Das Existenz–Minimum der HabendHerrschenden – Hartz IV, das Bundesverfassungsgericht und die etablierte bundesdeutsche Politik
Der 1. Senat hat mit seinem Urteil vom 9.2.2010 nicht eine überfällige Debatte über gesellschaftliche Ungleichheit angestoßen und selbst eröffnet, allen Grund- und Menschenrechten und jeder Form der Demokratie abträglicher als alle anderen Gegebenheiten. Er hat die feinen und groben Unterschiede würdig abgesegnet. Nicht die Grund- und Menschenrechte als normae normantes, als täglich dirigierende politische Normen sind von ihm mit neuem Leben versehen worden. Nein: die normative Kraft des Faktischen. Das, wie es mit katastrophischen Unterschieden und schlimmen Effekten nach innen und außen ist, wie es ist, wird gelobt, dass es so ist. Von Wolf-Dieter Narr
I. Wie alles anfing
(ohne den allgemeinen Anfang zu beschreiben, neoliberal Arbeitskosten auf Profit kommt raus, global konkurrierend zu sparen. Auch wenn nicht nur in den Dienstleistungsbereichen dringend mehr Arbeitende nötig wären: Bildung, Gesundheit, Altenpflege u.ä.m. Ohne die ergänzende Tendenz zu analysieren, statt Arbeitsplätze zu schaffen und anzubieten, die Arbeitslosen disziplinierend und armutumrandet zu kurieren).
Seit 24.12.2003 gilt das Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II), das die „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ regelt (mit etlichen kleinen Veränderungen seither). Der seinerzeit von der Regierung Schröder/Fischer, farbenblind „rotgrün“, als sozialpolitischer Programmatiker des neuen Jahrhunderts ausgesuchte, zwischenzeitlich korruptiös versackte Arbeitsdirekter des VW-Konzerns, Hartz, hat dieser „Grundsicherung“ den bleibenden Kosenamen gegeben: Hartz IV. Diese in 66 Paragraphen und 39 enggedruckte Seiten rechtsausgewälzte „Grundsicherung“ zeichnete sich vor aller arbeitsbürokatischen Verwirklichung (via sog. Arbeitsagenturen) durch folgende a – soziale Eigenschaften eines „Sozialgesetzes“ aus. Sie wurde also darauf bewusst und gewollt ausgerichtet:
Zum ersten: Hartz IV etablierte eine scharf geschliffene Schere aus zwei Blättern: „Fördern und Fordern“ – so die Überschrift von Kapitel 1. Unter der Überschrift „Fordern“ werden die „erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen“ („und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“) mit einem Katalog von MUSS-Vorschriften überzogen. Die fordernd Genötigten k ö n n e n dann gefördert werden. Müssen und Können spielen von vornherein ungleichen Doppelpass.
Zum zweiten: Die Ungleichheit wird dadurch verschärft, dass die zuständigen Vertreter der Arbeitsagentur entscheiden, ob und wie gefördert wird. Sie befinden vorweg, ob der/die Hilfsbedürftige den an ihn/sie von den Vertretern der Agentur herangetragenen Forderungen entsprochen hat. Nur der in einem unmittelbaren Herr – (Agenturvertreter) und Knecht/Magd – Verhältnis erbrachte Forderungsgehorsam lässt, je nach Einsicht des „Herrn“, unterschiedlich bemessene Formen der Förderung erhoffen.
Zum dritten: Das Gesetz ist – infolge des ungleich zugeordneten Müssens hier, ermessensoffnen Könnens dort – als ein Disziplinierungsinstrument angelegt (sein Umfang, seine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe u.ä.m. verstärken dieses Charakter. Hilfsbedürftige BürgerInnen bedürfen in der Regel des Behördenvertreters, um das Gesetz zu verstehen). Ein abgestufter Straf-Katalog steht zur Verfügung: „Absenkung“ oder „Wegfall des Arbeitslosengeldes“(§ 31). Dieser wird nicht gesetzesintern balanciert durch Mitbestimmungs- und Aushandlungsmechanismen.
Zum vierten: Die von vornherein als „Hilfsbedürftige“ im Substantiv diskriminierten BürgerInnen (statt eines adjektivischen Gebrauchs) werden wie Subjekte behandelt, die an ihrer Arbeitslosigkeit selber schuldig sind. Daraus erklärt sich der pauschale Zwangsgrundsatz „des Forderns“ (§ 2). Ihm entspricht die kaum beschränkte „Zumutbarkeit“ (§ 10): „…müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfsbedürftigkeit ausschöpfen.“…“muss aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen.“
Zum fünften: „Die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“ (§ 20) und ihre Differenzierung (§§ 21 ff.) zeichnen sich durch drei Merkmale aus:
- Ihr niedriger Ansatz wird aufgrund „einer Einkommens- und Verbraucherstichprobe“ berechnet(s. § 28 Abs.3 SGB XII).
- Interne Differenzierungen bei Bedarfsgemeinschaften, bei Leistungen für regelmäßigen Mehrbedarf, bei Leistungen für die Ausbildung von Kindern erscheinen willkürlich oder sehen solche Leistungen nicht vor. Vor allem die Kinderlücke schreit.
- Politisch bürgerliche Betätigung ist nicht einmal als Begriff vorgesehen. Es sei denn man fasse sie unter der pauschalen Bezeichnung „Teilnahme am kulturellen Leben“. Die letztgenannte ist angesichts der Regelsätze ein bürokratischem Verfahren nicht angemessener frommer Wunsch: Der ´Geist´ wehe, wo er wolle.
II. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010)
- Hartz IV-„Gaben“ nehmen gegenwärtig ca. 6, 7 Millionen BürgerInnen in Anspruch. Sie summieren sich alles in allem jährlich auf mehr als 40 Milliarden Euro.
Angesichts der gesetzlichen Sparabsicht, verbunden mit kontrollierenden und disziplinierenden Zielen auf der wabbligen Basis administrativen Ermessens, wundert es nicht, dass eine ungewöhnlich hohe Welle von Klagen seit Beginn der Hartzerei die Sozialgerichte umspült (und Hartz IV bürgerlich falsifiziert). Das Bundessozialgericht nannte allein für 2009 194 000 Klagen. Diese Klageflut und ihre Aufwände kommen zu den immensen, vom Gesetzgeber und seinen Interessenten nicht bedachten eminenten Kontrollkosten von Hartz IV hinzu. Einige dieser Klagen erreichten dank der Sozialgerichte das Bundesverfassungsgericht zu Karlsruhe. Beispielsweise dank dem Sechsten Senat des Hessischen Landessozialgerichts Darmstadt und dessen Vorsitzendem Dr. Jürgen Borchert. - Der 1. Senat des BVerG hat entschieden. Er bestimmt als normatives Fundament seiner Entscheidung Art.1 Abs.1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Er verbindet die normative Orientierung am Beginn des Grundgesetzes mit einem zweiten Basissatz Art. 20 Abs.1 GG zwischen Grundrechtekatalog (Art.1 bis Art. 19 GG) und Organisationsteil (Art. 21 bis 146 GG): „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Aus diesem Satz, der die Verfassung auf einen dreifach qualifizierten Begriff bringt (demokratisch, bundesstaatlich), hat, lange umstritten, die herrschende Meinung der Verfassungsauslegung die sog. Sozialstaatsklausel hergeleitet: „…und s o z i a l e r Bundesstaat.“
Diesem zweifach normativ ausgeflaggten Maßstab: „Menschenwürde“, „Sozialstaatlichkeit“ müsse, so das BVerfG, die „Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ entsprechen. Der „absolut wirkende Anspruch“ der Menschenwürdenorm bedeute freilich: das, was den Umständen gemäß – relativ – ein ihr entsprechenden Existenzminimum sei, lasse einen „Gestaltungsspielraum“. Ihn habe der Gesetzgeber zu bestimmen. Sprich, das was gesetzlich und verwaltungsfaktisch als Existenzminimum normiert, bürokratisch ausgelegt und schließlich verteilt wird, wird entsprechend den gegebenen Umständen (und Interessen) von Fall zu Fall gehandhabt (vgl. die vier „Leitsätze“ am Beginn des Urteils und dann vor allem C. I. Ziffer 133 – 145). - Die Menschenwürdenorm, die sich im Sozialstaatspostulat allgemein und dem Anspruch jeder Bürgerin und jedes Bürgers auf ein Existenzminimum konkret materialisiert, das ihnen erlaubt, ihre Menschenwürde zu bewahren, hat eine doppelte Folge. Zum einen, dass der „Staat“ „die Menschenwürde auch positiv“ schützt, also handelnd gewährleistet (nicht nur, wie in der liberal abwehrrechtlichen Tradition der Grund- und Menschenrechte, auf Eingriffe in schon vorhandene Besitztümer der Bürger verzichtet). Zum anderen besteht ein „Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers“, sprich jeder Bürgerin und jedes Bürgers: „da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt.“
- Weiter vermittelt, bedeutet dies, und verjüngt sich demgemäß: „Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich n u r auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins u n b e d i n g t erforderlich sind“. Dreifaches folgt. Zum einen: Der Leistungsanspruch „gewährleistet das gesamte Existenzminimum…, das sowohl die physische Existenz des Menschen …, als auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst…“ Zum anderen: aus dem „Rechtsstaats und Demokratieprinzip“ folgt die „Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen.“ Als da sind: mit „transparenten und sachgerechten Verfahren“ den „tatsächlichen Bedarf“ neu und neu festzulegen, das aber mit „Methoden und Berechnungsschritten“ zu tun, die „nachvollziehbar“ offen zu legen sind. Zum dritten: Ansonsten aber bleibe dem Gesetzgeber ein „Gestaltungsspielraum“, sowohl was den „Umfang des Bedarfs“, die Art der „Geld-, Sach- oder Dienstleistungen“, wie die „Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse“ angeht.
- Nach solcher Vorgabe der Standards, ihrer Grenzen und der Freiheit des Gesetzgebers im Verwirklichungsdickicht der „absoluten“ Norm übt das BVerfG Kritik an Hartz IV (s. C. II. Ziffer 146 ff.):
„Die vorgelegten Vorschriften“ genügten „den Vorgaben von Art.1 Abs.1 GG in Verbindung mit Art.20 Abs.1 GG nicht.“ Kurzum sie seien „verfassungswidrig“. Die Verfassungsrichter rügen vor allem die Berechnungsmodi der materiellen Leistungen dort, wo sie „der Bestimmung der Regelleistung“ widersprächen oder nicht verfahrensförmig festgelegte und transparente Mängel festzustellen seien. Insgesamt geht der 1. Senat auch dort, wo er Unzulänglichkeiten moniert, dem Gesetzgeber weit entgegen (bürokratische Praktiken, bei der Verwirklichung von Gesetzen meist die halbe, wenn nicht ihre Hauptwahrheit, ihre Praxis, nicht ihr Buchstabe, werden vom BVerfG nicht erörtert, auch nicht, soweit sie im Gesetz qua unbestimmten Rechtsbegriffen u.a. vorgegeben sind). „Soweit sich die vom Gesetzgeber festgelegten Sätze auf der Grundlage belastbarer Zahlen und vertretbarer Wertungen im Ergebnis verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen, sind die entsprechenden Regelungen nicht zu beanstanden.“ „Das geltende Statistikmodell“, die Grundlage der Berechnungen aufgrund von Durchschnittszahlen der Lebenshaltungskosten des unteren Fünftels der Bevölkerung“, „stützt sich auf geeignete empirische Daten. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, aus der sich nach § 28 Abs.3 Satz 4 SGB XII und § 2 Abs.1 Satz 1 Regelsatzverordnung der Eckregelsatz ableitet, liefert eine realitätsnahe Ermittlungsgrundlage.“(Ziffer 167 f.).
Die Verfassungsrüge gilt deswegen Regelungen, in denen der Gesetzgeber vom „Statistikmodell“ abgewichen ist (Ziffer 173 ff.); wo der „regelungsrelevante Verbrauch“ auf nicht tragfähiger Grundlage ausgewertet wurde, konsequent die „prozentualen Abschläge“ so nicht „tragfähig begründet“ werden; wo vor allem Bildungsausgaben für Kinder auf die Länder unzulässig abgeschoben werden (Ziffer 180); wo fälschlich Netto- und Bruttowerte gemischt werden; wo „keine vertretbare Methode zur Bestimmung des Existenzminimums eines Kindes bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres“ verwandt worden sei (Ziffer 190), ebensowenig wie beim „altersspezifischen Bedarf für Kinder“ (Ziffer 197 f.); wo der „besondere Bedarf“ nicht haltbar geregelt bzw. vermisst werde (Ziffer 204 ff). - Überall dort (s. D. I. Ziffer 210 ff.) müsse Gesetzgeber nachkarten. Das BVerfG setzt kurze Zeiten. Insgesamt bis Ende 2010. Spätere Korrekturen gälten sonst rückwirkend. In Sachen „einmaliger und unabweisbarer Bedarf“, was immer da im Einzelnen umstritten sein mag, ist die Lücke“, das „existenznotwendige Minimum“ zu decken, im Sinne einer „entsprechenden Anordnung des Bundesverfassungsgerichts“ zu schließen, bevor eine entsprechende „Härtefallregelung“ greift (Ziffer 220). Ansonsten aber ist gesetzgeberisch nicht heiß zu essen, was verfassungsgerichtlich schon warm serviert worden ist. „Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind (die Evidenzkategorie, will sagen, dass etwas fast allen Zeitgenossen einleuchten muss, gefällt dem BVerfG), ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungswegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Er muss vielmehr ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den angezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnisse im Gesetz als Leistungsanspruch verankern.“ Ansonsten besteht dort, wo „ein erneutes Verfahren zur realitätsgerechten Bemessung der Leistungen“ erforderlich ist, dann, wenn das neue Verfahren gesetzt ist, kein Rückwirkungsgebot.
III. Das Urteil des BVerG in Perspektive. Die normative Kraft des Normativen und die normative Kraft des Faktischen
- Das Bundesverfassungsgericht ist ein wichtiges Organ im Rahmen der Gewaltenteilung. Es wurde im bundesdeutschen Kontext grundgesetzlich geschaffen. Es soll als höchste Gerichtsinstanz neben den obersten Instanzengerichten à la Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungs- und Bundessozialgericht u.a.m. vor allem dem gerichtlich öffentlichen Schutz der Verfassung als einer liberalen Demokratie mit einem Katalog unmittelbar geltender Grund- und Menschenrechte dienen. Es ist hier nicht der Ort seine bedeutsame, aber zugleich seine verfassungsnotwendigen und, mit einem Lieblingsadjektiv des BVerfG gesprochen, realitätsnahen Begrenzungen zu erörtern. Zu diesen gehört im Kontext einer repräsentativ demokratischen Verfassung in Sachen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung der eindeutige Vorrang von gewähltem Parlament und gewählter Exekutive. Sie konstituieren die politisch staatlich geltende Wirklichkeit. Das Verfassungsgericht hat letztlich eine eher marginale Korrektur- und Kontrollaufgabe. Seine Wirkung kann beträchtlich sein, abhängig vom Legitimitätsglauben aus der Mitte der Bevölkerung und dem Umgang der anderen gewaltenteiligen Instanzen. In keinem Fall aber stellt das Gericht die unpolitisch erträumte neutrale Macht über den Parteien und Interessen dar. Es ist, in der Regel, abständiger Teil des Interessenkampfes. Das Gericht, Teil des government, kann aus dem Kontext der herrschenden Interessen nur ausnahmsweise ausbrechen. Sonst verlöre das BVerfG ohne exekutive Hand seinen Einfluss. Sein Mitspiel um die Macht macht es von etablierten Mächten abhängig.
- Abstand zu und Eingebundenheit des BVerG ins etablierte Interessengetümmel sind im Rahmen seines Hartz IV-Urteils dreifach zu demonstrieren. Zum ersten an der Art, wie es mit höchsten Verfassungsnormen verfährt. Zum zweiten an der Art, wie es die zum Absolutum erhobene Norm „Würde des Menschen“ teils unverbindlich werden lässt, teils demokratisch enteignet. Zum dritten, wie es seinen eigenen Normhof mühelos verlässt und mehrheitlich etablierte Verfahrens – und Gleichheits-/Ungleichheitsannahmen eben wie „realiätsnahe“ Tatbestände übernimmt. Insofern tappt das Gericht realitätsblind im Dunkeln, als es sich eine andere Verwirklichung der Menschenwürde nicht vorstellen kann. Eine andere Form der Verwirklichung aber käme dem herausgehobenen Wert der Menschenwürde erst näher.
Zum ersten: Indem das BVerfG, menschliche Logik übersteigend, den Rang der Würde jedes Menschen zum „absolut wirkenden Anspruch“ erhob, „dem Grunde nach unverfügbar“, hat es diesen humanen Wert als Wert jedes hier und heute lebenden Menschen (mit historischem und zukünftigem Tiefeneffekt) unverbindlich verhimmelt. Dass er „unverfügbar“ sei, bedeutet nicht nur, er darf von Menschen und ihren Institutionen nicht angetastet werden. Es bedeutet zugleich, mit dieser abgehobenen, ein emphatisch leeres Symbol darstellenden Norm kann human praktisch nicht geurteilt, nicht gemessen werden. Humane Normen des normbedürftigen Menschen als geschichtlichem Wesen können gut begründet mit aller Kraft postuliert werden. Aber sie bleiben notwendig relativ. Sie gewinnen ihre jeweils zu erneuernde Geltung und den Grad ihrer Verbindlichkeit dadurch, dass sie zum einen mit möglichst klaren und eindeutigen Kriterien versehenen werden und dass – damit zusammen – Prozeduren genannt werden, mit deren Hilfe sie angemessen verwirklicht werden könnten. Normen ohne Kriterien und Formen bleiben taub. Umgekehrt: Formen ohne Normen bleiben leer. Weil das BVerfG beansprucht, was nur als überzogener Anspruch möglich ist, bleibt das, was „Menschenwürde“ sein soll, leer und taugt nichts dazu, richtigere oder falschere Praxis zu beurteilen. Darum koppelt das Gericht eine absolute Norm, ein leeres Ausrufezeichen, mit unverbindlicher Kasuistik. Der Spielraum den letztere dem Gesetzgeber u.a. lässt, ist schier unbegrenztes Ermessen. Hätte der 1. Senat den Anspruch der Menschenwürde substantiell begründet, dann hätte Art.1 Abs.1 GG als norma normans fungieren können, sprich als Maßstab, an dem sich speziellen Gesetze und die bürokratischen Auslegungen halten müssten. So aber bildet die abgelöste Norm nur einen pathetisch allgemein ausgemalten Hintergrund dafür, vordergründige praktische Verwirklichungen der Menschenwürde i.S. von allerlei Arten von „Existenzminima“ mit einer pathetischen Aura zu versehen. Das gebrauchte „Statistikmodell“, orientiert an ausgewählten, vom Gericht pauschal akzeptierten Durchschnittswerten des letzten Fünftels der Einkommens- und Vermögenshierarchie, erhält unvermittelten und unbegründeten menschenwürdigen Glanz. Das kann man höchstrichterliche Realpolitik mit absolutem Goldgrund nennen.
Zum zweiten: Die normative Kentauerngestalt (statt halb Gott, halb Tier, absoluter Teil hier, kasuistischer dort) hat prägende Konsequenzen. Der „verfassungsgerichtlichen Kontrolle“ genügt es, wenn der Gesetzgeber die „eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte“ „nachvollziehbar offenlegt“, mit denen er das „Existenzminimum“ bestimmt. „Andere Grundrechte“ seien dafür irrelevant. „Entscheidend ist von verfassungswegen allein, dass für jede individuelle hilfsbedürftige Person das Existenzminimum nach Art.1 Abs.1 GG in Verbindung mit Art.20 Abs.1 GG ausreichend erfasst wird“ (Ziffer 144 f.). Das ist der Preis konstruierter Absolutheit. Das BVerfG bestimmt. Der Gesetzgeber bestimmt. Die tautologisch, sprich doppelt gemoppelt benannte „individuelle“ (gibt es andere?) „hilfsbedürftige Person“ hat das zu akzeptieren. Sie hat im Besitz ihrer freilich „absolut“ nur umgehangenen „Würde“ auf ihr sie erst als Person mitschaffendes Recht auf Selbst- und Mitbestimmung, auf Integrität, Gleichheit, Meinungsfreiheit, Schutz ihrer Wohnung u.ä.m. zu verzichten. „Absolut“ würdig in ihrer materiell minimal und durchschnittlich statistisch bürokratisch berechneten Existenz. Hier wird nicht nur der absolute Würde(un)begriff des BVerfG mehrfach fraglich. Fraglich wird noch mehr ihre offenkundig bürgerabstrakte Vorstellung von Konzept und Praxis (repräsentativer) Demokratie. Freilich Art. 20 Abs.2 Satz 1 GG – „Alle Gewalt geht vom Volke aus“ -, ist im Zusammenhang mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nur wie ein demokratischer Wurmfortsatz formuliert. In Verbindung mit den nicht mehr wie im 18. Jahrhundert allein als individuelle Abwehrrechte verständlichen Grund- und Menschenrechten, die vielmehr je nach Bedingungen der Möglichkeit aktive bürgerliche Rechte bedeuten, gehören Selbst- und Mitbestimmung zur Quintessenz der menschlichen Würde. Mit Ernst Bloch zu reden: Zur Ekstase des aufrechten Gangs. Das aber bedeutet: Das gesetzgeberisch willkürlich festgesetzte Existenzminimum darf der Bürgerin und dem Bürger getrennt und gemeinsam nicht einfach per ordre de mufti „nachvollziehbar“, „transparent“ zugewiesen werden. Ruhe und Gehorsam wären dann die ersten Bürgerpflichten. Am Verfahren, Hilfen für hilfsbedürftige Menschen auszuknobeln und sie dann tatsächlich einzelfallbesonders zu vergeben, sind die hilfsbedürftigen Menschen in extenso zu beteiligen. Hier wird Würde demokratisch. Da das BVerfG solche Überlegungen nicht einmal anstellt, da es die bürokratischen Kontrollen und Disziplinierungsmaßnahmen implizit im Gesetz und explizit in der von ihm nicht wahrgenommenen Praxis frohgemut im Spiegel des Absoluten übersieht, kann es das Hauptübel von Hartz IV jenseits der materiellen Ausstattung im einzelnen nicht wahrnehmen: Dass die Würde der Hartz IV-Empfängerinnen und Empfänger im Umfang der Leistungen nicht nur, sondern vor allem in der Art, wie die Leistungen vergeben werden, dauernd angetastet wird. Bald weniger, bald bis zu erheblichen Verletzungen stärker.
Zum dritten: Die „absolut“ vereiste Würde erlaubt es dem BVerfG auch nicht, über Konzeptionen der menschlichen Würde hier und heute in der Bundesrepublik zu diskutieren und abwägend zu befinden in eins mit im Jahre 2010 möglichen Formen ihrer Realisation. Weil Würde droben im Himmel blaut, bleibt, was das Auge von ihr bundesdeutsch irdisch schaut, so wie gehabt. Darum: Keine Diskussion der Lebensbedürfnisse quantitativ und qualitativ mitsamt den klassenkatergorial verschiedenen Möglichkeiten, sie zufrieden zu stellen. Gibt es wohl keine grundrechtlich und demokratisch gemäßeren Formen, als das untere Fünftel der Bevölkerung, das in sich noch verschieden ausgestattet ist, mit den Mitteln konkreter Abstraktion, hergeleitet von einem fragwürdigen „Statistikmodell“, existenzminimal abzuhaken? Und das mit der Wertwichse des Bundesverfassungsgerichts auf Würdeglanz poliert, summa summarum als wohl gelungen zu qualifizieren? Der 1. Senat hat mit seinem Urteil vom 9.2.2010 nicht eine überfällige Debatte über gesellschaftliche Ungleichheit angestoßen und selbst eröffnet, allen Grund- und Menschenrechten und jeder Form der Demokratie abträglicher als alle anderen Gegebenheiten. Er hat die feinen und groben Unterschiede würdig abgesegnet. Nicht die Grund- und Menschenrechte als normae normantes, als täglich dirigierende politische Normen sind von ihm mit neuem Leben versehen worden. Nein: die normative Kraft des Faktischen. Das, wie es mit katastrophischen Unterschieden und schlimmen Effekten nach innen und außen ist, wie es ist, wird gelobt, dass es so ist.
Wolf-Dieter Narr, war Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin. Er ist Mitgründer und Mitsprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.