Welch ein Gemetzel! Beim Tagesspiegel tobt im Forum unter einem Artikel zur Popsängerin Nena der verbale Furor. Persönliche Angriffe, abwertende und verletzende Äußerungen: Für die Redaktion offensichtlich kein Problem. Für Medienbeobachter ist das alles andere als erstaunlich. Das Messen mit zweierlei Maß gehört längst zur „journalistischen“ Kernkompetenz. Hass und Hetze lehnt die Schar der sich selbst als moralisch gerecht wahrnehmenden Haltungsjournalisten zwar selbstverständlich ab. Wenn sich die Hetze gegen die „richtigen“ Personen und Gruppen richtet, ist das allerdings etwas anderes. Von Marcus Klöckner.
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Gerade erst ist dem Tagesspiegel die „Berichterstattung“ zu der Aktion „allesdichtmachen“ auf die Füße gefallen, dass es nur so krachte. Und nun darf sich im Forum der Hass gegen die Sängerin Nena austoben.
Aber der Reihe nach: Bei einem Konzert in Berlin hat es der Pop-Ikone der 80er Jahre offensichtlich missfallen, dass ihre Fans in Boxen, bestehend aus Cola-Kästen, stehen sollten – aufgrund der Corona-Hygienemaßnahmen.
Auf Videos ist zu sehen, wie Nena ihren Unmut von der Bühne zum Ausdruck bringt und unter anderem sagt: „Die Frage ist nicht, was wir machen dürfen. Die Frage ist, was wir mit uns machen lassen.“
Krach! Das war eine Ansage. Dass die Sängerin sich mit einer derartigen Haltung keine Freunde aufseiten jener Journalisten machen dürfte, die sich als verlängerter Arm der Pandemiebekämpfung verstehen, liegt nahe.
Der Tagesspiegel hat den Vorfall rasch aufgegriffen. In einem Bericht hält sich die Autorin nicht mit einer persönlichen Meinung zurück:
Nein, Nena hat weder Corona noch irgendetwas anderes geleugnet, noch hat sie die Impfung tatsächlich in Frage gestellt. Aber sie hat sich nicht an Vereinbarungen gehalten. Und hat damit die Fakten und die Überzeugung der Gesellschaftsmehrheit, dass die Pandemie eine reelle Gefahr ist, nicht ernst genommen. Da kann sie noch so trotzig „selber denken“ fordern, noch so sehr auf Gemeinschaft pochen: Achtsamkeit sieht anders aus.
Mit diesen Ausführungen ist der Ton offensichtlich auch für das Forum gesetzt.
Betrachten wir einige markante Stellen in den Kommentaren (Fehler im Original):
- Für ihr Alter benimmt sie sich wie ein trotziges Kind.
- Mit dem Denken ist es so eine Sache. Manche könne es, mache eben nicht.
- Wundert mich bei der Dame überhaupt nicht.
- Schon in der Vergangenheit ist sie durch esoterisches Geschwurbel aufgefallen
- Sie befindet sich auf dem gleichen geistigen Tiefflugniveau wie der Wendler und der unsägliche Naidoo.
- Nena. Laß deinen Freund als Vormund einsetzen, spiel deine Kieder, abrr nimm kein Mikro mehr in die Hand. Das Alter scheint dir zuzusetzen.
- Hoffentlich findet sie einen guten Arzt.
- Wie wäre Ekel-Alfred-Sprech zu Nena (“Alfred Tetzlaff” is bekannt, oooder?!)? “dusselige Kuh.” Ausnahmsweise gäbe ich ihm dabei Zustimmung (seine Frau Else tat mir immer leid).
- Nena war noch nie die hellste Leuchte…da kann sie noch so oft „Leucht-turm“ quäken.
- Arme Nena, Alterswahnsinn schon mit 61…;-))
- Offenbar ist sie der spätpubertären Anti-haltung nicht entwachsen.
- …sorry, aber die hat einen riesigen Dachschaden…
- Man wundert sich, dass die Frau nach fast 50 Jahren Profikarriere immer noch nicht in der Lage ist, Verträge zu lesen.
Wie lauten eigentlich die Forumsregeln beim Tagesspiegel? Wir lesen in den „Community Richtlinien“. Zunächst heißt es:
Liebe Leserinnen und Leser,
Wir freuen uns sehr, dass Sie an unseren Leser-Debatten teilnehmen möchten. Um einen fairen Umgang und eine angenehme Atmosphäre in den Diskussionen zu gewährleisten, möchten wir Sie auf folgende Regeln und Hinweise aufmerksam machen (…).Und dann folgen die Regeln:
1. Respekt
Wir legen Wert darauf, dass sich Benutzer auf Tagesspiegel Online mit Respekt begegnen. Ziel unserer Moderation ist es, den Rahmen für einen sachlichen Austausch von Argumenten zu schaffen.
2. Stigmatisierungen
Kampagnen und Stigmatisierungen aufgrund von Abstammung, Weltanschauung, religiöser Zugehörigkeit, Nationalität, Geschlecht, sexueller Orientierung sowie sozialem Status dulden wir nicht. Kommentare, die auf eine pauschale oder persönliche Herabwürdigung abzielen, werden nicht veröffentlicht.
3. Inhalte
Sie verpflichten sich, keine obszönen, pietätlosen, menschenverachtenden oder gewaltverherrlichenden Inhalte zu verfassen.
Das klingt alles vernünftig.
Nun zurück zum Realitätsabgleich.
- „Dusselige Kuh“?
- „geistiger Tiefflug“?
- „Freund als Vormund“
- Nena war noch nie „die hellste Leuchte“
- usw. usf.
Sieht so „Respekt“ aus? Hat hier die „Moderation“ „den Rahmen für einen sachlichen Austausch von Argumenten“ aufgezogen? Und lässt sich die eine oder andere Aussage wirklich in Einklang bringen mit dem Vorhaben der Redaktion, Stigmatisierungen aufgrund von Weltanschauung und Geschlecht nicht zu veröffentlichen?
Gegenprobe: Stellen wir uns vor, die Äußerungen würden sich auf eine Person beziehen, der Medien Respekt zollen. Nehmen wir Angela Merkel, Jens Spahn, Karl Lauterbach oder irgendeinen bekannten Prominenten, der die „richtige“ Meinung vertritt.
In dem Falle wären die Kommentare wohl schneller gelöscht, als man sie lesen könnte. Grund: Hetze, Respektlosigkeit, persönliche Angriffe.
So geht es eben, das Messen mit zweierlei Maß.
Titelbild: mtkang/shutterstock.com