Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts erklärt das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes zur politischen Verfügungsmasse und der Bundespräsident pflichtet ihm sofort bei.
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ lautet Artikel 20 des Grundgesetzes. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier meint dagegen in der FAZ:
Die Grundlagen unserer Verfassung basieren auf dem Prinzip der Eigenverantwortung“ und „das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes belässt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum.
„Wir müssen ein neues Verhältnis finden in der Tat zwischen kollektiver Absicherung und Eigenverantwortung“, pflichtete ihm unser Bundespräsident im DLF bei.
Damit segnet unser oberster Repräsentant des Staates und unser oberster Richter letztlich alles ab, was an Abbau des Sozialstaates noch politisch vorangetrieben werden mag.
Dass das Bundesverfassungsgericht sich – wenn es sich nicht um die Verteidigung liberaler Grundrechte handelt – mehr und mehr zum Erfüllungsgehilfen konservativer Politik degradieren lässt, konnten wir schon bei der Entscheidung über die Zulassung von Neuwahlen im Sommer letzten Jahres oder bei seiner Entscheidung über die Abschaffung der Studiengebührenfreiheit beobachten. Ähnlich wie der Bundespräsident greift nun auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts – Mitglied der CSU und Mitautor des konservativen Grundgesetzkommentars des Nazi-Juristen Theodor Maunz, Roman Herzog und Rupert Scholz – offensiv in die Debatte um den Abbau des Sozialstaats ein. Die beiden obersten Verfassungsorgane bieten also Flankenschutz für die Politik des Sozialabbaus der Bundesregierung.
Nun muss man ehrlichkeitshalber konstatieren, dass es schon seit in Kraft treten des Grundgesetzes und mit der Restauration des konservativ-bürgerlichen Staatsverständnisses zu einer fortlaufenden „normativen Verdünnung der Sozialstaatlichkeit“ (Helmut Ridder) gekommen ist. Konservative Verfassungsjuristen sehen darin gar nur noch das „Verbot einer eindeutig unsozialen Politik.“ (Maunz-Dürig-Herzog-Scholz). Die gegenwärtige eindeutig unsoziale Politik meinen Papier und Köhler damit jedenfalls wohl nicht.
Anders als nach dem skandinavischen Wohlfahrtsstaatsverständnis hat der Sozialstaat in Deutschland nie ein subjektives (einklagbares) Recht gewährt. Aber immerhin proklamiert das Grundgesetz sowohl den „demokratischen“ als auch den „sozialen“ Bundesstaat gleichgeordnet in Artikel 20 nebeneinander. In der früheren verfassungsrechtlichen Debatte hatte man einmal eine „gleichschrittliche Entfaltung“ (Helmut Ridder) beider Verfassungsprinzipien gefordert. Aber das ist lange her. Man stelle sich nur einmal vor, irgendjemand würde erklären, auch bei der demokratischen Ausgestaltung habe der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum und man müsse das Verhältnis zwischen Demokratie und Eigenverantwortung neu justieren. Wir würden ihn vermutlich als jemanden bezeichnen, der unsere Demokratie in Frage stellt.
Nicht so beim Sozialstaatsprinzip. Es wird zur Verfügungsmasse der Politik erklärt: „Es ist durchaus möglich, das Verhältnis von Solidarität auf der einen und von Eigenverantwortung und Subsidiarität auf der anderen Seite neu zu justieren. Der Gesetzgeber kann den Sozialstaat neuen Gegebenheiten anpassen und gegebenenfalls auch zurückbauen. Er muss dabei die Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien beachten. Es gibt aber kein allgemeines verfassungsrechtliches Verbot eines Rückbaus“ meint Papier.
Und der Bundespräsident pflichtet ihm bei: „In der Tat denke ich, dass das Grundgesetz ja nicht im Einzelnen vorschreibt, wie bestimmte soziale Ausgleichsmaßnahmen zu definieren sind.“
Köhler hält selbstredend das „Sozialstaatsprinzip“ hoch. Man hätte angesichts eines immer größeren Teils der Bevölkerung, der in Armut fällt, nur mal gerne in einem Halbsatz erfahren, wo oder ab wann dieses Prinzip für ihn überhaupt noch greift.
Papier ist da schon einen Schritt weiter:
„Der Staat ist verpflichtet, dem mittellosen Bürger die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Allerdings ist es von Verfassungs wegen nicht ausgeschlossen, dass der Staat eine nicht beitragsfinanzierte Sozialleistung davon abhängig macht, dass der einzelne nicht aus eigener Kraft imstande ist, für sich selbst zu sorgen.“
Wenn er aus eigener Kraft im Stande wäre, für sich selbst zu sorgen, es aber – aus welchen Gründen auch immer – dennoch nicht schafft, dann ist es also aus mit der Menschenwürde, dann ist Schluss mit der „Würde es Menschen“ und Schluss mit dem Sozialstaat, dann ist er schlicht rechtlos und hat kein menschenwürdiges Dasein mehr verdient. Für ihn wird das Grundgesetz außer Kraft gesetzt. Es gibt schon furchtbare Juristen.