Gewerkschaftliches Gutachternetzwerk: Eckpunkte für die Fortführung des Bologna-Prozesses und die Weiterentwicklung der Akkreditierung
In Kooperation von IGM, ver.di, IGBCE und organisiert von der Hans Böckler Stiftung haben sich an Akkreditierungsverfahren von Studiengängen beteiligte Gutachter, die sich gewerkschaftlichen Positionen verpflichtet fühlen, zusammengeschlossen und ein Eckpunktepapier für die Fortführung des Bologna-Prozesses und die Weiterentwicklung der Akkreditierung [PDF – 864KB] erarbeitet. Merkwürdigerweise ist die GEW, in der wohl eher gerade Wissenschaftler organisiert sind, in diesem Netzwerk nicht vertreten.
Das Netzwerk versteht sich als Schnittstelle zwischen den Akkreditierungsagenturen und ihren Gutachterpools. Es ist angesichts dieser Affinität des Netzwerks zu den Akkreditierungsagenturen nur zu verständlich, dass die Vorschläge aus dem Blickwinkel von in solche Verfahren Eingebundenen gemacht werden. Und diese Vorschläge sind leider nicht weitreichend genug und deshalb wenig erfolgversprechend. Wolfgang Lieb
Erfreulich ist, dass das Gutachternetzwerk die Kritik an der Umsetzung des Bologna-Prozesses aufgreift und ernst nimmt. Die Akkreditierungsagenturen und die Gutachter im Rahmen der Akkreditierungsverfahren sind jedoch Bestandteile des Bologna-Prozesses oder genauer dessen neoliberalen (deutschen) Ausprägung. Das Gutachternetzwerk übernimmt völlig unkritisch das „neue Verhältnis von Staat und autonomen Hochschulen“ und sieht sich eingebunden in den „Regelkreisen der (Selbst-)Steuerung der Qualität von Studium und Lehre“. Dass die Gewerkschaften mit einem „Leitbild für eine demokratische und soziale Hochschule“ [PDF – 807KB] ein Gegenmodell zur „unternehmerischen Hochschule“ entwickelt hat, scheint im gewerkschaftlichen Gutachternetzwerk offenbar noch nicht angekommen zu sein.
Das Gutachternetzwerk übernimmt ziemlich unreflektiert das herrschende Reformparadigma, in dem der Autonomiebegriff verengt wird auf den Rückzug staatlicher Verantwortung zugunsten einer unternehmerischen Autonomie der Hochschule und zugunsten einer der einzelunternehmerischen Wettbewerbslogik unterworfenen autokratischen Leitungsstruktur.
Angesichts dieser Anpassung an den laufenden ökonomistischen Umbruch des gesamten Hochschulsystems ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass das Gutachternetzwerk für eine „erfolgreiche Weiterführung des Bologna-Prozesses“ eintritt und ihn im Grundsatz für „richtig, notwendig, unumgänglich und unumkehrbar“ hält. Das ist exakt der keinen Widerspruch duldende Anspruch, mit dem in Deutschland alle so genannten „Reformen“ von den Arbeitsmarkt-, über die Renten- bis zur Hochschulreform durchgepeitscht wurden.
Vor dem Hintergrund der geballten Kritik an den Auswirkungen des Bologna-Prozesses fordert das Gutachternetzwerk nunmehr „die ursprünglichen Ziele des Bologna-Prozesses mit dem Kernpunkt einer besseren Qualität von Studium und Lehre wieder konsequent in den Mittelpunkt zu stellen, deren Verwirklichung umfassend in Angriff zu nehmen und die Rahmenbedingungen entsprechend zu gestalten.“
Ich muss eingestehen, dass ich selbst zum Zeitpunkt der Bologna-Erklärung im Jahre 1999 gleichfalls an die Visionen und Hoffnungen, die damit verbunden waren, geglaubt habe. Man hätte jedoch schon kurze Zeit später, ab Beginn der Umsetzung erkennen können und müssen, dass gerade in Deutschland der Bologna-Prozess in starkem Maße von der im Jahr 2000 auf dem Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs beschlossenen sog. Lissabon Strategie überlagert wurde. Als deren Ziel wurde ausgegeben, bis 2010 „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.“
War etwa nach der Bologna Agenda Hochschulbildung noch als „öffentliches Gut“ betrachtet worden und gab es dort noch eine soziale Dimension der Reform, so wurde mit der Lissabon Strategie Bildung als die Verbesserung des „Humankapitalstocks“ und ein Studium als eine private Investition in das persönliche Humankapital umgedeutet. Der eher kooperative Ansatz der Bologna-Erklärung und das Prinzip einer „möglichst geringen Stratifizierung des Hochschulsystems“ wurde durch das Wettbewerbsprinzip und die strategische Ausrichtung des Studiums auf die Employability (Beschäftigungsfähigkeit) der Lissabon-Strategie verdrängt.
Vor allem in Deutschland hat das nahezu sämtlichen neoliberalen Reformen zugrunde liegende negative Menschenbild auch die Umsetzung des Bologna-Prozesses wesentlich bestimmt. Die Hartz-IV-Reformen (das „Fördern und Fordern“) und die Studienreform zeigen dabei frappierende Parallelen. Beide Reformen unterstellen letztlich Menschen ohne oder mit nur geringer Leistungsmotivation – also letztlich arbeits- oder studierunwillige Menschen, die durch Druck und Kontrolle und nicht durch positive Anreize oder attraktive Angebote zur Arbeitsdisziplin angehalten werden müssten (Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung bzw. siehe hier). Ohne überhaupt nach der Studienmotivation zu fragen, wurden fast auf der ganzen Linie Studienarrangements eingeführt, die der Devise folgten „ohne (Prüfungs-)Druck, ohne Dauerkontrolle (z.B. der Anwesenheit) keine Leistung“ (Wolff-Dietrich Webler).
Ähnlich wie danach bei der Einführung des Abiturs nach 8 Jahren (G 8) gab es bei der Einführung des Bachelors kaum eine Debatte um eine Neukonzeption der Studiengänge. Rigide und ohne genauere Bestimmung der Studienziele wurden – ganz anders als in anderen europäischen Ländern – für alle (!) Fächer das Bachelor-Studium auf 6 Semester „gestaucht“. Über bildungstheoretische oder gar gesellschaftspolitische Zielvorstellungen und über qualitative Elemente eines „wissenschaftlichen“ Studiums wurde nur in seltenen Fällen diskutiert. Es ging um „Module“ (wie auch immer aufeinander bezogen) statt um sinnvolle Kürzungen, um „Workload“ statt um Studierbarkeit, um „input“ statt um „outcome“, um „credits“ statt um prozessbegleitendes Feedback, um Wissensakkumulation statt um wissenschaftliches Verständnis, um Verhaltenskontrolle (mit Anwesenheitspflichten und Selektionsdruck durch Prüfungen) statt um die Förderung der Eigenmotivation, um den Wettbewerb „um die besten Köpfe“ statt um die optimale und breite Ausschöpfung des Bildungspotentials – ganz wie es die Sprache und die Ziele der Lissabon-Strategen vorgaben.
Es gab auch keinerlei Professionalisierung der Hochschullehre für die neuen Lehranforderungen, dafür umso mehr Korrekturbelastungen und bürokratische Regelungen (z.B. über die Zahl der Kreditpunkte).
Die Akkreditierungsagenturen waren der Akkreditierungsflut nicht gewachsen und es gab kaum eine Verständigung über die Qualitätsanforderungen. Noch so obskure „Studienprofile“ wurden „durchgewunken“.
Das gewerkschaftliche Gutachternetzwerk müsste sich angesichts des ziemlich katastrophalen Ist-Zustandes eigentlich, bevor es Vorschläge „für die Fortführung des Bologna-Prozesses“ macht, selbstkritisch fragen, wie es zu den jetzt von ihm selbst kritisierten Fehlentwicklung bei der Ausgestaltung der Bachelor- und Masterstudien gekommen ist. Schließlich haben doch auch die gewerkschaftsorientierten Gutachter selbst den neuen Studiengängen ihr Gütesiegel verliehen. Sie hätten doch mit als Erste wissen können, dass die Studienpläne überfrachtet sind, dass es zu viele Prüfungen gibt, dass Praxisphasen fehlten, dass die Übergänge vom Bachelor zum Master oder die Anerkennung von Studienleistungen nicht klar geregelt waren. Kurz: Die Akkreditierungsagenturen haben doch die Paukstudiengänge nicht nur passieren lassen, sondern sogar gefördert.
Wie sich in anderen Ländern zeigte, war das nicht der Idee geschuldet, die hinter Bologna stand, denn dort hat man nicht überall die gleichen Fehler gemacht wie in Deutschland.
Das Gutachternetzwerk polemisiert gegen eine „unheilige Allianz“ von Gegnern des Bologna-Prozesses aus Strukturkonservativen oder aus Unfähigkeit sich mit dessen Anforderungen auseinanderzusetzen. Diese Kritik ist teilweise berechtigt. Der öffentlich artikulierte Widerstand gegen „Bologna“ kommt überwiegend aus dem Lager konservativer Ordinarien.
Man muss gewiss nicht zum keineswegs optimalen „alten System“ zurückkehren, aber das Gutachternetzwerk müsste sich auch Gedanken darüber machen, was es selbst versäumt hat und wie die Gutachter selbst dazu beigetragen hat, dass es zu den inzwischen allseits kritisierten Zuständen gekommen ist.
Man kann nicht alles auf die „permanente Unterfinanzierung und oft unzureichende Ausstattung der Hochschulen“ oder auf die „kollektive Verantwortungslosigkeit“ an den Hochschulen schieben. Das ist alles unbestritten, aber nicht die Hauptursache für die Mängel in den Studienstrukturen, die nahezu flächendeckend eingeführt wurden.
Selbstverständlich, sind in allererster Linie die Hochschulen und Fachbereiche für die Studiengänge und deren Gestaltung verantwortlich und können auch nur dort wieder korrigiert werden, aber haben die Akkreditierungsagentur nicht z.B. die starre Fixierung auf den 6-semestrigen Bachelor mitgemacht, ja sogar darauf gedrungen? Warum haben sie nicht schon lange „unnötige bzw. unsachgemäße Vorgaben“ kritisiert? Warum haben die Gutachter eigentlich nicht auf die „Studierbarkeit“ geachtet? Warum haben sie nicht die „gelungenen positiven Beispiele“ zum Maßstab ihrer Akkreditierungen genommen?
Die Selbstkritik, „dass in etlichen Fällen Studiengängen trotz erkennbarer deutlicher Defizite die Akkreditierung erteilt wurden, wo sie besser hätte versagt werden sollen“, kommt reichlich spät und die Begründung, warum „manchmal (?) ein Auge zugedrückt wurde“, ist nicht gerade überzeugend. Von den Gutachtergruppen seien nicht tatsächlich existierende, mindestens einen Zyklus lang durchgeführte Studiengänge, sondern lediglich Konzepte beurteilt worden, so die Ausrede. Das Papier geduldig ist, wusste man schließlich schon bei Einführung der Akkreditierungsverfahren.
Wer hat denn vor allem auf „formale Kriterien, statt auf Inhalte, Methoden und effektive Strukturen“ Wert gelegt? Wer hat denn dem „alten Input-Denken …Vorrang gegenüber der Kompetenzorientierung“ eingeräumt? Die Gutachter waren doch selbst an dem jetzt von ihnen als defizitär kritisierten Peer-Review-Verfahren beteiligt.
Man will ja dem Gutachternetzwerk gerne abnehmen, dass die beteiligten Gutachter aus Erfahrung klüger geworden sind. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, dass sie jetzt nicht einmal mehr darauf drängen ihre „neuen Erkenntnisse“ in die Re-Akkreditierung der früher von ihnen akkreditierten Studiengänge einzubringen. Stattdessen „unterstützen“ sie nun einen Systemwechsel von der Programm- zur Systemakkreditierung und wollen also erneut „Neuland“ betreten. Warum vertrauen sie nach den von ihnen selbst kritisierten Erfahrungen erneut darauf, dass die Hochschulen nur auf dem Papier ein System der Qualitätssicherung und –entwicklung vorlegen müssen? Warum verlangen sie nicht, selbst noch einmal zu überprüfen, was aus ihren früher (programm)-akkreditierten Studiengänge in der Praxis herausgekommen ist? Warum geben sie sich mit „Programmstichproben bei der Systemakkreditierung“ zufrieden?
Die Vorschläge für die Weiterentwicklung der Akkreditierungsagenturen mögen einigen offenkundigen Mängeln abhelfen, mit solchen kleinen Korrekturen ist eine wirkliche Verbesserung aber nicht möglich und nicht zu erwarten.
Am Anfang einer Neuausrichtung müsste eine Verständigung über die Merkmale guter Lehre und höherer Lehrkompetenz stehen (Vgl. Wissenschaftsrat „Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Lehre und Studium“ [PDF – 393 KB]).
Es müsste eine breite Debatte über die im jeweiligen Studium anzustrebenden Kompetenzprofile geben. Dabei sollte wieder eine größere fachliche Breite in der Qualifikation angestrebt werden und die Wahl- und Wahlpflichtanteile eines Studiums erweitert werden. Auch das freie Selbststudium müsste wieder gefördert und geschützt werden. Das neue Studienkonzept eines gestuften Studiums bedürfte einer passenden und geeigneten Didaktik.
Statt einer viel zu engen Ausrichtung auf eine (oft nur fiktiv definierte) Beschäftigungsfähigkeit, müsste ein Studium eine hohe berufliche Flexibilität und eine engere Verknüpfung von Theorie- und Praxisbezug ermöglichen.
Statt eingepauktes Wissen in zahllosen Einzelklausuren abzufragen, müssten zusammenhängende Lernergebnisse lernprozessbezogen und motivationsfördernd erhoben werden. Das Selbststudium müsste wieder mehr Gewicht erhalten und gefördert werden. Module (wenn man denn Studienabschnitte so nennen möchte) müssten sinnvoll aufeinander aufgebaut und in Sinneinheiten aufeinander bezogen sein. Einzelne Module müssten als Projektstudium verbindlich gemacht werden.
Studieren müsste als Kompetenzerwerb zur selbständigen Lösung neuer Problem mit wissenschaftlichen Methoden verstanden werden. Ein Studium verlangt nicht nur Wissen sondern Verständnis und Handlungsfähigkeit. Eine wissenschaftliche Ausbildung bedeutet auch Persönlichkeitsentwicklung und nicht nur Drill zur Absolvierung von Tests. Der Abschlussthesis müsste als erste größere eigenständige wissenschaftliche Arbeit wieder größeres Gewicht beigemessen werden und die Kreditpunkte sollten je nach Studienfortschritt steigendes Gewicht erlangen.
Vor allem müssten Studierende wieder als selbstverantwortliche, erwachsene Subjekte ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung betrachtet und behandelt werden, die nicht vor allem für den Arbeitsmarkt anzupassen sind, sondern auch als Bürger bereit sind ihre gesellschaftliche Verantwortung im Beruf und in ihrem Privatleben zu übernehmen.
Das wären nur einige wenige, aber wichtige Elemente einer Re-Reform des Bologna-Prozesses.
Das Problem ist nur, dass bei einer solchen qualitativen Studienreform die bisherige Programmakkreditierung versagt hat und – so wie sie angelegt ist – auch versagen musste und dass die neue Systemakkreditierung für eine Urteilsfindung über solche qualitativen Elemente in den Studiengängen ungeeignet ist. Dazu bedürfte es eine neue Form von Studienreformkommissionen, die für einzelne Studiengänge zusammen mit den beteiligten Fachbereichen, mit externen Beteiligten aus der Praxis und – ich wage es sagen – dem hochschulplanerischen Staat Studienkonzepte entwickeln. Die Akkreditierungsagenturen mögen dann vielleicht noch überprüfen, mit welchem Erfolg solche Reformkonzepte umgesetzt werden.