Über den antidemokratischen Charakter der herrschenden neoliberalen Lehre und Bewegung
Zum Jahresabschluss notiere ich ein paar Gedanken, die die Lektüre des Chile-Teils von Naomi Kleins „Schock-Strategie“ auslösten, teilweise auch nur zurückholten. Naomi Klein beschreibt dort die enge Kooperation zwischen den Chicago Boys um Milton Friedman und dem chilenischen Diktator Pinochet und seinen Schergen. Die Vertreter der ökonomischen Schule, die heute auch die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bei uns in beachtlich großem Maße prägt, fieberten dem Sturz des gewählten Präsidenten Allende entgegen. Die einschlägigen Papiere der neuen Herrscher ähnelten Milton Friedmans Vorstellungen: „Privatisierung, Deregulierung und Einschnitte bei den Sozialausgaben – die Dreifaltigkeit des freien Marktes.“ So Naomi Klein.
Ich zitiere weiter aus dieser Passage:
Chiles in den USA ausgebildete Ökonomen hatten versucht, diese Vorstellungen friedfertig im Rahmen demokratischer Auseinandersetzungen einzuführen, aber sie waren auf breiteste Ablehnung gestoßen. Jetzt waren die Chicago Boys und ihre Pläne wieder da, in einem Klima, das für ihre radikalen Ideen wesentlich günstiger war. In dieser neuen Ära musste niemand außer einer Hand voll Männer in Uniform ihnen zustimmen. Ihre standhaftesten politischen Gegner waren entweder im Gefängnis, tot oder auf der Flucht in den Untergrund; das Spektakel der Kampfflugzeuge und der Todeskarawanen sorgte dafür, dass alle anderen stillhielten.
Der Umsturz vom 11.9.1973 in Chile und die darauf aufbauende Gegenrevolution war der „erste konkrete Sieg“ der Chicago Schule. Chile war das Experimentierfeld. Und Pinochets mörderische Diktatur war die Basis des Experiments.
Schon dies allein müsste eigentlich von damals bis heute Empörung auslösen. Und es müsste dafür sorgen, dass eine solche Ideologie für alle Zeit diskreditiert ist. Das Gegenteil müssen wir beobachten:
Sie war es damals nicht. Ich erinnere mich noch gut an die vielen Glückwunschadressen zum Umsturz in Chile in Deutschlands konservativen Blättern. (Eine Dokumentation dieser damaligen Einlassungen und die Klärung der Frage, ob dabei auch in deutschen Medien damals schon wirtschafts- und gesellschaftspolitisch argumentiert wurde, wäre eine Recherche wert.)
Die in der chilenischen Diktatur ausprobierte Ideologie feiert heute ihre teilweise Durchsetzung in vielen Staaten Europas und in der Europäischen Union. Die Lissabon-Strategie, der Bologna-Prozess, das Lambsdorff-Papier von 1982 und die Agenda 2010 sind infiziert vom gleichen Geist: Privatisierung, Deregulierung, Abbau des Sozialstaats, Stagnation und realer Rückgang der Masseneinkommen auf der einen Seite und das freie Floaten der Spitzeneinkommen nach oben auf der andern Seite, Entstaatlichung, Plünderung öffentlichen Vermögens zu Gunsten der Konten und Taschen der Herrschenden, …
An diesem Prozess der Entsolidarisierung wirken bis heute auch in Europa Personen mit, die ihr Handwerk bei Pinochet gelernt haben. Bei Naomi Klein begegnete ich auf Seite 113 einem alten Bekannten: José Piñera. Er war bei Pinochet Minister für Arbeit und Bergbau und hat 1980 dort die Privatisierung der Altersvorsorge für die Arbeitnehmer durchgesetzt. Seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation in Europa betreibt Piñera sein Beratungsgeschäft in Europa. Sein Wirken ist in der „Reformlüge“ (erschienen 2004) beschrieben. Ich zitiere eine Passage (S. 380 ff.):
Zu den wirksamsten Förderern der neoliberalen Reformbewegung gehören Institutionen und Personen, die auf internationaler Ebene aktiv sind, vor allem die mit der Autorität der internationalen Gemeinschaft ausgestattete Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF). So hat zum Beispiel Robert Holzmann, bei der Weltbank Abteilungsleiter für soziale Sicherheit, jahrelang die private Altersvorsorge propagiert. Und der IWF hat, noch unter der Federführung von Horst Köhler, in vielen Ländern neoliberale Reformen erzwungen und auf einseitige, neoliberal geprägte Sparmaßnahmen gedrängt.
Eine Person bedarf in diesem Zusammenhang der besonderen Erwähnung: José Piñera und sein »International Center for Pension Reform«. José Piñera war Arbeitsminister unter Chiles Diktator Pinochet und hat in dieser Funktion den Arbeitnehmern dort 1980 die private Vorsorge aufgezwungen – mit all den damit verbundenen Nachteilen für die Mehrheit der Chilenen. Piñera ist seitdem als Lobbyist und Propagandist der Privatvorsorge und der internationalen Finanzindustrie tätig. Er rühmt sich der Beratung vieler Länder und Regierungen bei ihrem Weg zur Ablösung sozialer Sicherungssysteme und der Einführung privater Rentenversicherungen: In Südamerika und Osteuropa, in Großbritannien und Australien, in Kasachstan und auch bei uns in Deutschland hat er seine Spuren hinterlassen. Was er zum Beispiel in einem Artikel für das Wallstreet Journal Europe am 25. Juni 1998 über das angebliche Scheitern des Umlageverfahrens und die Vorteile des Kapitaldeckungsverfahrens geschrieben hat, findet sich nahezu wortgleich in den Äußerungen von Schwarz und Gelb, von Rot und Grün in Deutschlands Renten- und Demographiedebatte wieder. Wer sich durch die Seiten seiner Homepage www.pensionreform.org 87 klickt, der bekommt einen zugleich umfassenden wie auch bedrückenden Eindruck von der Dimension und dem weltumspannenden Charakter seiner Aktivitäten. Der Arbeitsminister Pinochets als Ghostwriter einer rotgrünen Koalition in Deutschland – das hätte ich mir noch vor zehn Jahren nicht einmal in einem sehr schlechten Traum vorstellen können. Doch die Parallelen gehen bis in die Terminologie: Auf seiner persönlichen Website www.josepinara.com präsentierte Piñera im Mai 2004 die »Agenda Chile 2010«.
Machen Sie sich das zweifelhafte Vergnügen, auf diese Webseite zu klicken.
Dort finden Sie einen Text von Piñera auf Deutsch: „Auf dem Weg zum mündigen Bürger: Reform der Altersversorgung am Beispiel Chiles. Das Gespenst bankrotter staatlicher Rentensysteme.“
Pinochets Arbeitsminister beschönigt in diesem Beitrag die Lage der privatisierten Rentenversicherung in Chile auf dreiste Weise. Und er argumentiert im Kern so, wie die Vertreter der Riester-Rente und der Erhöhung des Renteneintrittsalters bei uns argumentieren. Bitter kann man da nur feststellen: Riester und Müntefering, Rürup, Miegel und Raffelhüschen stehen in der Tradition des 1980 mit Gewalt gemachten Experiments in Chile.
Die Privatisierung der Altersvorsorge hat in Chile übrigens die Gefahr großer Altersarmut heraufbeschworen. Darauf wies der damalige Präsident Chiles, Lagos, bei einem Besuch in Berlin hin:
Eine andere bemerkenswerte Parallele ist die damals in Chile nach dem Umsturz bewusst erzeugte Massenarbeitslosigkeit. In Chile hat man damals hunderttausende von Menschen aus dem öffentlichen Sektor entlassen. Milton Friedmann empfahl diese Methode mit der Begründung, die Entlassenen „bekämen rasch im Privatsektor neue Jobs, der bald boomen werde, wenn Pinochet so viele Hindernisse wie möglich beseitige, die jetzt den privaten Markt einschränken.“ Dieser Glaube bewahrheitete sich nicht. Und dennoch leben in diesem Glauben auch eine Reihe der bei uns für den mehrmaligen Abbruch einer beginnenden guten Konjunktur Verantwortlichen. Bei uns hat man den öffentlichen Sektor ausgedünnt. Und man hat zusätzlich eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik betrieben, die uns in den achtziger Jahren und dann vor allem ab 1993 und noch einmal ab 2001 eine beachtlich große „Reservearmee“ von Arbeitslosen bescherte. Das war nicht ganz so radikal wie in Chile. Aber es hat eine ähnliche Wirkung: Druck auf die Löhne und Masseneinkommen der arbeitenden Bevölkerung und Anstieg der Gewinn- und Vermögenseinkommen. Ich nenne die bewusste Erzeugung von Arbeitslosigkeit antidemokratisch.
Genau die gleiche Bewertung verdient die bewusste Verschlechterung der Einkommens- und Vermögensverteilung. Es ist kein Geheimnis, dass Armut ein Teufelskreis ist und die Chancen der in Armut lebenden Erwachsenen und Kinder auf eine gleichwertige Beteiligung nachhaltig mindert. Das ist keine Basis für ein demokratisches Leben.
Die gängige Polemik gegen die Vorstellung, alle Menschen seien gleich, und die bewusst betriebene Spaltung unserer Gesellschaft gründen auf antidemokratischen Vorstellungen.
In einer Demokratie absolut unerträglich ist das massenhafte Plündern öffentlichen Vermögens, wie wir das nach dem Putsch in Chile von 1973 an erlebten und bei uns heute erleben. Der Ausverkauf auch unseres Landes wird zur Zeit massiv betrieben – weil einige Personen und einige Gruppen daran maßlos verdienen und verdienen wollen. Auch hier ist die Parallele zum Experiment Chile bedrückend.
Ein weiteres Beispiel ist die bewusst betriebene Dominanz der Wirtschaft und des großen Geldes im öffentlichen Leben. Was so schön klingt wie Zivilgesellschaft oder Förderung des Stiftungswesens, läuft im Kern häufig auf eine Ent-Demokratisierung des öffentlichen Lebens hinaus. Unsere Universitäten werden dem Einfluss des Staates schrittweise entzogen und Gremien überlassen, in denen Vertreter der Wirtschaft das Sagen haben. Die Öffentlichkeit darf allerdings weiter zahlen. Wenn öffentliche Leistungen durch Mittel aus Stiftungen und durch Sponsoring ersetzt werden, ist damit in der Regel verbunden, dass der Einfluss finanzieller Interessen wächst und der der demokratischen Öffentlichkeit schwindet. So ist es offensichtlich gewollt.
Das arme Chile hat vieles davon vorgelebt. Dort könnte man offensichtlich viel lernen. Vor allem dies: Dagegen aufstehen. Noch mehr, als es sich schon abzeichnet. Das ist mein Neujahrswunsch.