Nachtwächter über den Nachtwächterstaat
Mit einem „Zwar-Aber“-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon passieren lassen, die Selbstentmachtung von Bundestag und Bundesrat durch das Begleitgesetz zur Zustimmung jedoch kassiert. Das Gericht entzog sich weitgehend einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Reformvertrag und stellte vor allem darauf ab, ob dieser die staatliche Souveränität tangiere. Das Gericht ließ den Lissabon-Vertrag passieren und schränkte nur die Reichweite dieses Vertrages etwa im Justizwesen und beim Militär ein. Nur für zukünftige Entscheidungen einer fortschreitenden europäischen Integration verlangte es „Einzelermächtigungen“ die dem „Demokratieprinzip“ (also vor allem der Zustimmung der Gesetzgebungsorgane) entsprechen. Der Sozialstaat sei durch die Vertragswerke der europäischen Union nicht tangiert. Das Bundesverfassungsgericht reduzierte seine Existenzberechtigung auf eine „Reservekomptenz“ über die „unverfügbare Verfassungsidentität“, also letztlich auf den Kernbestand der Staatlichkeit. Dem Gericht bleibt künftig die Rolle des Nachtwächters über den Nachtwächterstaat. Wolfgang Lieb
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat gestern entschieden,
dass das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dagegen verstößt das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Bundestag und Bundesrat im Rahmen von europäischen Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren keine hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden. Die Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon darf solange nicht hinterlegt werden, wie die von Verfassungs wegen erforderliche gesetzliche Ausgestaltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte nicht in Kraft getreten ist.
Das nahezu 150 Seiten umfassende Urteil in seiner Langfassung bedarf eines ausführlicheren Studiums, die nachfolgenden Betrachtungen können daher nur als vorläufig gelten.
Ein „Zwar-Aber“- Urteil
Das Gericht stimmte zwar der Zustimmung zum Vertrag von Lissabon, aber es verlangte mehr demokratische Beteiligung von Bundestag und Bundesrat bei künftigen europäischen Rechtsetzungsverfahren bei einer Erweiterung der europäischen Integration.
Um die eigene Existenzberechtigung zu legitimieren beansprucht das Bundesverfassungsgericht Überprüfungsmöglichkeiten darüber, ob diese Entscheidungen der Gesetzgebungskörperschaften den elementaren Prinzipien des Grundgesetzes entsprechen.
Auch Vertragsänderungen auf europäischer Ebene durch die Hintertür (etwa über die sog. Flexibilitätsklausel) sollen künftig durch das Gericht verhindert werden können.
So könnte man etwas zugespitzt die Entscheidung des obersten deutschen Gerichtes zusammenfassen.
Dieses „Zwar-Aber“-Urteil war schon insofern zu erwarten, als sich das Karlsruher Gericht ansonsten hätte selbst auflösen können, weil es durch den Europäischen Gerichtshof ersetzt worden wäre. Das Gericht reklamiert dementsprechend ausdrücklich für sich, dass es auch künftig darüber wachen darf, „dass die Gemeinschafts- oder die Unionsgewalt nicht mit ihren Hoheitsakten die Verfassungsidentität verletzt und nicht ersichtlich die eingeräumten Kompetenzen überschreitet.“
Das ist aber auch schon Alles.
Die Rechte des Gesetzgebers nicht ausreichend gewahrt
Das „Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union“, wie es beschönigend betitelt wurde, das die Zustimmung zum Lissabon-Vertrag begleitete, verstößt gegen das Grundgesetz (Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG). Die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestags und des Bundesrats seien in diesem Gesetz nach Ansicht der Karlsruher Richter eben gerade nicht ausreichend gestärkt und ausgeweitet worden.
Die Mehrheit in Bundestag und Bundesrat hatte sich mit der Verabschiedung des Begleitgesetzes also in verfassungswidriger Weise selbst entmachtet.
Keine Auseinandersetzung mit den Inhalten des Vertrages
Das Bundesverfassungsgericht setzt sich nicht, oder allenfalls am Rande mit den Inhalten des Vertrags von Lissabon und seinen Vorläuferverträgen auseinander, also etwa der Festschreibung eines neoliberalen Wirtschaftsmodells innerhalb der EU. Es legt den Schwerpunkt seiner Prüfung auf das Verhältnis zwischen dem im Grundgesetz vorgeschriebenen „demokratischen System“ gegenüber der „Herrschaftsausübung“ auf Europäischer Ebene und deren demokratischer Legitimation. Dafür ist die Frage, ob es sich bei der Europäischen Union um einen „Bundesstaat“ oder um einen auf völkerrechtlichen Verträgen basierenden „Staatenverbund“ („Herrschaftsverband“) handelt, von entscheidender Bedeutung.
Die Bundesrepublik bleibt eine souveräner Staat
Das Urteil ist hier eindeutig: Die Bundesrepublik ist und bleibt nach Auffassung des Gerichts ein souveräner Staat und die Europäische Union wird nur getragen vom Willen der souveränen staatlichen Organe die europäischen Verträge auch einzuhalten.
Die Auffassung, dass es im Wege des politischen Einigungsprozesses schleichend und durch die Macht der Fakten zu einem Europäischen Bundesstaat kommen könnte und der Unionsvertrag die Rolle einer europäischen Oberverfassung erlangen könnte, ist damit zurückgewiesen: „Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein erklärter Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne Staatlichkeit einherginge. Ein solcher Akt liegt hier nicht vor.“
Dafür wäre nach Ansicht des Gerichts eine Volksabstimmung erforderlich.
Die Verantwortung für eine weitere Integration bleibt in der Hand der nationalen Verfassungsorgane und für wachsende Kompetenzen oder für eine weitere Verselbständigung der Unionsorgane sind „Schritt haltende Sicherungen erforderlich“. Und für jeden Schritt hin zu weiterer staatsrechtlicher Integration sind „kontrollierte Einzelermächtigungen“ erforderlich, die darüber hinaus „eigene für die Entfaltung der demokratischen Willensbildung wesentliche Gestaltungsräume der Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration …erhalten“ müssten.
Der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen Rat darf einer Vertragsänderung (etwa) durch Anwendung der allgemeinen Brückenklausel deshalb nur zustimmen, wenn der Bundestag und der Bundesrat innerhalb einer noch auszugestaltenden Frist,…,, ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG erlassen haben.
Auch eine Kompetenzerweiterung im Rahmen der sog. „Flexibilitätsklausel“ bedarf der Ratifikation durch den Bundestag und den Bundesrat.
Das soll nun in einem neuen Begleitgesetz festgeschrieben werden. Nach Aussagen der Bundesregierung noch in dieser Wahlperiode.
Darüber hinaus ist die „verfassungsrechtlich gebotene Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts … durch die der Schlussakte zum Vertrag von Lissabon beigefügte Erklärung Nr. 17 zum Vorrang nicht berührt.“
Europaparlament kein demokratisches Repräsentationsorgan
Entgegen der vor der Europawahl vorgetragenen Lobeshymnen auf die gestärkte demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments, kommt das Gericht zu einem ernüchternden Befund:
Das Europäische Parlament ist weder in seiner Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge dafür hinreichend gerüstet, repräsentative und zurechenbare
Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen zu treffen. Es ist gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen nicht gleichheitsgerecht gewählt und innerhalb des supranationalen Interessenausgleichs zwischen den Staaten nicht zu maßgeblichen politischen Leitentscheidungen berufen. Es kann deshalb auch nicht eine
parlamentarische Regierung tragen und sich im Regierungs-Oppositions-Schema parteipolitisch so organisieren, dass eine Richtungsentscheidung europäischer Wähler politisch bestimmend zur Wirkung gelangen könnte.
Will sagen: Das Europäische Parlament ist weder repräsentativ zusammengesetzt und hat auch keine ausreichende demokratische und politische Legitimation für Leitentscheidungen.
Abwägung zwischen Demokratieprinzip und Europafreundlichkeit
Die Zustimmung zum Vertrag von Lissabon wird vom Gericht „am Maßstab des Wahlrechts gemessen“.
Einerseits wird festgestellt, dass „das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die sie betreffende öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, … in der Würde des Menschen verankert und elementarer Bestandteil des Demokratieprinzips“ sei und dass „das Demokratieprinzip ist nicht abwägungsfähig“ sei: Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig (Art. 79 Abs. 3 GG). Mit der so genannten Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen.“
Anderseits sei das Demokratieprinzip „offen für das Ziel, Deutschland in eine internationale und europäische Friedensordnung einzufügen“. Es gelte der Grundsatz der Völkerrechts- und auch der Europarechtsfreundlichkeit. Insofern ist das Urteil eher europafreundlich. Das Gericht wollte sich nicht gegen den Lissabon-Vertrag stellen, es schränkt allerdings die Reichweite dieses Vertrages in einigen wenigen Teilbereichen ein und es verlangt vor allem zukünftig für Entscheidungen einer fortschreitenden europäischen Integration „Einzelermächtigungen“ die dem Demokratieprinzip (also der Zustimmung der Gesetzgebungsorgane) entsprechen müssen.
Nur diese Einzelermächtigungen können auch künftig vom Bundesverfassungsgericht überprüft und ggf. kassiert werden. Nur wenn der Gesetzgeber, wie im Begleitgesetz zum Lissabon Vertrag geschehen, sich seiner Rechte aus dem Demokratieprinzip freiwillig begibt, kann dies in Karlsruhe angefochten werden.
Verfassungsrechtliche Identität muss erhalten bleiben
Die europäische Integration müsse das „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ wahren und vor allem müsste darauf geachtet werden, dass die Bundesrepublik ihre „verfassungsrechtliche Identität als Mitgliedstaat“ und „ihre Fähigkeit zu selbstveranwortlicher politischer und sozialer (!) Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verliert“. Bei demokratiebedeutsamen Sachbereichen, sei eine „enge Auslegung“ geboten. Dies betreffe „insbesondere die Strafrechtspflege, die polizeiliche und militärische Verfügung über das Gewaltmonopol, fiskalische Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben, die sozialpolitische Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell bedeutsame Entscheidungen wie Erziehung, Bildung, Medienordnung und Umgang mit Religionsgemeinschaften.“
Die Europäische Union habe die „nationale Identität der Mitgliedstaaten“ zu achten und das sei auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon der Fall.
Das hört sich zwar gut an, kann aber vielleicht in Zukunft nur einige Großmachtsansprüche aus Brüssel einschränken. Das aber auch nicht auf der Ebene der konkreten Politik (also von allgemeinen Richtlinien), sondern nur auf der abstrakten Ebene des Staatsrechts.
Neue europäische Zuständigkeiten bedürfen einer grundgesetzkonformen Auslegung
Die durch den Vertrag von Lissabon neu begründeten oder vertieften Zuständigkeiten in den Bereichen der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und Zivilsachen, der Außenwirtschaftsbeziehungen, der Gemeinsamen Verteidigung sowie in sozialen Belangen können im Sinne einer zweckgerechten Auslegung des Vertrages und müssen zur Vermeidung
drohender Verfassungswidrigkeit von den Organen der Europäischen Union in einer Weise ausgeübt werden, dass auf mitgliedstaatlicher Ebene sowohl im Umfang als auch in der Substanz noch Aufgaben von hinreichendem Gewicht bestehen, die rechtlich und praktisch
Voraussetzung für eine lebendige Demokratie sind.
Das heißt aber nur:
- Sind Straf- oder Strafverfahrensnormen berührt, so bedürfen Kompetenzen der EU einer besonderen Rechtfertigung und an eine gerichtliche europäische Zusammenarbeit in Strafsachen sind strenge Anforderungen zu stellen.
- Auch bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon besteht der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte fort.
Der Vertrag von Lissabon beschränke jedoch „die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages nicht in einem solchen Umfang, dass das Sozialstaatsprinzip (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG) in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise beeinträchtigt und insoweit notwendige demokratische Entscheidungsspielräume unzulässig vermindert wären.
Kritik an dem Urteil
Das Gericht hat sich der herrschenden wirtschaftspolitischen Lehre angepasst
So erfreulich die Festschreibung des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz der Bundeswehr, so kritisierenswert ist die Aussage, dass der Vertrag von Lissabon das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) nicht berühre.
Der Reformvertrag wie schon die Vorgängerverträge übertragen der Europäischen Union umfangreiche Kompetenzen in allen wirtschaftspolitischen Fragen. Die Verträge sind – anders als das Grundgesetz – nicht wirtschaftspolitische neutral sondern nahezu durchgehend wirtschaftsliberal und vor allem angeblich wettbewerbsfördernd. Im Bereich der sozialen Sicherung gibt es auf europäischer Ebene jedenfalls keine dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes vergleichbaren Kompetenzen.
So wurde etwa die europäische Dienstleistungsfreiheit vom Europäischen Gerichtshof über die nationalen Arbeitnehmerrechte gestellt. So gilt etwa das Streikrecht nach mehreren Urteilen des EuGh nur insoweit, wie durch dessen Wahrnehmung die Marktfreiheiten nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden [PDF – 130 KB] .
Es ist im Hinblick auf das auch durch das Bundesverfassungsgericht ausgeprägte (und zugleich regulierte) Streikrecht in Deutschland höchst bedenklich, wenn die Richter etwa diese Einschränkung der Tarifautonomie durch den EuGH – ein zentrales Element selbstbestimmter Sozialpolitik – schlicht als „unzutreffend“ abtun (Zeile 393ff.)
Die Richter berufen sich dabei – neben einigen einzelnen Zusatzprotokollen und vertraglichen Erklärungen – vor allem auf den Vertrag von Lissabon selbst. Die Präambel des Vertrags bekunde die Entschlossenheit, durch „gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt“ der Mitgliedsstaaten zu sichern und Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 EUV-Lissabon beschreibe, dass die Union auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt,“ hinwirke.
Diese reinen Absichtserklärungen, denen bisher kaum irgendwelche konkreten Ausführungsbestimmungen gefolgt sind, reichen dem Bundesverfassungsgericht aus um den EU-Vertrag als sozialstaatskonform zu betrachten.
Das Gericht räumt zwar ein, dass die Rechtsprechung des EuGH auch Anlass zur Kritik „an einer einseitigen Marktorientierung“ der EU gegeben habe, das europäische Gericht habe aber zugleich eine Reihe von Elementen für ein “soziales Europa“ aufgezeigt (Zeile 398 ff.):
In Anbetracht der geschilderten Rechtslage, der Entwicklungen und der politischen Grundrichtung in der Europäischen Union ist der weit bemessene Gestaltungsfreiraum, der in sozialen Fragen auch auf europäischer Ebene besteht, jedenfalls nicht überschritten. Es ist aber auch anders, als die Beschwerdeführer zu V. (gemeint ist die Beschwerde der Fraktion der Linken) befürchten, nichts dafür ersichtlich, dass den Mitgliedstaaten das Recht und die praktischen Handlungsmöglichkeiten genommen wären, für soziale Sicherungssysteme und andere Maßnahmen der Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik konzeptionelle Entscheidungen in ihren demokratischen Primärräumen zu treffen.
Wo blieben aber etwa die „praktischen Handlungs- und des konzeptionellen Entscheidungsmöglichkeiten“ der Bundesrepublik, als der EuGH im April 2008 z.B. dem Land Niedersachsen verboten hat, in einem Landesvergabegesetz bei öffentlichen Ausschreibungen von Aufträgen die Einhaltung von Tariflöhnen zu verlangen?
Die Karlsruher Richter verweisen da auf das sog. „Notbremsverfahren“, wonach ein Mitglied des Rates (hier also die Bundesregierung) die Befassung des europäischen Rates beantragen könne.
Aber was ist, wenn die Bundesregierung die Befassung nicht beantragt? Und was ist, wenn die Befassung keinen Erfolg hat?
Dann gilt eben die Entscheidung des EuGH.
Sozialstaatspostulat als politische Verfügungsmasse
Es mag durchaus etliche vertragliche Abmachungen und Protokollanmerkungen geben, die auf der europäischen Ebene auch auf soziale Elemente hinweisen, Tatsache ist jedoch, dass es kein europäisches „Sozialmodell“ gibt, wohl aber ein ausdifferenziertes „Wirtschaftsmodell“, mit einer Garantie der Marktfreiheiten im Dienstleistungs- und Warenverkehr. Angeblich wettbewerbsverzerrende Sozialstandards und Arbeitnehmerrechte wurden jedenfalls in der Vergangenheit systematisch abgeschliffen. Die wirtschaftlichen Grundfreiheiten sollten eben nicht mehr nur gegen die protektionistische Diskriminierung ausländischer Anbieter schützen, sondern sie richten sich gegen alle staatlichen und gewerkschaftlichen Maßnahmen, die die Ausübung dieser wirtschaftsliberalen Freiheiten in irgendeiner Weise belasten könnten. „Die EuGH-Urteile zu Laval und Viking sind die logische Anwendung dieser Prinzipien“, schreibt der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Fritz Scharpf .
An der Zurückweisung solcher durchaus aus dem Sozialstaatsprinzip ableitbaren Einwände durch die Karlsruher Richter zeigt sich, dass das Bundesverfassungsgericht voll und ganz auf die herrschende wirtschaftspolitische Lehre eingeschwenkt ist, und den sozialen und Arbeitnehmerrechten allenfalls eine nachgeordnete Bedeutung zuerkennt. Ganz auf der Linie des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, wird auch den europäischen Rechtssetzungsinstanzen auf dem Feld des Sozialen ein „weiter Gestaltungsspielraum“ eingeräumt und damit das Sozialstaatspostulat zur politischen Verfügungsmasse .
„Sozial ist was Arbeit schafft“ (egal zu welchem Preis) ist auch in Karlsruhe zum Leitsatz geworden.
Mit der „Verwirklichung im eigenen Kulturraum“ ist es nicht weit her
Diese wirtschaftsliberale Grundhaltung des Gerichts lässt sich auch an einem anderen Beispiel belegen:
Zur demokratischen Selbstbestimmung gehört nach Auffassung des Gerichts „die Möglichkeit, sich im eigenen Kulturraum verwirklichen zu können“ (Zeile 260f.) dazu rechnet das Gericht auch „Teilbereiche der Medienordnung“. Obwohl das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung auf den Kulturauftrag des Rundfunks hingewiesen hat und ihn als „Medium und Faktor“ der öffentlichen Meinungsbildung einer Zuordnung zu einer rein kommerziellen Dienstleistung entzogen hat, geht das Gericht an keiner Stelle des langen Urteils darauf ein, dass die Europäische Kommission den Rundfunk den Dienstleistungen zuordnet und deshalb etwa die Rundfunkgebühr als wettbewerbswidrige Beilhilfe zuordnet. Der Staatsvertrag zur Beschränkung der Internetpräsenz der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist nur Brüssel geschuldet. Wo war da die Möglichkeit sich im eigenen Kulturraum verwirklichen zu können?
Das Gericht beschränkt sich auf eine „Reservekompetenz“
Das Gericht erwähnt in seinem Urteil, dass die Verträge und die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben. Die Einschränkungen die das Bundesverfassungsgericht nun vorgenommen hat, beziehen sich nicht auf die bestehenden Verträge und auch nicht auf die Inhalte des Lissabon Vertrages – dieser selbst bleibt ja unbeanstandet. Dem EuGH steht es nach wie vor zu über „die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft…verbindlich zu entscheiden“. Diese Entscheidungen binden auch die Gerichte der Mitgliedsstaaten – also auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
Der europarechtliche Anwendungsvorrang lässt entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht in seinem Geltungsanspruch unberührt und drängt es nur in der Anwendung soweit zurück, wie es die Verträge erfordern und nach dem durch das Zustimmungsgesetz erteilten innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl auch erlauben (vgl.BVerfGE 73, 339 <375>). Gemeinschafts- und unionswidriges mitgliedstaatliches Recht wird lediglich soweit unanwendbar, wie es der entgegenstehende gemeinschafts- und unionsrechtliche Regelungsgehalt verlangt.
Diese im Alltag der Rechtsanwendung eher theoretische, weil in den Rechtswirkungen häufig nicht zu praktischen Unterschieden führende Konstruktion hat allerdings Konsequenzen für das Verhältnis der mitgliedstaatlichen zur europäischen Gerichtsbarkeit. Mitgliedstaatlichen Rechtsprechungsorganen mit verfassungsrechtlicher Funktion kann im Rahmen der ihnen übertragenen Zuständigkeit – dies ist jedenfalls der Standpunkt des Grundgesetzes – nicht die Verantwortung für die Grenzen ihrer verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung und die Wahrung der unverfügbaren Verfassungsidentität genommen werden. (Ziffer 335ff.)
Das heißt praktisch:
Das oberste deutsche Gericht kann somit künftig nur noch prüfen, ob künftige Schritte zu einer weiteren Integration eine demokratische Legitimation durch den Gesetzgeber haben und ob durch diese Schritte die „unverfügbare Verfassungsidentität“ genommen wurde.
Das Bundesverfassungsgericht hat seine ursprünglich angenommene generelle Zuständigkeit, den Vollzug von europäischem Gemeinschaftsrecht in Deutschland am Maßstab der Grundrechte der deutschen Verfassung zu prüfen (vgl.BVerfGE 37, 271 <283> ), zurückgestellt, und zwar im Vertrauen auf die entsprechende Aufgabenwahrnehmung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (vgl.BVerfGE 73, 339 <387>; bestätigt in BVerfGE 102, 147 <162 ff.> ). Die Endgültigkeit der Entscheidungen des Gerichtshofs konnte es mit Rücksicht auf die völkervertraglich abgeleitete Stellung der Gemeinschaftsorgane allerdings nur „grundsätzlich“ anerkennen (BVerfGE 73, 339 <367>). (Ziffer 337ff.).
Wenn sich also die europäischen Einrichtungen und Organe in den Grenzen der durch Verträge eingeräumten Hoheitsrechte halten und keine vertragsausdehnende Auslegung der Verträge durch den EuGH vorliegt, ist die Rechtsprechung des EuGH bindend.
Die „Reservekompetenz“ des Bundesverfassungsgerichts besteht also nicht mehr gegen den Lissabon Vertrag oder die früheren Verträge, sondern allenfalls noch dafür, dass europäisches Recht von europäischen Organen in grundgesetzwidriger Weise verletzt wird bzw. wenn in Zukunft die souveräne Staatlichkeit oder die „Voraussetzungen für eine lebendige Demokratie“ gefährdet sind. Das Gericht denkt bei diesen „Voraussetzungen für eine lebendige Demokratie“ im Wesentlichen aber nur an das Strafrecht, die „Justizielle Zusammenarbeit“, die Entscheidungen über staatliche Einnahmen und Ausgaben (also das Haushaltsrecht) oder den Einsatz der Bundeswehr – an den Kernbestand der Staatlichkeit also.
Das Bundesverfassungsgericht hat damit seine „Reservekompetenz“ zwar gerettet, aber eben nur noch als Nachtwächter über die Bewahrung einer zum souveränen Nachtwächterstaat zusammengeschrumpften Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Europäischen Union.
Gute Nacht „lebendige Demokratie“!