Eine andere Sicht auf den angeblichen Rentenklau in Ungarn

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Eine langjährige Freundin der NachDenkSeiten und Ungarin hat sich über die Kampagne gegen die Rentenreform des jetzigen Ministerpräsidenten von Ungarn geärgert. Sie hält das für Propaganda zu Gunsten der Privatvorsorge und Kapitaldeckung und sieht in Ungarn den Einstieg in den Ausstieg aus der Privatisierung der Altersvorsorge, die in Mittel- und Osteuropa in den neunziger Jahren in großem Stil betrieben worden ist. Damals oft beraten vom ehemaligen Arbeitsminister des chilenischen Diktators Pinochet, Jose Piñera. Siehe hier. Die beiden hatten in Chile schon in den achtziger Jahren die Arbeitnehmer gezwungen, in die Privatvorsorge zu gehen, mit bitteren Erfahrungen für die betroffenen Arbeitnehmer. Die Mail der ungarischen NachDenkSeiten-Freundin folgt. Albrecht Müller

Vorweg noch eine Anmerkung zu den Vorgängen in den neunziger Jahren: Damals ist die Privatisierung der Altersvorsorge in den Ländern des ehemaligen Comecon von westlichen Einrichtungen wie Weltbank, IMF und EU massiv und, mit viel Geld unterstützt beziehungsweise betrieben worden. Interessant dabei die Rolle des Weltbank-„Experten“ Dr. Robert Holzmann. Aus meiner Sicht war dabei wie auch bei der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen viel politische Korruption im Spiel – geistige sowieso. Das liegt nahezu alles noch im Dunkeln und ist ein ausgezeichnetes Betätigungsfeld für Enthüllungsjournalisten. Auch für die Durchleuchtung dieser Vorgänge, zum Beispiel der so genannten Demokratisierungsprogramme “Phare” und “Tacis”, bräuchten wir eine intakte Organisation wie WikiLeak.

Nun also zur Mail zu den Vorgängen in Ungarn mit einer wirklich anderen als heute in den westlichen Medien üblichen Sicht:

Lieber Herr Müller,

der Qualitätsjournalismus scheint auch bei solch großen Namen wie der schweizerischen NZZ auf den Hund gekommen zu sein. Nach dem manipulativen, reißerischen Bericht über „die Enteignung“ der ungarischen Pensionskassen-Sparer, den Sie kurz aber sehr treffend kommentiert haben, legt das Blatt einen Tag später mit einem Kommentar nach, der nur so strotzt von den bekannten neoliberalen Weisheiten über den demografischen Wandel und „den Rentenklau“ in Ungarn hart verurteilt. (Anmerkung AM: In der Tat ist schon der ersten Absatz klassisch formuliert ein Beispiel für den gängigen Irrglauben zur demographischen Entwicklung.)

Eine Zwischenbemerkung: beim RENTENKLAU fällt mir die vom Freiburger Versicherungsvertreter Raffelhüschen bejubelte Schrödersche „größte Rentenkürzung, die es jemals in Deutschland gegeben hat“ ein, die in der Tat zu Recht so bezeichnet werden müsste.

Wie bereits auf den NDS erwähnt, wurden die privaten Rentenkassen (und die Pflichtversicherung hierin) in den 90-er Jahren von der EU und dem IMF Ungarn (und Polen, wohl auch anderen) regelrecht aufgezwungen. Dadurch entstand in der ungarischen gesetzlichen Rentenversicherung ein Fehlbetrag von jährlich 3-4-500 Milliarden Forint (HUF 400 Mrd. sind z.Zt. etwa EUR 1,5 Mrd.), der aus der Staatskasse, aus Steuergeldern ersetzt werden musste. Der ungarische Staat hat also in den vergangenen zwölf Jahren wegen dieser „zweiten Säule“ insgesamt wohl (schon ohne Zinsen) mehr zuschießen und sich verschulden ! müssen, wie er jetzt in der Form „zurückholt“, dass er die Einlagen (Staatsanleihen, Aktien) der obligatorischen privaten Rentenkassen in Höhe von umgerechnet 10 Mrd. Euro in einen „Fonds für die Rentenreform und den Staatsschuldenabbau“ überführt.

Wie aus der ungarischen Presse zu erfahren ist, haben Ungarn, Polen und andere ehemalige Ostblock-Staaten den ganzen Sommer über in Brüssel durch „Lobbying“ alles versucht, um zu erreichen, dass die durch die aufgezwungenen obligatorischen privaten Rentenkassen entstandenen Staatsdefizite bei der Berechnung der heiligen 3-Prozent Grenze und generell der Staatsverschuldung „herausgerechnet“ werden können.(Dies wird auch in dem NZZ-Kommentar bestätigt.) Ohne Erfolg. In dieser Situation sah die Orbán-Regierung nun keine andere Lösung, als die bisherige zweite Säule aufzulösen, um die ebenfalls von der EU und dem IWF vorgeschriebenen Verschuldungskriterien einhalten (und wie man so schön sagt, damit „die Investoren beruhigen“) zu können. In der ungarischen Presse wird auch gemunkelt, dass ursprünglich dem größeren und stärkeren Polen die Rolle des Rammbocks zugedacht gewesen sei.

Von einer „Enteignung“ der Sparer kann dabei keine Rede sein. Denjenigen, die in die gesetzliche Rente zurücktreten, werden ihre Ersparnisse namentlich gutgeschrieben, als ob sie diese immer schon in die gesetzliche Rente eingezahlt hätten. Diejenigen, die in der privaten Rentenversicherung bleiben wollen, behalten dort natürlich ihre bisherigen Konten. Sie fallen jedoch ab diesem Zeitpunkt aus der gesetzlichen Rente heraus, obwohl sie nur ihren AN-Anteil in die private Kasse einzahlen dürfen, der AG-Anteil geht auch für sie in die gesetzliche Rente. (Ihren Anspruch aus früheren Jahren in der gesetzlichen RV verlieren sie natürlich nicht, wie es die NZZ suggeriert.)

Schon Anfang des Jahrtausends wurden umfangreiche Studien, u. a. von der ILO über den Rentenreformen in den damals noch „Beitrittskandidaten“ angefertigt, die die bestehenden und zu erwartenden Probleme klar aufgezeigt hatten. Katharina Müller, vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn schrieb beispielsweise schon 2003 in Die Rentenreformen in den mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländern folgendes:

“Der radikale Reformkurs schloss vielerorts auch den Teilübergang zur Kapitaldeckung ein. Auch wenn jede der betreffenden Reformen im Detail unterschiedlich ausgestaltet ist, so ist der Modelltransfer aus Lateinamerika doch überdeutlich. Er wurde durch die „neue Rentenorthodoxie“ maßgeblich unterstützt, die sich Mitte der 90er Jahre unter Weltbank Ägide als dominante epistemische Gemeinschaft konstituierte.

Die Befürworter einer Rentenprivatisierung erwarten, dass der Übergang zu einem kapitalgedeckten System die langfristige Ersparnis und die Investitionen erhöhen wird, so dass die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsperspektiven verbessert werden. Vom engen Beitrags-Leistungs-Bezug erhofft man sich eine Beseitigung negativer Arbeits- und Ersparnisanreize. Zudem soll dieser Paradigmenwechsel die Rolle des Staates in der Alterssicherung begrenzen, wovon man sich eine deutliche Senkung der öffentlichen Ausgaben verspricht (World Bank1994). Auch werden Ertragsdifferentiale zwischen privaten und öffentlichen Alterssicherungssystemen angeführt, um eine Rentenprivatisierung zu rechtfertigen (Disney 1999). Die Versicherten sehen sich allerdings erheblichen Ertragsrisiken bei der kapitalgedeckten Alterssicherung ausgesetzt, da die Kapitalmärkte in den meisten Staaten der Region fragil sind und die postsozialistischen Finanzsysteme vielfach von schweren Krisen erschüttert wurden. Indes gestattet der Gesetzgeber den Pensionsfonds Auslandsinvestitionen nur in engen Grenzen (z. B. 5% in Polen, 15 % in Lettland). Schließlich dürfte die aus dem Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren resultierende fiskalische Zusatzbelastung gerade in ehemals sozialistischen Ländern nicht gering ausfallen, da in der Vergangenheit fast alle Erwerbstätigen sozialversichert waren und umfangreiche Rentenanwartschaften erwarben.

Es ist meine feste Überzeugung, dass Orbán und seine Regierung versucht, das Beste FÜR DAS VOLK rauszuholen, was unter den gegebenen Umständen möglich ist. Ursprünglich war ich skeptisch, ich hielt es für unmöglich, dass eine europäische Regierung gegen den Strom schwimmen, Weltbank und IWF den Stirn bieten, sich mit Brüssel anlegen fähig sein könnte. Die letzten Monate geben aber Hoffnung.

H.S.

Hier noch der NZZ-Beitrag mit erklärenden Anmerkungen:

Ungarn enteignet Pensionskassen-Sparer
Quelle: NZZ

Kommentar H.S.: Die Sparer werden nicht enteignet, das Guthaben wird ihnen auf einem persönlichen Konto in der gesetzlichen Rentenversicherung gutgeschrieben. Sollten sie eine positive Rendite erwirtschaftet haben, können sie diese bar und steuerfrei abheben oder ebenfalls einzahlen . Sollten sie eine negative Rendite haben, so wird der Staat den Differenz ihnen erstatten.

Private Rentenversicherung wird verstaatlicht – Geld fliesst in Staatshaushalt

Ungarn greift für den Abbau der hohen Schulden zu radikalen Methoden. Das Land verstaatlicht einen Teil des Geldes, das die arbeitende Bevölkerung für ihre Pensionierung zurückgelegt hat. Es geht um 14 Milliarden Franken der seit 1998 existierenden privaten Säule des Versicherungssystems.

H.S.: Würde die NZZ auch dann von „radikalen“ Methoden sprechen, wenn die Orbán-Regierung das Einheitsrezept der Neoliberalen befolgend Sparpakete, Gürtelengerschnallen, etc. pp beschlossen hätte?

chs./(sda/ddp) Das ungarische Parlament hat mit den Stimmen der rechts-konservativen Regierungsmehrheit den umstrittenen Umbau des staatlichen Rentensystems beschlossen. Der private Teil der Altersvorsorge geht an den Staat über. Vertreter der linken und grünen Opposition sprachen im Parlament von «Rentenklau» und «Diebstahl».

H.S.: Die Maßnahme gilt nur für den obligatorischen Teil der privaten Altersvorsorge, die freiwillige wird gar nicht angetastet. Desweiteren können die Versicherten wählen — wenn auch zugegeben sehr eingeschränkt — ob sie in die staatliche Rente zurückkehren oder ganz in der privaten bleiben wollen. Desweiteren gehen zwar die vorhandenen Einlagen (Staatsanleihen, Aktien) in einen staatlichen Fonds über, aber die Einzahlungen bleiben auf dem Konto der Versicherten gutgeschrieben. Über das Geld hätten sie auch bei den privaten nicht verfügen können, erst nach Renteneintritt wären ihnen die Guthaben ausbezahlt — falls bis dahin nicht verzockt.

Rund drei Millionen Bürger haben in den vergangenen zwölf Jahren in der obligatorischen privaten Zusatzversicherung insgesamt knapp 3000 Mrd. Forint (knapp 14 Mrd. Franken) angespart. Sie werden nun faktisch enteignet. Ihr Geld soll dazu verwendet werden, das Defizit der staatlichen Rentenversicherung zu senken. Ausserdem sollen damit Staatsschulden zurückbezahlt werden.

H.S.: Das ist eine 100-prozentige Lüge, anders kann man es nicht nennen. Wie bereits oben erwähnt, eine Enteignung findet nicht statt! Das Defizit der staatlichen Rentenversicherung entstand dadurch, dass die Versicherten nicht etwa zusätzlich in die obligatorische private Vorsorge einbezahlt hatten, sondern ein Teil ihrer vorherigen Beiträge wurde dorthin umgeleitet und dieses Geld fehlte nun in der gesetzlichen RV. Deren Zahlungsverpflichtungen werden sich aber erst nach ca. drei Jahrzehnten ! mindern, die Altrentnern und die älteren Jahrgänge, für die der Umstieg in die private schon sowieso nicht gelohnt hätte (1998 wurde diese ab 40 schon gar nicht empfohlen), müssen noch lange bedient werden.

Wahlmöglichkeit als Farce

Auf dem Papier können Ungarns Bürger zwar weiter in der obligatorischen privaten Säule versichert bleiben. In diesem Fall verlieren sie nach dem neuen Gesetz aber jeglichen Anspruch auf eine staatliche Rente. Die Wahlmöglichkeit wird allerdings auch dadurch zur Farce, dass die Beschäftigten auch beim Verlust der ersten Säule weiterhin den Grossteil ihrer Pflichtbeiträge in den staatlichen Rentenfonds einzahlen müssen.

H.S.: Hier kann man schon wirklich nicht nachvollziehen, wie die NZZ eine derartige Lüge verbreiten kann: Selbstverständlich verlieren sie nicht den Anspruch, den sie bereits erworben haben. Sie verlieren auch den Anspruch auf eine Basisrente nicht, sollte sich beispielsweise ihre Privatvorsorge durch Spekulationen in der Luft auflösen. Sie erwerben allerdings keine Ansprüche mehr ab dem Zeitpunkt des Entschlusses, sich ausschließlich privat weiter zu versichern. Es stimmt allerdings, dass der AG-Anteil von 24 % (!) auch nach ihnen in die gesetzliche Versicherung einbezahlt werden muss, sie können nur ihren AN-Antel von 10 % in die private Versicherung einzahlen. (Interessant, dass auch in den anderen „Ostblock“-Staaten eine ähnliche Diskrepanz, weit von der Parität entfernt, vorhanden ist.)

Lohnen könnte sich der Verzicht auf die staatliche Versicherung laut Experten allenfalls für jüngere Beschäftigte. Eine neue Regierung könnte nämlich den «strafweise» verhängten Ausschluss von der staatlichen Rente wieder rückgängig machen.

H.S.: Was für eine Spekulation! Man kann natürlich Gift darauf nehmen, dass bis dahin die Rentenversicherungen überall zig Mal umgestalten werden. Hoffen wir, dass in eine andere Richtung, als in den letzten zwei Jahrzehnten.

(…)

Orban braucht finanziellen Spielraum

Ministerpräsident Viktor Orban will sich nach Ansicht von Kritikern durch die Enteignung der privaten Rentenvermögen Spielraum für seine Wirtschaftspolitik schaffen. Diese sieht unter anderen Steuersenkungen für Unternehmen und wohlhabende Familien mit Kindern vor.

H.S.: Das kann man wohl unterschreiben: Nachdem die so genannte sozialliberale Koalition das Land an die Wand gefahren hat und die Insolvenz nur durch EU-IMF-Kredite abgewendet werden konnte, braucht die mit Zweidrittel-Mehrheit gewählte neue Regierung der Partei Fidesz sehr wohl finanziellen Spielraum. Was die Steuersenkung für Unternehmen angeht, hat Orbán ja gerade die Bankensteuer eingeführt — die Abwertung von Moody’s fast auf Junk-Niveau trotz verbesserter Wirtschaftsdaten kommt ja nicht von ungefähr —, und bittet mit einer Krisensteuer auch Konzerne der TK-, der Energie-Branche sowie des Einzelhandels (Metro et al.) zur Kasse. Dass es in Ungarn eine relevante Gruppe von „wohlhabenden Familien mit Kindern“ geben könnte, halte ich für einen Witz.

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