Auf einem Auge blind – Unternehmer dürfen betrügen und Steuern hinterziehen oder mindern. Gehalts- und Sozialhilfeempfänger werden abkassiert.
Wenn in Deutschland ein Sozialhilfeempfänger ein paar tausend Euro erschwindelt hat oder wenn Studierende durch falsche Angaben ihrer Vermögensverhältnisse einige hundert Euro Studienförderung zu Unrecht kassiert haben, dann regt sich die ganze Republik auf. Umsatzsteuerbetrug im gigantischen Ausmaß von 16 bis 20 Milliarden Euro, Steuerhinterziehung durch Verschiebung von Schwarzgeld ins Ausland in Höhe von 100 bis 500 Milliarden Euro oder Steuerminderung durch Gewinnverlagerung ins Ausland als alltägliche Praxis, darüber erfährt man allenfalls in kleinen Meldungen des Wirtschaftsteils der Zeitungen etwas.
Einem unselbstständig Beschäftigten wird die Lohn- oder Einkommenssteuer einfach vorab vom Gehalt abgezogen, er hat als normaler Konsument keine Chance sich von der Mehrwertsteuer zu „befreien“. Ein künftiger Arbeitslosengeld-II-Empfänger muss in einem langen Fragekatalog seine Bedürftigkeit nachweisen. Anders ist das bei den Unternehmen.
Nehmen wir die Mehrwertsteuer:
Liefert ein Unternehmen einem anderen eine Ware, so muss das belieferte Unternehmen dem Lieferer die Umsatzsteuer bezahlen, kann aber diesen Betrag gegenüber dem Finanzamt als „Vorsteuer“ verrechnen. Das Lieferunternehmen muss die erhaltene Umsatzsteuer an das Finanzamt weiterleiten. „Dieses System, bei dem viele Unternehmen hintereinandergeschaltet sein können, lädt zum Missbrauch geradezu ein“ schreibt Marc Beise in der Süddeutschen Zeitung vom 9.12.04. Dadurch, dass die eingenommene Mehrwertsteuer nicht abgeführt oder die sog. „Vorsteuer“ erschlichen werde, gingen nach Schätzungen des Ifo-Instituts – dessen Chef Hans-Werner Sinn wohl kaum einer unternehmenskritischen Haltung verdächtigt werden kann – dem Fiskus jährlich 16,3 Milliarden Euro verloren. Die Länderfinanzminister sprächen sogar davon, dass durch diese „schier unglaubliche Steuer-Betrugsmaschinerie“ jährlich 20 Milliarden Euro Steuern hinterzogen würden. Das sind, so Beise, mehr als 10% des gesamten Umsatzsteueraufkommens. Ein gigantisches Betrugsmanöver findet statt, aber kaum einer regt sich darüber auf, und die Finanzminister, denen dieser Milliardenbetrug seit Jahren bekannt ist, klagen lieber über rückläufige Steuereinnahmen und fordern Ausgabenkürzungen, als dass sie diesen Sumpf an Kriminalität rasch austrockneten.
Nehmen wir das Schwarzgeld:
Nach realistischen Schätzungen sind etwa 100 Milliarden Schwarzgeld an der Steuer vorbei ins Ausland verschoben worden (siehe dazu NachDenkSeiten vom 24.5.04). Das Manager-Magazin – das es eigentlich am besten wissen müsste – geht sogar von einem steuerhinterzogenen Betrag von 550 Milliarden Euro aus, den Deutsche auf Konten in den sog. Steueroasen lagerten. Für diesen Steuerbetrug in zwei bis dreistelliger Milliardenhöhe gab es nun gnädiger Weise sogar eine staatliche Amnestie. Trotz dieser „Brücke in die Steuerehrlichkeit“, so die Finanzstaatssekretärin Barbara Hendricks, sind statt der von Steuerschätzern und Wirtschaftsforschern erhofften 25 Milliarden Steuereinnahmen aus dem Rückfluss dieses Schwarzgeldes, nach einem Bericht der FAZ, bis Ende November tatsächlich gerade mal 557 Millionen Euro an den Fiskus zurückgeflossen.
Nehmen wir die Gewinnverlagerung ins Ausland:
Wolfgang Reuter und Sven Afhüppe berichten im SPIEGEL vom 13.12.04 einmal mehr über die „Steueroase Deutschland“. Danach zahlt Siemens, das doch noch unlängst seinen Mitarbeitern mit Abwanderungsdrohungen drastische Gehaltskürzungen abtrotzte, von 1997 bis 2002 durchschnittlich 14% Steuern, DaimlerChrysler 9% und BASF 12% Steuern in Prozent ihrer Ergebnisse. Auch die teilweise in Staatsbesitz befindliche Deutsche Telekom entrichte „kaum Steuern“. Ein erheblicher Teil der völlig legalen Steuerminderungen resultiere aus den Möglichkeiten, Gewinne und Verluste zwischen Unternehmenstöchtern und Muttergesellschaften am Fiskus vorbei hin- und herzuverschieben. Erneut wird auch über die skandalöse Möglichkeit berichtet, bei Produktionsverlagerungen ins Ausland die Finanzierungskosten hierzulande abzusetzen und die im Ausland erzielten Gewinne mit nur zwei Prozent versteuern zu müssen.
Oh hätte Frau Merkel, statt auf ihrem CDU-Parteitag wieder einmal die angeblich pro Tag 1000 abwandernden Arbeitsplätze dem Standort Deutschland anzulasten, doch bloß mit einem einzigen Vorschlag aufgewartet, solche Steuermanipulationen wenigstens einzudämmen, dann hätte ihr Pathos zum Patriotismus, wenigstens ein klein wenig Substanz gehabt.