Beobachter warnen: Der Westen provoziert, Russland wird antworten. Bidens «Putin ist ein Mörder» ist mehr als nur Provokation. Auch in der internationalen Politik gibt es Spielregeln: Kritisiert werden dürfen Länder, Regierungen und Organisationen, aber keine Staats- oder Regierungschefs persönlich. Emmanuel Macron zum Beispiel weiss das. Seine Aussage «Die NATO ist hirntot» war eine sehr, sehr harte Kritik, aber sie richtete sich gegen die Organisation. «Jens Stoltenberg ist hirntot» (Stoltenberg ist der Generalsekretär der NATO) wäre ein Tabubruch gewesen – und damit undenkbar. Von Christian Müller.
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Dieser Text ist mit freundlicher Genehmigung von Infosperber übernommen.
Es blieb dem neuen US-Präsidenten Joe Biden vorbehalten, diesen Tabubruch am Mittwoch vor Tausenden von Zuschauern zu vollziehen. Auf dem US-Fernsehsender «ABC» beantwortete er die Frage des Moderators, ob er Putin für einen Mörder halte: «Ja, das tue ich». Und er kündigte an, Russland werde für die von US-amerikanischen Geheimdiensten behauptete – «von Putin bewilligte» – Beeinflussung der US-Wahlen bezahlen müssen.
Düstere Prognosen bestätigt
Dmitri Trenin, der Direktor des «Carnegie Centers Moscow», eines aus US-Stiftungsgeldern finanziertes und der internationalen Friedensförderung verpflichtetes Institut, hat einer Nachfrage des Autoren Folge geleistet und am 21. Februar 2021 folgende Beurteilung der gegenwärtigen geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen und Russland abgegeben:
- Die Ankunft von Joe Biden und den Demokraten im Weißen Haus bedeutet mehr und gezielteren Druck der USA auf Russland und Putin persönlich sowie ein viel stärkeres Engagement der USA, in der russischen Innenpolitik und in Russlands unmittelbarer Nachbarschaft mitzumischen.
- Die deutschen Vorwürfe, Russland habe Nawalny vergiftet, markierten im vergangenen Herbst das Ende der besonderen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau. Parallel dazu haben sich auch die Beziehungen zu Paris verschlechtert.
- Während Biden eine gemeinsame Front von Verbündeten aufbaut, um Russland einzudämmen, ähneln die Beziehungen zwischen Russland und Europa zunehmend denen zu den USA. Entfremdung und Distanzierung schlagen um in Konfrontation.
- Russland sieht Brüssel als im Wesentlichen träge; Deutschland, wie es sich der US-Führung wieder willig unterstellt und Polen über die Schulter schaut; und Frankreich, wie es mit großen, aber leeren Worten seine Nostalgie nach verlorener Größe befriedigt.
- Für den Kreml ist die westliche Unterstützung für Nawalny gleichbedeutend mit Versuchen, Russland zu destabilisieren, sich in den laufenden politischen Übergang einzumischen und seine Souveränität zu untergraben. Er ist darauf vorbereitet, hart zurückzuschlagen.
- Wie hart, wird von den westlichen Aktionen abhängen. Wie bissig werden die neuen Sanktionen sein? Wie groß wird die Unterstützung für antisystemische Kräfte innerhalb Russlands sein? Wie viel Spielraum wird Kiew bekommen? Wie weit wird der Westen bei der Unterstützung der belarussischen Opposition gehen? Wird Transnistrien in ein umgekehrtes West-Berlin verwandelt werden? Werden die Ukraine, Georgien und Moldawien ermutigt werden, mit Unterstützung der USA und der NATO einen Pakt gegen Russland zu schließen?
- Die Bandbreite und Intensität möglicher Reaktionen ist recht groß. Der Kreml erwägt verschiedene Optionen. Er wird nicht voreilig handeln, aber er kann schnell und asymmetrisch agieren und versuchen, den Gegnern in den Rücken zu fallen.
- In jedem Fall ist eine stärkere wirtschaftliche und sicherheitspolitische Verflechtung mit Belarus wahrscheinlich.
- Da das Minsk-2-Abkommen ins Stocken geraten ist und das Normandie-Format aufgrund der offensichtlichen Unwilligkeit der Ukraine, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, und aufgrund der vollen Unterstützung Deutschlands und Frankreichs für alles, was Kiew tut, nicht funktioniert, wird der Donbass schrittweise enger mit Russland integriert werden.
- Ein ukrainisch-westlicher Versuch, die Bedingungen von Minsk zu ändern oder das Normandie-Format um die USA, Großbritannien und andere westliche Länder zu erweitern, wird abgelehnt werden. Wenn Minsk-2 von der Ukraine und ihren Unterstützern formell aufgegeben wird, wird die Möglichkeit eines Krieges in der Ukraine stark zunehmen.
- Moskau wird in Transnistrien nicht nachgeben. Notfalls ist es entschlossen, trotz einer möglichen Blockade die Transportverbindungen mit seiner Garnison aufrechtzuerhalten.
- Innenpolitisch wird der Kreml härter gegen vom Westen unterstützte und geleitete Oppositionsgruppen vorgehen.
- Russland wird die Entwicklung seiner eigenen Internetprovinz, des Runet, vorantreiben.
- Moskaus wirtschaftliche, technologische und sicherheitspolitische Beziehungen zu Peking werden wachsen, um die sich rapide verschlechternden Beziehungen zu Europa zu kompensieren.
- Es ist logisch zu erwarten, dass das angegriffene Russland mit antisystemischen Kräften in den USA und Europa zusammenarbeitet.
- Russlands Antwort hat bereits einen Namen: aktive Eindämmung (containment) der Vereinigten Staaten.
Jeden Tag wird sichtbarer, wie recht Dmitri Trenin hat, wenn er vor einer Eskalation der West-Ost-Spannungen warnt. Schon vor Monatsfrist hat das «Carnegie Center Moscow» eine kurze Rede von Dmitri Trenin als Video publiziert. Trenins Schlusswort und Warnung: «Fasten Your Seatbelt»: Hier anklicken, um das Video zu sehen, es dauert nur zwei Minuten.
Ob auch die Schweizer Medien das verstehen? Radio SRF erwähnte am Abend des Geschehens den Tabubruch Joe Bidens mit keinem Wort. Die NZZ erwähnte Bidens Interview in der gestrigen Ausgabe in einer 18-zeiligen Agentur-Meldung. Etliche große deutsche Zeitungen waren da aufmerksamer. Selbst die «Süddeutsche Zeitung», die nicht in Verdacht steht, besonders Russland-freundlich zu sein, brachte dazu einen längeren Bericht ihres Korrespondenten Hubert Wetzel. Etwas totzuschweigen, um es ungeschehen zu machen, ist im Zeitalter des Internets kaum noch eine erfolgreiche Methode.
Wer am Mittwochabend allerdings das russische Fernsehen verfolgt hat, weiß, wie dort Joe Bidens Tabubruch angekommen ist: als massive Beleidigung ganz Russlands. Auch in Russland weiß man ja sehr genau, dass kein anderes Land seit dem Ende des Kalten Krieges mehr Kriegstote zu verantworten hat als die USA – auch und nicht zuletzt unter dem demokratischen Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Barack Obama, dessen Vizepräsident Joe Biden von 2009 bis 2017 war.
Russland hat denn auch seinen Botschafter aus Washington zurückgerufen – mehr als ein deutliches Signal. «Fasten Your Seatbelt!»
PS: Gestern Donnerstagabend reagierte Putin auch selber – in jeder Hinsicht überlegen. Er wünschte Joe Biden gute Gesundheit (wissend, dass Joe Biden altersbedingt immer öfter mentale Aussetzer hat), und er offerierte Joe Biden, heute Freitag oder am Montag ein Telefongespräch abzuhalten, das von allen Russinnen und Russen und allen Amerikanerinnen und Amerikanern online (!) mitgehört werden kann. Eine Antwort Joe Bidens steht bis zur Stunde noch aus.
Titelbild: © Carnegie Center Moscow