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Titel: Das Existenz–Minimum der HabendHerrschenden – Hartz IV, das Bundesverfassungsgericht und die etablierte bundesdeutsche Politik
Datum: 4. März 2010 um 9:09 Uhr
Rubrik: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Erosion der Demokratie, Hartz-Gesetze/Bürgergeld
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Der 1. Senat hat mit seinem Urteil vom 9.2.2010 nicht eine überfällige Debatte über gesellschaftliche Ungleichheit angestoßen und selbst eröffnet, allen Grund- und Menschenrechten und jeder Form der Demokratie abträglicher als alle anderen Gegebenheiten. Er hat die feinen und groben Unterschiede würdig abgesegnet. Nicht die Grund- und Menschenrechte als normae normantes, als täglich dirigierende politische Normen sind von ihm mit neuem Leben versehen worden. Nein: die normative Kraft des Faktischen. Das, wie es mit katastrophischen Unterschieden und schlimmen Effekten nach innen und außen ist, wie es ist, wird gelobt, dass es so ist. Von Wolf-Dieter Narr
I. Wie alles anfing
(ohne den allgemeinen Anfang zu beschreiben, neoliberal Arbeitskosten auf Profit kommt raus, global konkurrierend zu sparen. Auch wenn nicht nur in den Dienstleistungsbereichen dringend mehr Arbeitende nötig wären: Bildung, Gesundheit, Altenpflege u.ä.m. Ohne die ergänzende Tendenz zu analysieren, statt Arbeitsplätze zu schaffen und anzubieten, die Arbeitslosen disziplinierend und armutumrandet zu kurieren).
Seit 24.12.2003 gilt das Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II), das die „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ regelt (mit etlichen kleinen Veränderungen seither). Der seinerzeit von der Regierung Schröder/Fischer, farbenblind „rotgrün“, als sozialpolitischer Programmatiker des neuen Jahrhunderts ausgesuchte, zwischenzeitlich korruptiös versackte Arbeitsdirekter des VW-Konzerns, Hartz, hat dieser „Grundsicherung“ den bleibenden Kosenamen gegeben: Hartz IV. Diese in 66 Paragraphen und 39 enggedruckte Seiten rechtsausgewälzte „Grundsicherung“ zeichnete sich vor aller arbeitsbürokatischen Verwirklichung (via sog. Arbeitsagenturen) durch folgende a – soziale Eigenschaften eines „Sozialgesetzes“ aus. Sie wurde also darauf bewusst und gewollt ausgerichtet:
Zum ersten: Hartz IV etablierte eine scharf geschliffene Schere aus zwei Blättern: „Fördern und Fordern“ – so die Überschrift von Kapitel 1. Unter der Überschrift „Fordern“ werden die „erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen“ („und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen“) mit einem Katalog von MUSS-Vorschriften überzogen. Die fordernd Genötigten k ö n n e n dann gefördert werden. Müssen und Können spielen von vornherein ungleichen Doppelpass.
Zum zweiten: Die Ungleichheit wird dadurch verschärft, dass die zuständigen Vertreter der Arbeitsagentur entscheiden, ob und wie gefördert wird. Sie befinden vorweg, ob der/die Hilfsbedürftige den an ihn/sie von den Vertretern der Agentur herangetragenen Forderungen entsprochen hat. Nur der in einem unmittelbaren Herr – (Agenturvertreter) und Knecht/Magd – Verhältnis erbrachte Forderungsgehorsam lässt, je nach Einsicht des „Herrn“, unterschiedlich bemessene Formen der Förderung erhoffen.
Zum dritten: Das Gesetz ist – infolge des ungleich zugeordneten Müssens hier, ermessensoffnen Könnens dort – als ein Disziplinierungsinstrument angelegt (sein Umfang, seine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe u.ä.m. verstärken dieses Charakter. Hilfsbedürftige BürgerInnen bedürfen in der Regel des Behördenvertreters, um das Gesetz zu verstehen). Ein abgestufter Straf-Katalog steht zur Verfügung: „Absenkung“ oder „Wegfall des Arbeitslosengeldes“(§ 31). Dieser wird nicht gesetzesintern balanciert durch Mitbestimmungs- und Aushandlungsmechanismen.
Zum vierten: Die von vornherein als „Hilfsbedürftige“ im Substantiv diskriminierten BürgerInnen (statt eines adjektivischen Gebrauchs) werden wie Subjekte behandelt, die an ihrer Arbeitslosigkeit selber schuldig sind. Daraus erklärt sich der pauschale Zwangsgrundsatz „des Forderns“ (§ 2). Ihm entspricht die kaum beschränkte „Zumutbarkeit“ (§ 10): „…müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfsbedürftigkeit ausschöpfen.“…“muss aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen.“
Zum fünften: „Die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“ (§ 20) und ihre Differenzierung (§§ 21 ff.) zeichnen sich durch drei Merkmale aus:
II. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010)
III. Das Urteil des BVerG in Perspektive. Die normative Kraft des Normativen und die normative Kraft des Faktischen
Zum ersten: Indem das BVerfG, menschliche Logik übersteigend, den Rang der Würde jedes Menschen zum „absolut wirkenden Anspruch“ erhob, „dem Grunde nach unverfügbar“, hat es diesen humanen Wert als Wert jedes hier und heute lebenden Menschen (mit historischem und zukünftigem Tiefeneffekt) unverbindlich verhimmelt. Dass er „unverfügbar“ sei, bedeutet nicht nur, er darf von Menschen und ihren Institutionen nicht angetastet werden. Es bedeutet zugleich, mit dieser abgehobenen, ein emphatisch leeres Symbol darstellenden Norm kann human praktisch nicht geurteilt, nicht gemessen werden. Humane Normen des normbedürftigen Menschen als geschichtlichem Wesen können gut begründet mit aller Kraft postuliert werden. Aber sie bleiben notwendig relativ. Sie gewinnen ihre jeweils zu erneuernde Geltung und den Grad ihrer Verbindlichkeit dadurch, dass sie zum einen mit möglichst klaren und eindeutigen Kriterien versehenen werden und dass – damit zusammen – Prozeduren genannt werden, mit deren Hilfe sie angemessen verwirklicht werden könnten. Normen ohne Kriterien und Formen bleiben taub. Umgekehrt: Formen ohne Normen bleiben leer. Weil das BVerfG beansprucht, was nur als überzogener Anspruch möglich ist, bleibt das, was „Menschenwürde“ sein soll, leer und taugt nichts dazu, richtigere oder falschere Praxis zu beurteilen. Darum koppelt das Gericht eine absolute Norm, ein leeres Ausrufezeichen, mit unverbindlicher Kasuistik. Der Spielraum den letztere dem Gesetzgeber u.a. lässt, ist schier unbegrenztes Ermessen. Hätte der 1. Senat den Anspruch der Menschenwürde substantiell begründet, dann hätte Art.1 Abs.1 GG als norma normans fungieren können, sprich als Maßstab, an dem sich speziellen Gesetze und die bürokratischen Auslegungen halten müssten. So aber bildet die abgelöste Norm nur einen pathetisch allgemein ausgemalten Hintergrund dafür, vordergründige praktische Verwirklichungen der Menschenwürde i.S. von allerlei Arten von „Existenzminima“ mit einer pathetischen Aura zu versehen. Das gebrauchte „Statistikmodell“, orientiert an ausgewählten, vom Gericht pauschal akzeptierten Durchschnittswerten des letzten Fünftels der Einkommens- und Vermögenshierarchie, erhält unvermittelten und unbegründeten menschenwürdigen Glanz. Das kann man höchstrichterliche Realpolitik mit absolutem Goldgrund nennen.
Zum zweiten: Die normative Kentauerngestalt (statt halb Gott, halb Tier, absoluter Teil hier, kasuistischer dort) hat prägende Konsequenzen. Der „verfassungsgerichtlichen Kontrolle“ genügt es, wenn der Gesetzgeber die „eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte“ „nachvollziehbar offenlegt“, mit denen er das „Existenzminimum“ bestimmt. „Andere Grundrechte“ seien dafür irrelevant. „Entscheidend ist von verfassungswegen allein, dass für jede individuelle hilfsbedürftige Person das Existenzminimum nach Art.1 Abs.1 GG in Verbindung mit Art.20 Abs.1 GG ausreichend erfasst wird“ (Ziffer 144 f.). Das ist der Preis konstruierter Absolutheit. Das BVerfG bestimmt. Der Gesetzgeber bestimmt. Die tautologisch, sprich doppelt gemoppelt benannte „individuelle“ (gibt es andere?) „hilfsbedürftige Person“ hat das zu akzeptieren. Sie hat im Besitz ihrer freilich „absolut“ nur umgehangenen „Würde“ auf ihr sie erst als Person mitschaffendes Recht auf Selbst- und Mitbestimmung, auf Integrität, Gleichheit, Meinungsfreiheit, Schutz ihrer Wohnung u.ä.m. zu verzichten. „Absolut“ würdig in ihrer materiell minimal und durchschnittlich statistisch bürokratisch berechneten Existenz. Hier wird nicht nur der absolute Würde(un)begriff des BVerfG mehrfach fraglich. Fraglich wird noch mehr ihre offenkundig bürgerabstrakte Vorstellung von Konzept und Praxis (repräsentativer) Demokratie. Freilich Art. 20 Abs.2 Satz 1 GG – „Alle Gewalt geht vom Volke aus“ -, ist im Zusammenhang mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nur wie ein demokratischer Wurmfortsatz formuliert. In Verbindung mit den nicht mehr wie im 18. Jahrhundert allein als individuelle Abwehrrechte verständlichen Grund- und Menschenrechten, die vielmehr je nach Bedingungen der Möglichkeit aktive bürgerliche Rechte bedeuten, gehören Selbst- und Mitbestimmung zur Quintessenz der menschlichen Würde. Mit Ernst Bloch zu reden: Zur Ekstase des aufrechten Gangs. Das aber bedeutet: Das gesetzgeberisch willkürlich festgesetzte Existenzminimum darf der Bürgerin und dem Bürger getrennt und gemeinsam nicht einfach per ordre de mufti „nachvollziehbar“, „transparent“ zugewiesen werden. Ruhe und Gehorsam wären dann die ersten Bürgerpflichten. Am Verfahren, Hilfen für hilfsbedürftige Menschen auszuknobeln und sie dann tatsächlich einzelfallbesonders zu vergeben, sind die hilfsbedürftigen Menschen in extenso zu beteiligen. Hier wird Würde demokratisch. Da das BVerfG solche Überlegungen nicht einmal anstellt, da es die bürokratischen Kontrollen und Disziplinierungsmaßnahmen implizit im Gesetz und explizit in der von ihm nicht wahrgenommenen Praxis frohgemut im Spiegel des Absoluten übersieht, kann es das Hauptübel von Hartz IV jenseits der materiellen Ausstattung im einzelnen nicht wahrnehmen: Dass die Würde der Hartz IV-Empfängerinnen und Empfänger im Umfang der Leistungen nicht nur, sondern vor allem in der Art, wie die Leistungen vergeben werden, dauernd angetastet wird. Bald weniger, bald bis zu erheblichen Verletzungen stärker.
Zum dritten: Die „absolut“ vereiste Würde erlaubt es dem BVerfG auch nicht, über Konzeptionen der menschlichen Würde hier und heute in der Bundesrepublik zu diskutieren und abwägend zu befinden in eins mit im Jahre 2010 möglichen Formen ihrer Realisation. Weil Würde droben im Himmel blaut, bleibt, was das Auge von ihr bundesdeutsch irdisch schaut, so wie gehabt. Darum: Keine Diskussion der Lebensbedürfnisse quantitativ und qualitativ mitsamt den klassenkatergorial verschiedenen Möglichkeiten, sie zufrieden zu stellen. Gibt es wohl keine grundrechtlich und demokratisch gemäßeren Formen, als das untere Fünftel der Bevölkerung, das in sich noch verschieden ausgestattet ist, mit den Mitteln konkreter Abstraktion, hergeleitet von einem fragwürdigen „Statistikmodell“, existenzminimal abzuhaken? Und das mit der Wertwichse des Bundesverfassungsgerichts auf Würdeglanz poliert, summa summarum als wohl gelungen zu qualifizieren? Der 1. Senat hat mit seinem Urteil vom 9.2.2010 nicht eine überfällige Debatte über gesellschaftliche Ungleichheit angestoßen und selbst eröffnet, allen Grund- und Menschenrechten und jeder Form der Demokratie abträglicher als alle anderen Gegebenheiten. Er hat die feinen und groben Unterschiede würdig abgesegnet. Nicht die Grund- und Menschenrechte als normae normantes, als täglich dirigierende politische Normen sind von ihm mit neuem Leben versehen worden. Nein: die normative Kraft des Faktischen. Das, wie es mit katastrophischen Unterschieden und schlimmen Effekten nach innen und außen ist, wie es ist, wird gelobt, dass es so ist.
Wolf-Dieter Narr, war Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin. Er ist Mitgründer und Mitsprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.
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