gesellschaft bleibt, auf die wir stolz sein können“. Er empört sich, dass in seinem Land die soziale Rente infrage gestellt wird, dass Misstrauen gegen Immigranten gesät wird, dass sich die Medien in den Händen der Reichen befinden, dass das gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften der Resistance auf dem Spiel steht.
- „Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen.“ Hessels verweist mit Recht darauf, dass unsere Produktivkräfte beträchtlich gewachsen sind, seit Europa in Trümmern lag. Er verweist darauf, dass im Unterschied zu damals die Macht des Geldes gewachsen sei, „anmaßend und egoistisch“. Bis in die höchsten Ränge des Staates hinein verfüge sie „über eigene Diener“. – Das ist ein deutlicher Hinweis auf die politische Korruption. In den NachDenkSeiten sprechen wir davon, die Politik sei in den Fängen der Finanzindustrie.
- „Die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Geistesleben und die ganze Gesellschaft dürfen nicht abdanken und sich von der Diktatur der internationalen Finanzmärkte beeindrucken lassen, die den Frieden und die Demokratie bedrohen.“
- „Gleichgültigkeit ist die schlimmste Einstellung“. Das wäre ein treffender Kommentar zum Satiregipfel. Dessen Hauptziel ist offenbar die Verbreitung von Gleichgültigkeit gegenüber den sozialen Verhältnissen in Deutschland. Hessels stattdessen macht sich Gedanken darüber, dass die Gründe für Empörung heute nicht mehr so deutlich zu erkennen seien. Er wünscht jedem einzelnen ein eigenes Empörungsmotiv. –
AM: Das klingt etwas seltsam, wird aber verständlicher, wenn man die Sorge Hessels, junge Menschen könnten die Fähigkeit zur Empörung und zum Engagement verlieren, ein bisschen übersetzt und auf hiesige Verhältnisse im Ablauf der letzten 60 Jahre überträgt. Es bedurfte auch bei uns immer wieder verschiedener Ereignisse, um daran politisches Engagement und politische Sozialisation und Interesse anknüpfen zu können. Das war der Zustand unserer Hochschulen in den sechziger Jahren, das war die verkrustete Politik Adenauers, das war die Ost-West-Konfrontation und der Vietnamkrieg und die Umweltzerstörung und die gedankenlose Nutzung der Kernenergie. Hessels: „Den jungen Leuten sage ich: schaut euch um, dann werdet ihr die Themen finden, die eure Empörung rechtfertigen … Ihr werdet auf Situationen stoßen, die euch drängen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Wenn Ihr sucht, werdet ihr finden.
- „Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung der unterschiedlichen Kulturen. Das ist der nächste Schritt, den die Menschheit wird tun müssen.“ Man dürfe nicht zulassen, dass sich allzu viel Hass aufstaut.
- Hessels zitiert aus einer Erklärung von 2004 zum 60. Jahrestag des Programms des Nationalen Widerstandsrates: „Der Nazismus ist besiegt worden dank der Opfer unserer Brüder und Schwestern aus der Resistance und der im Kampf gegen die faschistische Barbarei verbündeten Nationen. Doch die Gefahr ist nicht vollständig verschwunden, und unser Zorn auf die Ungerechtigkeiten ist immer noch da.“ Er ergänzt: „Nein, die Gefahr ist nicht vollständig verschwunden und auch weiterhin rufen wir auf zu einem friedlichen Aufstand gegen die Massenmedien, die unserer Jugend keine anderen Ziele anbieten als Massenkonsum, Verachtung für die Schwächeren und für die Kultur, eine allgemeine Amnesie und eine maßlose Konkurrenz aller gegen alle“.
Amnesie kann man mit Wahrnehmungsstörung übersetzen. Das trifft so übersetzt genau auf den Macher des Satiregipfels Dieter Nuhr und seine Partner zu. Sie nehmen die Wirklichkeit unserer Gesellschaft nicht mehr wahr und machen stattdessen in guter Stimmung – entweder entsprechend den Wünschen ihrer Auftraggeber oder entsprechend der eigenen Disposition. Gut, dass es in Frankreich einen alten Mann gibt, der geistig um mehrere Dimensionen jünger ist als diese Sorte von deutschen „Satirikern“.