Kritischer Journalismus in der ZEIT: Frau Merkel, wieviele SMS verschicken Sie am Tag?
Stellen Journalisten die wirklich wichtigen, zwingend notwendigen Fragen an Politiker? Mitunter ja. Oft leider nicht. DIE ZEIT hat in einem Beitrag unter der Überschrift „Jetzt mal ehrlich, Frau Merkel“ 25 Fragen an die Bundeskanzlerin formuliert. Wer sich die Fragen anschaut, sieht schnell: Hier spiegelt sich in verdichteter Form der kritikwürdige Zustand des Journalismus unserer Zeit wider. Die wirklich kritische Perspektive ist eine Seltenheit. Fokussiert wird auf Nebensächlichkeiten und persönliche Befindlichkeiten.
Ein Beitrag von Marcus Klöckner.
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Seit geraumer Zeit erleben wir in vielen westlichen Demokratien ein enormes Spannungsverhältnis zwischen „den Eliten“ bzw. Politikern und „den Bürgern“. Immer wieder besagt die Diagnose, dass es einen Bruch zwischen „denen da oben“ und „denen da unten“ gibt.
Der Bruch zwischen politischen Eliten und den Bürgern hat auch sehr viel damit zu tun, dass Journalisten großer Medien kritische Fragen, die aus der Bevölkerung kommen, nicht, zu selten oder mit zu wenig Nachdruck stellen.
Geradezu mustergültig zeigt sich anhand von Fragen, die die Redaktion der ZEIT (auch online erschienen) ausgearbeitet hat und die an Angela Merkel adressiert sind, dass der Journalismus unserer Zeit große Probleme damit hat, die Kommunikation von „unten“, aus der Bevölkerung aufzunehmen und an die Politik heranzutragen.
Anlass für die Fragen der Wochenzeitung ist eine 60-minütige Fragerunde, der sich Angela Merkel am heutigen Mittwoch im Parlament stellen muss. Die Redaktion der ZEIT schließt sich also der Fragerunde an und stellt in einem Artikel 25 eigene Fragen an Merkel.
Unter der Überschrift: „Jetzt mal ehrlich, Frau Merkel“, versehen mit der Unterzeile: „Was wir schon immer von der Kanzlerin wissen wollten“, finden sich die Fragen.
Bevor wir auf diese genauer eingehen, an Sie liebe Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten die Bitte: Überlegen Sie sich selbst einmal, welche Fragen Sie Angela Merkel stellen würden, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten. Und dann bitte vergleichen Sie Ihre Fragen mit den nun folgenden.
- Wieso verdienen Ostdeutsche und Frauen immer noch weniger als Westdeutsche und Männer?
- Sie haben im Wahlkampf versprochen, dass Deutschland die Klimaziele 2020 erreichen wird – und das dann schon kurz nach der Wahl revidiert. Haben Sie gelogen?
- Warum spiegelt die aktuelle Regierung so wenig die Diversität der bundesdeutschen Gesellschaft wider? Und was tun Sie, um die steigende Zahl von Bürgern mit Migrationshintergrund, vor allem junge und künftige Wähler, für Ihre Politik zu gewinnen?
- Wenn Sie ein Machtwort sprechen könnten, was würden Sie sagen?
- Woran erkennt man, ob jemand wirklich dichthält?
- Seit Ihrem Satz, dass sich Europa von den USA emanzipieren müsse, ist knapp ein Jahr vergangen. Welche politischen Konsequenzen haben Sie in der Zwischenzeit gezogen?
- Wenn Sie heute Ergotherapeutin wären und Ihre Schwester Kanzlerin, was wäre anders in Deutschland?
- Macron hat eine Reihe von Vorschlägen zum Umbau der Euro-Zone gemacht. Was ist Ihr konkreter Vorschlag zu einer Reform?
- Was hat die Autoindustrie gegen Sie in der Tasche, dass Sie sie schon so lange und immer wieder neu schützen?
- Nach den NSU-Morden haben Sie den Opfern und Angehörigen versprochen: “Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.” Haben Sie aus Ihrer Sicht dieses Versprechen gehalten, wenn Sie die vielen ungeklärten Fragen insbesondere in Bezug auf deutsche Sicherheitsbehörden betrachten?
- Haben Sie dafür gesorgt, dass Siemens nun doch in Görlitz bleibt – oder wer? Oder anders gefragt: Wie viel harte oder weiche Macht hat eine Bundeskanzlerin gegenüber den Unternehmen wirklich?
- Fürchten Sie sich vor dem Ende Ihrer Kanzlerschaft – oder sehnen Sie sich danach?
- Glauben Sie, dass das Ergebnis der Brexit-Abstimmung 2016 anders ausgefallen wäre, wenn es 2015 nicht die unkontrollierte Masseneinwanderung nach Deutschland gegeben hätte?
- Was denken Sie, wenn Sie Horst Seehofer sehen?
- Welcher Vorwurf/Welche Kritik trifft Sie?
- Auf dem Nato-Gipfel 2002 in Prag haben sich die Mitglieder der Allianz darauf verständigt, dass jeder Staat bis 2024 zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Verteidigung ausgeben soll. Der Nato-Gipfel 2014 in Wales hat das nochmals bekräftigt. Sie, Frau Merkel, drängen nun den neuen SPD-Finanzminister Olaf Scholz dazu, den Forderungen nach einem deutlich erhöhten Verteidigungsetat nachzugeben. Den CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble haben Sie in den vergangenen Jahren nie dazu gedrängt. Warum nicht?
- Woran denken Sie in Gesprächen mit Donald Trump, um Ihre Mimik zu kontrollieren?
- Welcher Traum, den Sie als Kind hatten, ist nie wahr geworden?
- Warum baut Ihre Regierung nicht die Dieselsubventionen ab – und dann auch all die vielen anderen umweltschädlichen Subventionen?
- Welchem Politiker Ihrer eigenen Partei vertrauen Sie am meisten?
- Sie haben nach der Finanzkrise versprochen: “Kein Finanzprodukt, kein Finanzplatz und kein Finanzinstitut darf unreguliert aus der internationalen Finanzkrise herausgehen.” Die Finanztransaktionssteuer ist gescheitert, und auch viele andere Finanzdienstleistungen blieben unreguliert. Haben Sie ein falsches, weil nicht haltbares Versprechen gegeben?
- Für wie wichtig halten Sie folgende “Werkzeuge”, um politische Ziele durchzusetzen? (Antworten bitte in %) Geduld, Streitlust, Verstand, Beziehungen in der Partei, Rhetorik.
- Wie viele SMS verschicken Sie am Tag? Wie viele davon an Ihren Ehemann? Und wie viele an Ihre Büroleiterin Beate Baumann?
- Nach dem Ausschluss Russlands haben Sie die G7 als Wertegemeinschaft bezeichnet. Gehören die USA unter Präsident Trump noch dazu?
- Wovor haben Sie Angst?
Zoomen wir in die Fragen rein.
- Fragen 1, 2, 3, 6, 8, 9, 10, 11, 13, 16, 19, 21, 24 sind politische Fragen.
- Das heißt: 13 von 25 Fragen, die hier an die Politikerin Merkel gestellt wurden, haben eine politische Dimension.
- Einzig Frage 1 und 19 sind politische Fragen, die einen direkten Bezug zur direkten Lebenswirklichkeit der Menschen haben. Frage 19 ist allerdings nicht etwa aus Sicht der ärmeren Menschen, die auf einen (alten) Diesel angewiesen sind, gestellt, sondern aus Sicht des Umweltschützers (was natürlich legitim ist, aber was, so darf vermutet werden, auch einen Einblick in vorherrschende Denkweisen im journalistischen Milieu bietet).
- Frage 2 zielt auf das politische Lieblingsthema vieler Redaktionen ab. Klima. Gewiss: Keine unwichtiges Thema. Aber, und das dürfte mittlerweile auch in den Redaktionen angekommen sein, es handelt sich dabei um ein Thema, das viele Bürger als untergeordnet betrachten.
- Frage 3 zielt auf einen Teil der Bevölkerung, „die“ Migranten.
- Frage 6 und 13 sind zwar „politisch“, spiegeln aber eine inhaltliche Leere wider.
Welche „politischen Konsequenzen“ (Frage 6) Merkel nun gezogen hat oder nicht, sollten Journalisten selbst herausfinden (was nicht sonderlich schwer ist) und die Bundeskanzlerin dann direkt mit den entsprechenden Einsichten konfrontieren. - Die 13. Frage ist eine „Glaubensfrage“. Sie eignet sich wunderbar, um sich im Hypothetischen zu verlieren, zu spekulieren. Der Erkenntnisgewinn: gering.
- Frage 8 ist die einzige Frage, die darauf abzielt, eine konkrete Antwort zu einem zentralen, bevorstehenden Projekt zu erhalten
- Fragen 9, 10, 21 können als sehr gute Fragen eingeordnet werden, die einem kritischen politischen Journalismus gerecht werden.
- Frage 16 lässt vermuten, dass der Fragesteller höhere „Verteidigungsausgaben“ befürwortet.
- Frage 24 hat in ihrem Charakter nur den Anstrich einer kritischen politischen Frage. Sie ist eine jener vordergründig „kritischen“ Fragen, wie wir sie vor und zurück beispielsweise beim „Kanzlerduell“ hören konnten. Fragen dieser Art können als Steilvorlagen für Politiker betrachtet werden.
Die Fragen 4, 5, 7, 12, 14, 15, 17, 18, 20, 22, 23, 25 sind weitestgehend politisch entleert. Viele von ihnen fokussieren stark auf die persönliche Ebene. Hier versuchen Journalisten zum großen Teil Emotionen rauszukitzeln und private Empfindungen und Gedanken der Kanzlerin zum Vorschein zu bringen. Ein Teil der Fragen mutet geradezu grotesk an und sie ließen sich problemlos als ein Stück Realsatire einordnen (man fühlt sich an einen großartigen satirischen Beitrag von John Oliver erinnert. Der britische Satiriker setzt sich darin kritisch mit dem Journalismus auseinander. Gegen Ende des Beitrags sieht man, wie ein Journalist das Thema Korruption in seiner Stadt aufgreifen möchte. Doch sein Themenvorschlag stößt auf kollektive Ablehnung in der Redaktion. Stattdessen sind seine Kollegen völlig begeistert von einer Geschichte über einen Waschbär, der wie eine Katze aussieht. Oder ist es eher eine Katze, die einem Waschbär ähnelt? Eine wichtige Frage, der man unbedingt nachgehen muss.)
Wovor Merkel nun Angst hat, wie viele SMS sie an ihren Ehemann täglich verschickt, welchen Traum Merkel als Kind hatte, der nie wahrgeworden ist usw. usf. sind Fagen, die beispielhaft einmal mehr zeigen, wie Journalisten durch ein Interesse an Belanglosigkeiten den kritischen politischen Journalismus ins Abseits drängen.
Man sollte hier nicht den Fehler machen und über den Artikel und die Fragen mit einem müden Lächeln hinwegsehen und sie einfach nur als einen Schnellschuss der Redaktion betrachten, der nicht sonderlich gut überlegt wurde oder nur mit einem Augenzwinkern zu verstehen ist.
Wer die Berichterstattung der Medien beobachtet und sich mit dem gelieferten Journalismus auseinandersetzt, hat kaum eine andere Wahl, als zu der Ansicht zu kommen, dass die Fragen einen exemplarischen Abriss dessen liefern, wie in Redaktionen gedacht und welche Prioritäten gesetzt werden.
Von 25 Fragen, die die Redaktion an die Politikerin Merkel stellt (als „Anwalt der Öffentlichkeit“), sind 12 unpolitisch. 13 haben eine politische Dimension, aber nur 3 davon darf man als einem kritischen Journalismus würdig betrachten. Viele der politischen Fragen gehen nicht auf konkrete Probleme der Bürger ein, bewegen sich auf einer „gefälligen“ Ebene, zielen auf abstraktere politische Probleme, die vor allem auf die persönlichen Überzeugungen der Akteure im journalistischen Feld selbst schließen lassen und verweisen zudem noch auf eine Unbelehrbahrkeit in den Redaktionen, endlich eine andere Gewichtung in der Berichterstattung vorzunehmen. Und zu alledem ignoriert man die Interessen der Ärmsten im Land gleich 25 Mal hintereinander. Da ist man eher daran interessiert, warum Merkel Schäuble nicht dazu gedrängt hat, dass Deutschland 2 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Verteidigungsausgaben ausgibt, als dass man danach fragt, warum Merkel in ihren vielen Jahren als Kanzlerin die Armut im eigenen Land und speziell die Kinderarmut nicht bekämpft hat.
Dass überhaupt Fragen wie die hier besprochenen Journalisten in den Sinn kommen, lässt tief blicken. Doch das ist nur das eine. Das andere ist (und das ist erschreckend): Offensichtlich haben die Verantwortlichen in der Redaktion kein Qualitätsproblem bei den Fragen entdeckt.
Wer nun meint, die hier angestellten Überlegungen seien nicht zutreffend, dem sei ein Blick in das Forum unter dem Artikel empfohlen. Zur „Gegenprobe“ lese man die kritischen Anmerkungen und Fragen der Leser. Die Diskrepanz zwischen den Fragen, die Journalisten der ZEIT Merkel gestellt haben und den Fragen, die die Leser stellen, ist groß. Aber: Bei aller Kritik an diesem so harmlos, spielerisch wirkenden Artikel, er hat durchaus auch seinen Wert. Er ist eine Fundgrube, wenn es darum geht, anschaulich zu erfahren, wie berechtigt die Kritik am Journalismus unserer Zeit doch ist.