Die Manipulationsstrategien hinter CSU-Dobrindts Klage über den Einfluss der 68er und seiner Forderung nach einer “konservativen Wende/Revolution“
Der erste Eindruck, der CSU-Landesgruppenchef sei nicht mehr ganz bei Trost, täuscht. Er erweckt in einem Beitrag für Springers „Welt“ den Eindruck, die 68er hätten eine „linke Revolution der Eliten“ bewirkt, sie seien die geistige Führungsmacht in Deutschland. Aus Dobrindts Sicht ist es jetzt Zeit für eine bürgerlich-konservative Revolution. Er erhält für diesen Blödsinn Applaus von Seiten der in Kloster Seeon versammelten CSU-Mandatsträger und vermutlich Zustimmung bei AfD-Funktionären und Anhängern. Was steckt hinter diesen Einlassungen? Meines Erachtens sind sie kühl kalkuliert. Albrecht Müller.
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Zunächst noch eine Anmerkung zur Reaktion in der Öffentlichkeit: Zu Ehren einiger Medien kann man feststellen, dass auch sie die enthaltenen Geschichtsklittereien für eine Zumutung halten. So zum Beispiel Frau Slomka vom heute journal am 3. Januar. Sie stand offensichtlich staunend vor Dobrindts schrägen Behauptungen und Forderungen und hielt dagegen. So auch der in den Hinweisen von heute schon zitierte Georg Restle vom WDR. Und Robin Detje bei Zeit Online „Deutschland soll Bayern werden!“.
Da davon auszugehen ist, dass Dobrindts Einlassungen in manchen Kreisen verfangen und er außerdem damit etwas bewirken will, also sich in nüchternem Zustand geäußert hat, dazu noch einige Anmerkungen und Erklärungsversuche. Zunächst:
Es stimmt nahezu nichts an den Einlassungen von Dobrindt
- Die 68er waren keineswegs so erfolgreich, wie Dobrindt behauptet. Sie beherrschen weder den Zeitgeist noch haben sie die praktische Politik geprägt, als mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer Menschen, die man den 68ern (zu Unrecht) zurechnet, das Land regiert haben.
- Sie haben die Regierungszeit des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt zwischen 1974 und 1982 kaum geprägt.
- Und sie bestimmten keinesfalls die seit der 1982er „Wende“ zu Kohl von diesem Bundeskanzler und seinem liberalen Kompagnon Lambsdorff betriebene Politik. Es wurde dereguliert und privatisiert und die Position der Lohnabhängigen wurde systematisch geschwächt, am deutlichsten dann durch die Agenda 2010 des Gerhard Schröder und des Joschka Fischer. Seit 2005 regiert Angela Merkel auf der gleichen Linie weiter.
- Die konservative Wende hat also längst stattgefunden. Der Neoliberalismus herrscht überall, in Deutschland, in Frankreich, in Großbritannien schon seit Thatcher und auch vom Labourpolitiker Tony Blair so weiterbetrieben.
- Besonders in den Medien hat die konservative Wende sichtbar stattgefunden: der Spiegel ist kein fortschrittliches Medium mehr, auch nicht einmal die Frankfurter Rundschau und die taz, und auch nicht andere Medien, die einmal wenigstens in Teilen linksliberal angehaucht waren, wie z.B. der Kölner Stadtanzeiger oder die Süddeutsche Zeitung oder Die Zeit.
- Im sogenannten privaten Rundfunk hat die Union schon ab der Wende von 1982 die besondere Form der konservativen Revolution betrieben: 1984 haben Kohl und sein Gehilfe Schwarz-Schilling dort die totale Kommerzialisierung eingeleitet und möglich gemacht. Kommerzfernsehen – das ist der deutlichste und weitreichende Ausdruck der konservativen Revolution in Deutschland!
Auch der Öffentlich-rechtliche Rundfunk ist deutlich kommerzialisiert und nach rechts gerückt worden. Wo ist denn der Rot-Funk des WDR geblieben? Und wo der liberale und fortschrittliche Geist des NDR und des Hessischen Rundfunks? Die Unionsparteien haben systematisch Personalpolitik betrieben – mit der Konsequenz, dass der Geist der 68er aus der letzten Ecke gefegt wurde.
Heute herrscht die Welt des Neoliberalismus und der Atlantiker fast überall. Verziert von ein paar Ausnahmen, von wenigen Leuchtmarken der Aufklärung. Die maßgeblichen und die öffentliche Meinung bestimmenden Hauptmatadore haben mit dem Geist der 68er nichts mehr zu tun.
- In vielen anderen Institutionen, zum Beispiel in Universitäten und Expertengremien wie dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung herrschen die Konservativen. Meine eigene Wissenschaft, die Nationalökonomie ist weitgehend auf neoliberales Denken gleichgeschaltet. Kohl höchstpersönlich hat bei der Humboldt-Universität in Berlin für „Ordnung“ gesorgt. Auch in den zur Analyse politischer Ereignisse von den Medien herangezogenen Politologen- und Historiker-Zirkeln dominieren konservative und der FDP und der Union nahestehende Personen.
- Selbst ehedem linke Parteien wie die SPD und die Grünen sind von Konservativen und bestenfalls Opportunisten beherrscht. Die sogenannten Realos beherrschen die Szene bei den Grünen, die Seeheimer bestimmen die Politik der SPD.
- Selbst in der Außen- und Sicherheitspolitik gilt nicht mehr das, was die 68er damals unterstützt haben: die Entspannungs- und Friedenspolitik, die Verständigung mit dem Osten.
Bei so viel Ungereimtheiten und falschen Behauptungen muss man fragen, was die Funktion der Feststellungen und Behauptungen des CSU-Landesgruppenchefs sein könnte.
Die Funktionen seines Vorstoßes und die Strategien, die dahinterstecken:
- Befriedigung der eigenen Anhänger und des eigenen Funktionärskörpers. Dort glauben viele, was Dobrindt behauptet.
- Werben um die Anhänger der AfD. Dort glauben auch viele die Märchen über die 68er und ihren Einfluss.
- Vor allem aber will der CSU-Funktionär die vor fast 40 Jahren eingeleitete konservative Wende absichern, nachdem sichtbar geworden ist, welchen Schaden die konservative Wende angerichtet hat. Dringend notwendig wäre stattdessen eine Rückbesinnung auf die erfolgreichen Regeln und Werte der Zeit vor der Wende von Kohl und Lambsdorff – also die Rückbesinnung auf Sozialstaatlichkeit, auf die soziale Sicherung vor den Risiken des Lebens, auf die öffentliche Verantwortung für die Güter des öffentlichen Grundbedarfs, auf Gemeineigentum, und in der Außen- und Sicherheitspolitik auf eine von Friedenswillen und Völkerverständigung geprägte Politik.
Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe will verhindern, dass unser Volk und unsere Politiker zur Besinnung kommen, wir sollen stattdessen auf die Agenda 2010 die Agenda 2020 folgen lassen.
- Dobrindt will damit den Sondierungsgesprächen und den anstehenden Koalitionsverhandlungen eine Art „Kompass“ vorgeben. Dafür nimmt er in Kauf, als nicht ganz bei Trost zu gelten. Clever. Clever gemacht.
Einen ersten Teilerfolg hat er damit schon erzielt. Der SPD-Generalsekretär durfte gestern Abend in einer mit allen Teilnehmern der Sondierungsgespräche abgestimmten Erklärung verkünden:
„Wir befinden uns in einer neuen Zeit. Und diese neue Zeit braucht eine neue Politik.“
Damit hat sich Dobrindts Opfer vom vergangenen Donnerstag schon gelohnt.