Föderales Absurdistan
„Bildung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe“, heißt es im schwarz-gelben Koalitionsvertrag. Da der Bund nach der Föderalismusreform aber kaum noch bildungspolitische Zuständigkeiten hat, muss die Bundesregierung unter Einschaltung von nichtstaatlichen Mittlern die Länder umgehen, wenn sie Bildungsprojekte anschieben und fördern will. Ein Musterbeispiel für diese absurde Umgehungsstrategie ist das „Programm des Bundes für lebensbegleitendes Lernen“. Wolfgang Lieb
„Bildung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und bedarf einer engen Partnerschaft aller Verantwortlichen entlang der gesamten Bildungskette. Wir streben daher eine Bildungspartnerschaft von Bund, Ländern und Kommunen unter Wahrung der jeweiligen staatlichen Zuständigkeit an.“
„Wir werden vor Ort Bildungsbündnisse aller relevanten Akteure – Kinder- und Jugendhilfe, Eltern, Schulen, Arbeitsförderung sowie Zivilgesellschaft – fördern, die sich mit diesem Ziel zusammenschließen.“ So heißt es im schwarz-gelben Koalitionsvertrag.
Wie solche „Bildungspartnerschaften“ und „Bildungsbündnisse“ mit der Zivilgesellschaft aussehen, lässt sich am „Programm des Bundes für lebensbegleitendes Lernen“ exemplarisch beobachten:
„60 Millionen Euro für bessere Bildung in den Kommunen
Startschuss für das größte Programm des Bundes für lebensbegleitendes Lernen / Einzigartige Partnerschaft von Bund, Kommunen und Stiftungen“, lautet die Überschrift einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 10.11.2009 [PDF – 123 KB] :
“Mit ‘Lernen vor Ort’ beginnt eine neuartige öffentlich-private Bildungspartnerschaft aus Bund, Kommunen und Stiftungen, um ein abgestimmtes Bildungssystem auf kommunaler Ebene zu entwickeln: von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Erwachsenenbildung.”
Nichts gegen ein Vorhaben zur Förderung lebensbegleitenden Lernens, doch wenn man sich die Organisationsstruktur dieses Projekts ansieht, dann kann einem um die „Bildungsrepublik Deutschland“ (so Merkel) nur angst und bange werden.
Da wird also von der EU, genauer vom Europäischen Sozialfonds Geld zur Verfügung gestellt. Diese Millionen dürfen aber weder die EU noch der Bund, noch nicht einmal der Bund zusammen mit den Ländern in einem gemeinsam definierten und getragenen Bildungsprojekt einsetzen, das verbietet nämlich die Alleinzuständigkeit der Länder vor allem im schulischen Bereich.
Also sucht der Bund nach nichtstaatlichen „zivilgesellschaftlichen“ Akteuren und organisiert einen Stiftungsverbund, an dem bisher 26 Stiftungen beteiligt sind. Der Verbund der beteiligten Stiftungen reicht von der Achterkerke Stiftung für Kinder in Heringsdorf bis zur Volkswagenstiftung in Hannover. Mit dabei sind natürlich auch die Bertelsmann Stiftung, die Deutsche Bank Stiftung oder die Stiftungen der Deutschen BP, der Telekom, der BMW AG, der RheinEnergie, von Roland Berger, der Software AG, der TUI, der Vodafone oder der Stiftung der Deutschen Wirtschaft e.V. etc.
Wie viel Geld diese privaten Stiftungen zusätzlich zu den 60 Millionen aus öffentlichen Mitteln beisteuern, ist nirgendwo erwähnt. Sie sollen – laut Programm – auch nur „lokale Grundpatenschaften“ für Kommunen beim Aufbau eines kohärenten kommunalen Bildungswesens übernehmen. Und sie sollen als „unabhängige“ Moderatoren wirken, Expertisen einbringen oder bei der Anbahnung weiterer öffentlich-privater Partnerschaften helfen. Als konkrete Stiftungsleistungen ist etwa an die Teilnahme an Arbeits- und Steuerungstreffen, an die Bereitstellung von Personalkapazitäten oder von Publikationen, an die Unterstützung von örtlichen Veranstaltungen oder an die Nutzbarmachung von Expertenwissen gedacht.
Und weil die Bundesbildungsministerin mangels Zuständigkeit natürlich auch kein passendes Fachpersonal hat, muss die komplexe Koordination des Projektes mit so vielen und unterschiedlichen Beteiligten natürlich von einem externen Koordinator übernommen werden.
Projektträger sind so bildungsnahe Einrichtungen wie das „Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt“ und die Geschäftsstelle des Stiftungsverbundes.
Ziel dieser „einzigartigen öffentlich-rechtlichen Partnerschaft“ ist es, die „Weichen für lebenslanges Lernen in den Kommunen neu zu stellen“ und Anreize für ein „kommunales Bildungsmanagement“ zu entwickeln, das „Bildung für alle“ in allen Phasen des Lebens ermöglichen soll. Die Einzelnen sollen „fit“ gemacht werden „für die Herausforderungen einer globalisierten und schnelllebigen Zeit“ und darüber hinaus soll das Projekt zum „Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit einer jeden Kommune“ beitragen. Das heißt also „Lernen vor Ort“.
Bisher wollen sich 40 Kommunen und Kreise quer durch die Republik beteiligen.
So sollen also künftig die von der neuen Regierungskoalition angestrebten „Bildungsbündnisse“ und „Bildungspartnerschaften“ aussehen.
Der Bund darf sich inhaltlich nicht einmischen und stellt das Geld der EU zur Verfügung und die Länder müssen sich draußen halten, weil sie sich ja ansonsten in ihrer Zuständigkeit für die Bildung verletzt sehen müssten. Die sog. „Zivilgesellschaft“ bestimmt, wo es längs gehen soll.
Bildung als „gesamtstaatliche Aufgabe“ wird mangels gesamtstaatlicher Verankerung der Verantwortung, d.h. konkret mangels Bundes-Zuständigkeit in die zivilgesellschaftliche Verantwortung von Stiftungen übergeben, um damit die Zuständigkeit der Länder für die Bildung zu umgehen zu können. Dazu müssen Umwege gefunden und riesige Verbünde mit Stiftungen aufgebaut werden, deren bildungspolitische Kompetenz höchst zweifelhaft oder – wie nicht nur bei der Bertelsmann Stiftung – höchst fragwürdig ist. Statt bei der Koordination dieses bürokratischen Ungetüms auf etablierte und erfahrene Einrichtungen der Bildungsplanung zurückgreifen zu können – wie es früher einmal die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) war – muss nun gar noch eine Raumfahrtbehörde die Koordination für diese bildungsplanerische „Mondfahrt“ übernehmen.
Das nenne ich föderales Absurdistan.
Nun war die Föderalismusreform ja politisch erwünscht. Eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat folgte dem Glauben, dass der Wettbewerb zwischen den Ländern in der Bildung auch das gesamtstaatliche Wohl am „effizientesten“ fördern würde.
Die Kleinstaaterei in der Bildungspolitik feiert seither fröhlich Urständ und das Bildungschaos nahm seinen Lauf. Die Fehlende Gemeinsamkeit wird bestenfalls noch auf Bildungsgipfeln beklagt.
Die Bundesregierung will nun die fehlende gesamtstaatliche Koordination dadurch ausfüllen, dass sie eben auf diese zivilgesellschaftlichen Bildungsbündnisse und Bildungspartnerschaften baut und sie finanziert. Wer aber meint, hier würde aus der Not (der mangelnden Zuständigkeit) eine (bildungspolitische) Tugend gemacht, der täuscht sind gründlich. Hinter diesem Leitbild des zivilgesellschaftlichen Engagements steht die knallharte Ideologie „freiheitlichen offenen“ Gesellschaft, wie sie dem Koalitionsvertrag vorweg gestellt wurde.
In welche (bildungspolitische) Richtung das „größte Programm des Bundes“ nämlich zielt, dazu braucht man sich nur die Stiftungen und deren Missionen genauer anzusehen. Es sind überwiegend die Stiftungen des „großen Geldes“, die die „Patenschaften“ für die Kommunen übernehmen werden. Diese Stiftungen gelten zwar als „gemeinnützig“, aber sie haben alle ihren Stiftungszweck. Und die Missionen der jeweiligen Stifter sollen also künftig das lokale Bildungsmanagement vor Ort entwickeln.
Die Politik, die Parlamente, die Kultusbehörden ziehen sich so aus ihrer Verantwortung zurück und überlassen die Abstimmung und Verzahnung der Bildungsangebote für lebensbegleitendes Lernen den Selbsthilfekräften „zivilgesellschaftlichen“ Engagements. Demokratisch legitimierte Verantwortung wird so durch die private Macht geldmächtiger (und durch ihre Gemeinnützigkeit steuerlich geförderter) Stifter zurückgedrängt. Anders als im demokratischen Modell mit seinem Mehrheitsprinzip wird die große Mehrheit der weniger wohlhabenden Bevölkerung von der Gestaltung des „Lernens vor Ort“ ausgeschlossen. Timokartie – also die Herrschaft der Besitzenden – löst die Demokratie ab.
Die Mittel sind zum Glück begrenzt und das finanzielle Engagement der Stifter dürfte sich in engen Grenzen halten. Das Programm ist zudem zunächst nur auf drei Jahre angelegt, planerische Kontinuität ist also in diesem knappen Zeitraum kaum zu erwarten. Es wird schon viel Zeit vergehen, bis sich die Zielvorstellungen der Vielzahl der Beteiligten koordinieren lassen – wenn sie sich überhaupt koordinieren lassen. Diese Art von „Lernen vor Ort“ im Sinne der Mission der Stifter dürfte also noch auf sich warten lassen.