Der Alt-Neoliberale (!) Alexander Rüstow wäre heute wohl in der Einschätzung Steinbrücks ein Linksradikaler …
… schreibt der NDS-Freund und Fach- und Studienkollege Gerhard Kilper nach Lektüre meines Beitrags „Makroökonomie kommt bei der SPD nicht vor“ eine Mail mit anhängendem Zitat von Rüstow. Der Text von Rüstow ist für viele unserer Leser direkt brauchbar – für Diskussionen mit anderen, für eigene Reden, etc. Deshalb die Weidergabe von Mail und Anhang. Albrecht Müller
Lieber Herr Müller, vielen Dank für Ihre … aufschlussreiche Kommentierung von Steinmeiers/Steinbrücks Wahlprogramm.
Wie sehr speziell Steinbrück in Sachen Makroökonomie intellektuell „unterbelichtet“ ist, sieht man an seiner neoliberalen Sicht der Lohnnebenkosten als Teil einer Art betriebswirtschaftlichen „Zuschlagskalkulation“ (was Sie dankenswerterweise im letzten Teil Ihres Aufsatzes belegen).
Die fast unbegreifliche Verschiebung der politischen Koordinaten – die Mutierung der SPD zur Arbeitgeber-Klassenkampfpartei in Sachen Wirtschafts- und Finanzpolitik – zeigt sich auch sehr anschaulich am im Januar 1959 in Bad Godesberg gehaltenen Referat des Alt-Neoliberalen (!) Alexander Rüstow (veröffentlicht in Hrsg. Külp/Schreiber, „Soziale Sicherheit“, Neue Wissenschaftliche Bibliothek Wirtschaftswissenschaften, Kiepenheuer&Witsch, Köln 1971, S. 23 ff). Rüstow wäre heute wohl in der Einschätzung Steinbrücks ein Linksradikaler… Ich füge Ihnen relevante Redeteile in wörtlicher Zitierung unten an, Ihr GK.
Vorweg noch eine Bitte an die marxistisch Geschulten unter unseren Lesern: nicht gleich beim ersten Satz von Rüstow die Borsten ausfahren. Die darauf folgenden Aussagen werden auch Ihre Zustimmung finden.
Wörtliche Zitierung von Auszügen aus Rüstows Godesberger Referat vom Januar 1959:
Punkt 1, Rüstow zur Lohnpolitik, S. 23 f.
An die Stelle der marxistischen Irrlehre von der Ausbeutung und dem Mehrwert ist nun neue nationalökonomische Einsicht getreten, die von der allergrößten Wichtigkeit ist, nämlich die Einsicht, dass der Lohn für den Unternehmer nicht nur ein Kostenbestandteil ist, sondern zugleich die Kaufkraft darstellt, mit der seine eigenen Produkte gekauft werden. Wenn man das weiß, ergibt sich eine vollkommen andere Perspektive für die Lohnpolitik. Unter dem alten Klassenkampfgesichtspunkt war es so, dass für die Unternehmer der Lohn nicht niedrig genug und für die Arbeiter nicht hoch genug sein könnte: zwei diametral entgegen gesetzte, unversöhnliche Standpunkte, eine ausgesprochene Klassenkampfsituation! Wenn man aber den anderen Gesichtspunkt zugrunde legt, so steht es ganz anders; dann gibt es ein Lohnoptimum, das sowohl für den Arbeiter wie für den Unternehmer das Erstrebenswerte darstellt.
Dass die moderne Wissenschaft diese grundsätzliche Einsicht erarbeitet hat, ist ein großes und weittragendes Verdienst. Leider ist sie noch nicht so weit, dass sie zahlenmäßig angeben könnte, wo unter den verschiedenen Verhältnissen dieses Optimum der Lohnhöhe liegt. Aber allein schon das Bewusstsein, dass es ein solches Optimum gibt und dass dieses Optimum für Arbeitgeber und Arbeitnehmer das gleich ist, dass es also die Aufgabe der Lohnpolitik ist, gemeinsam diesen für alle richtigen Punkt zu finden, ändert in dem Maße wie es sich durchsetzt… das ganze Klima der Lohnverhandlungen …
Punkt 2, Rüstow zur Sozialpolitik
… Auch die Sozialquote kann für den Klassenkämpfer nicht hoch genug sein, und die Gegenseite hat dann natürlich umgekehrt ein Interesse daran, sie möglichst niedrig zu halten. In Wirklichkeit steht es aber so, dass es auch in der Sozialpolitik ein Optimum gibt, an dem alle Beteiligten interessiert sind. Denn während man früher glauben konnte und es zum Teil auch so war, dass die Kosten der Sozialpolitik von den Unternehmern getragen wurden, sind ja heute die Summen, um die es sich handelt, viel zu hoch, um das zu ermöglichen, vielmehr wird der weitaus größte Teil des Sozialaufwandes direkt und indirekt von den Arbeitern selbst getragen. Denn auch der Teil, der formell als Unternehmerbeitrag gezahlt wird, geht ja in Wirklichkeit vom Lohn ab; um so viel, wie der Unternehmer an Sozialbeitragen zahlen muss, kann er an Lohn weniger zahlen. Auch das geht also auf Kosten der Arbeiter …