Der Bologna-Prozess für einen „Europäischen Hochschulraum“ – oder wie ein europäischer Traum an der Wettbewerbsideologie zerplatzte
Der Aufsatz von Dieter Lemke „Lernen im Gleichschritt“ hat mich in meiner Kritik bestätigt, die ich seit längerer Zeit am Hochschulreformprozess hin zur „unternehmerischen“ Hochschule übe. Lemke endet mit dem Satz „Schade, dass der Name Bologna nun auch zum Symbol für das Begräbnis der Europäischen Universität geworden ist!“ So sehe ich das auch.
Die Bologna-Erklärung für einen „Europäischen Hochschulraum“ ist 1999 von 31 europäischen Bildungsministern unterzeichnet wurde. Ich war bis zum Jahre 2000 Staatssekretär im Nordrhein-Westfälischen Wissenschaftsministerium und habe deshalb die Diskussion um diese Erklärung mitverfolgt, ja sogar mitbegleitet. Aus heutiger Sicht muss ich enttäuscht feststellen, dass die Visionen und Hoffnungen, die ich zu Beginn damit verbunden habe, im Verlauf des Bologna-Prozesses geradezu pervertiert worden sind. Wolfgang Lieb
Mitte der 90er Jahre fand unter den Hochschulpolitikern und den Hochschulen eine kontroverse Diskussion statt. Zwar traten nahezu alle für die Idee einer politischen Union in Europa ein. Doch die Idee eines „Europäischen Hochschulraums“ war höchst umstritten. Gemeinsame Außengrenzen, gemeinsamer Markt und einheitliche Währung und vielleicht einmal eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schön und gut, aber nun auch noch eine gemeinsame europäische Hochschulpolitik? So haben viele, ja sogar die meisten Hochschulangehörigen gefragt.
Stand eine gemeinsame europäische Hochschulpolitik nicht im Widerspruch zum erklärten politischen Willen, die Autonomie der einzelnen Hochschule zu stärken? Wurde nicht in der Vergangenheit die Länderzuständigkeit für das Hochschulwesen gegen Kompetenzanmaßungen des Bundes verteidigt? Warum sollte das Prinzip der Dezentralität und Selbstverantwortung nicht in noch viel stärkerem Maße gegenüber einem Zuwachs an Zuständigkeiten oder gegen einen Einigungsdruck auf noch viel höherer, europäischer Ebene gelten?
Ich gehörte zu den Skeptikern. Der Lissabon-Prozess mit seinen ökonomischen Liberalisierungen, die anstehende Währungsunion mit dem Verzicht auf eine nationale Währungspolitik und eine durch Maastrichter strangulierte fiskalische Handlungsfähigkeit der europäischen Nationalstaaten etwa, waren eher Anlass, darüber nachzudenken, die Frage nach den Zielen und Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft neu zu stellen. Schon damit angesichts der damals aufkommenden „Europamüdigkeit“ der Sinn und der Nutzen einer Einigung auf europäischer Ebene von den europäischen Bürgerinnen und Bürger wieder stärker hätte akzeptiert werden können.
Warum sollte der Prozess der politischen Einigung Europas auch noch die Hochschulen tangieren, wo sie doch in Deutschland – und in den meisten anderen europäischen Staaten auch – eine mit Verfassungsrang ausgestattete Freiheitsgarantie genießen, um ihren öffentlichen Auftrag zur Vermittlung und Weiterentwicklung von Bildung und Kultur erfüllen zu können?
Trotz dieser Bedenken, habe ich die Bologna-Erklärung öffentlich befürwortet. Ein eher visionäres Ziel zur Bewahrung einer europäischen Identität gegen eine marktradikale Globalisierung und eine Reihe pragmatische Argumente sprachen aus meiner damaligen Sicht eher dafür.
Die visionäre Ebene lag auf der Linie der Gedanken, die im Jahre 2003 von Jacques Derrida und Jürgen Habermas in ihrem Aufruf zur „Wiedergeburt Europas“ zu Papier gebracht haben. Europa sollte nicht nur ein gemeinsamer Markt mit einer einheitlichen Währung, also eine bloße „Zweckgemeinschaft“ sein. Der politische Einigungsprozess würde von den Bürgerinnen und Bürgern dauerhaft nur mitgetragen, wenn über die wirtschaftliche Dimension hinaus Europa eine kulturelle und symbolische Anziehungskraft für die Menschen behält oder neu entwickelt. Es ging also – wie Habermas das dann später in der ZEIT formuliert hat – um die „Idee der Bewahrung einer spezifischen, heute in Gefahr geratenen Kultur und Lebensform“.
Pathetisch gesagt haben ich und viele andere daran geglaubt, dass nur ein starkes und einiges Europa, das sich auf seine gemeinsamen Errungenschaften, auf eine gemeinsame Wertorientierung besinnt, seine Gestaltungsmacht und seine politische Handlungsfähigkeit gegenüber einer unter dem Stichwort Globalisierung vorangetriebenen weltweiten Marktradikalisierung bewahren könnte.
Und zu den säkularen Errungenschaften der europäischen Kultur gehörte für mich, neben Demokratie, Menschenrechten und Sozialstaat eben auch das Prinzip der Freiheit der Wissenschaft und die Idee der „universitas litterarum“, der Einheit von Lehre und Forschung mit einer allseitigen humanistische Bildung.
Ich hatte die Hoffnung, dass sich der aufklärerische Kern des universitären Anspruchs – um es mit dem Philosophen Gadamer zu sagen –, nämlich „Wahrheit und Methode“, gegen die ökonomischen und zunehmend auch politischen Wahrheits- oder Geltungsansprüche, die sich hinter dem Begriff der Globalisierung verbargen, durchsetzen könnte.
Es gab ja in Deutschland schon vor der Jahrtausendwende genügend Beispiele dafür, wie selbst verfassungsrechtlich garantierte institutionelle Gewährleistungen wie etwa die Organisation der Freiheit von Forschung, Lehre und Studium durch die unmittelbare Konkurrenz anders verfasster weltweiter Anbieter unterlaufen werden sollten.
So sah etwa schon das allgemeine Abkommen über den Dienstleistungsverkehr GATS aus dem Jahre 1994 eine Verpflichtung zur völligen Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs vor und meint damit auch die Einbeziehung des Bildungssektors mitsamt dem tertiären Bildungsbereich.
Es war zum Beispiel schon damals verpflichtend, dass selbst außereuropäische Bildungsanbieter – sei es über das Internet oder sei es als sogenannte Franchise-Betriebe – nicht nur freien Marktzugang hatten, sondern, wie das Beispiel der International University Bremen (IUB), damals noch ein Ableger der texanischen Rice-Universität, zeigte, auch die sogenannte Inländerbehandlung etwa bei der Beantragung von staatlichen Hochschulbaufördermittel genießen sollten. In einzelnen Debattenbeiträgen tauchte gar schon die Frage auf, ob die bisherige Freiheit von Studiengebühren, gegenüber privaten Bildungsanbietern nicht eine unerlaubte staatliche Subvention darstelle.
Man müsste noch viele Beispiele für eine derartige Aushöhlung nationalen Verfassungsrechts durch internationale Verträge anfügen.
Die Durchdringung vorhandener Systeme von außen geschieht ja einerseits in einem von Markt und Wettbewerb geprägten und damit demokratisch und politisch weitgehend unkontrollierten Prozess. Andererseits ist diese schleichende Assimilation jedoch keineswegs ein unentrinnbares Naturereignis sondern durchaus politisch gestützt und gewollt.
Auch ich war damals ein Anhänger der im fortschrittlicheren Lager bis heute vertretenen These, dass es in Zukunft von der politischen Einigung Europas abhängen wird, ob wir auf einer höheren, europäischen Ebene wieder eine stärkere Gestaltungssouveränität und demokratisch bestimmte Regelungsmacht wiedergewinnen könnten, die einzelne Staaten, auf sich allein gestellt, im Zuge des mit der falschen Globalisierung einhergehenden Deregulierungsprozesses immer mehr zu verlieren scheinen.
Insofern sollte die Gestaltung eines europäischen Hochschulraums eine Barriere und zugleich einen Schutz für die europäische Universitätsidee und für die Selbstverwaltungsfähigkeit der europäischen Hochschulen vor dem immer stärker in alle gesellschaftlichen Bereiche eindringenden Wirtschafts- und Marktparadigma bieten.
Kulturgeschichtlich betrachtet war die Schaffung eines europäischen Hochschulraumes eigentlich auch nichts Neues, sondern eher eine Rückbesinnung auf eine bedeutende Errungenschaft europäischer Kultur, die in früheren Zeiten eine nahezu weltweite Ausbreitung erfahren hat.
Die Archetypen unserer heutigen europäischen Universitätsidee in Bologna und Paris oder später mit der Carolina in Prag waren letztlich europäisch ausgerichtet. Ihr universelles Prinzip verkörperte sich in weitgehend frei zirkulierenden Studierenden und Akademikern, die das enzyklopädisch geordnete Wissen über den ganzen europäischen Kontinent verbreiteten.
Zwar haben sich die Hochschulen in Europa ganz unterschiedlich ausgeprägt und ihre unterschiedliche Tradition entwickelt, aber es waren Institutionen die geschichtlich gewachsen sind und in den einzelnen Nationen einen hohen Identifikationswert erlangt und gestiftet hatten. Gerade dadurch erschienen sie gegen eine nivellierende Harmonisierung von außen gewappnet. Vielfalt sollte in guter europäischer Tradition eine Quelle der Erneuerung sein und einen durchaus notwendigen Reformprozess in Gang bringen, in dem das gute nationale Beispiel zum besseren europäischen Ganzen führen sollte.
Die „Magna Charta Universitatem“ von Bologna, die schon 1988 anlässlich der neunten Jahrhundertfeier der ältesten europäischen Universität von den dort versammelten europäischen Universitätsrektoren feierlich verabschiedet wurde, dokumentierte kulturelle Grundsätze und Mittel, die bei allen landesspezifischen Ausdifferenzierungen sich transnational überlappten und von Lehrenden und Studierenden in ganz Europa zwanglos hätten geteilt und befolgt werden können. Diese Grundsätze fanden unter Lehrenden und Studierenden auch Anerkennung und Unterstützung
Ich hatte die Hoffnung, dass gerade die Hochschulen eine wichtige institutionelle und kommunikative Ebene für die Herstellung einer bisher fehlenden europäischen „Öffentlichkeit“ hätten sein können. Die in einen demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess eingebettete Schaffung eines europäischen Hochschulraums hätte ein Beitrag zur Herausbildung einer grenzüberschreitenden politischen Kultur und damit zur politischen Identitätsfindung Europas sein können.
Neben diesen „Überbau“-Argumenten gab es natürlich auch eine ganze Reihe ganz pragmatischer Erwägungen für einen „Europäischen Hochschulraum“:
Innerhalb eines europäischen Arbeitsmarktes war es nur naheliegend, zur Förderung der Mobilität der Arbeitskräfte und zur Schaffung gleicher beruflichen Chancen ein – wie es in der Bologna-Erklärung heißt – „System leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse“ anzustreben.
Warum sollte den Studierenden schon während ihres Studiums der Aufenthalt in einem europäischen Nachbarland durch die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen und Zertifikaten erleichtert werden? Was spricht gegen einen vermehrten Austausch von Lehrkräften innerhalb Europas?
Diese ganz konkreten Anliegen für eine Verbesserung des Austauschs von Wissenschaft und Forschung in Europa ließen sich noch um viele positiven Aspekte ergänzen.
Doch der in Bologna vor acht Jahren in Bologna angestoßene Prozess, nahm vor allem in Deutschland einen völlig anderen Verlauf.
Von der von Habermas und Derrida proklamierten „Wiedergeburt Europas“ ist jedenfalls im Hochschulraum nichts zu erkennen. Über die rein wirtschaftliche Dimension geht von den Hochschulen, wie auch Umfragen belegen, kaum noch eine kulturelle Anziehungskraft auf die europäischen Bürgerinnen Bürger aus. Eine Besinnung auf gemeinsame Errungenschaften und eine gemeinsame Wertorientierung fand nicht statt. Im Gegenteil: Statt ein europäisches Bollwerk gegen einen wertblinden weltweiten Wettbewerb zu errichten und die Vielfalt der europäischen Hochschullandschaften gegen eine gleichmacherische Globalisierungsideologie zu verteidigen, hat man sich aus der politische Gestaltungsmacht zunehmend entledigt und der Staat hat sich mancherorts sogar schon völlig aus den Hochschulen verabschiedet und diese den Zwängen der Konkurrenz um Ausbildungs- und Wissensmärkte ausgeliefert.
Europa ist weder demokratischer noch sozialer geworden und von den Prinzipien der Freiheit der Wissenschaft redet man in Deutschland nur noch im Zusammenhang mit der „unternehmerischen Freiheit“ der Hochschulen.
Der aufklärerische Kern der europäischen Universitätsidee, die Suche nach Wahrheit und der dazu geeigneten Methoden ist den Geltungsansprüchen des Marktdogmas untergepflügt worden.
An die Stelle der Selbstverwaltungsfähigkeit der europäischen Hochschulen, sind aus Großkonzernen entliehene Managementprinzipien getreten. Statt historisch gewachsener Vielfalt, wird Uniformierung und Hierarchisierung erzwungen.
Hochschulen – jedenfalls so wie sie derzeit im politischen Raum gehandelt werden – tragen kaum noch zur kulturellen Identitätsstiftung ihrer jeweiligen Region, geschweige denn für Europa bei. Sie sind regionale oder international agierende Unternehmen geworden, die, wie alle anderen großen Betriebe auch, Arbeitsplätze bieten, ihr Produkt Wissen mehr oder weniger erfolgreich auf dem Markt anbieten und die ihre „Kunden“ für den Arbeitsmarkt „fit“ machen sollen.
Wenn schon die Idee für einen europäischen Hochschulraum gescheitert ist, umso mehr sind es die pragmatischen Erwartungen.
Schon innerhalb Deutschlands ist es inzwischen schwieriger geworden, den Studienort zu wechseln, gar nicht zu reden von den Problemen eines Studienplatzwechsel innerhalb Europas. Die Hochschulabschlüsse – zumal der Bachelor – sind in einem Anerkennungschaos gelandet. Für einen Wechsel des Studienortes bleibt wegen der Überfrachtung und Überregulierung der Studiengänge für weniger Studierende eine Chance als zuvor. Ein Austausch der Lehrkräfte findet allenfalls dann statt, wenn mehr bezahlt wird. Aus der europäischen Tradition einer „Bildung durch Wissenschaft“ sind reine Paukstudien mit einem vorgeschriebenen „workload“ und flüchtigem Wissen geworden. Die Arbeitsmarkttauglichkeit der Abschlüsse ist völlig ungewiss.
Wie kam es zu dem Scheitern der Idee eines „Europäischen Hochschulraums?
Waren die Ziele zu idealistisch, waren die Anhänger dieser Ziele zu blauäugig?
Darüber müsste und könnte man Bücher schreiben.
Der Hauptgrund dürfte sein, dass die Politik in fast allen europäischen Staaten der Vergesellschaftung der Wettbewerbs- und Marktideologie nichts entgegenzusetzen hatte und wollte, im europäischen Brüssel schon gar nicht.
Wer hätte schon 1999, also am Beginn des Bolognaprozesses, den völligen Paradigmenwechsel durch die Agenda-Politik von Bundeskanzler Schröder vorausahnen können? Wer hätte voraussehen können, wie sehr sich die Hochschulpolitik etwa der Wettbewerbsideologie des Bertelsmannschen Centrum für Hochschulentwicklung ausliefern würde?
Wer hätte gedacht, dass die Hochschulen ihre über Jahrhunderte errungene Selbstverwaltung kampflos einem Top-down-Management und der Fremdbestimmung durch Hochschulräte preisgeben würden?
Der am Beginn des Bologna-Prozesses amtierende Vorsitzende der Hochschulrektorenkonferenz ist heute Headhunter für Hochschulmanager.
p.s.:
Nicht zur Entschuldigung, aber zur Information:
Als ich die Fehlentwicklung erkannte, wurde ich als Staatsekretär entlassen.