Hinweise der Woche
Am Wochenende präsentieren wir Ihnen einen Überblick über die lohnenswertesten Beiträge, die wir im Laufe der vergangenen Woche in unseren Hinweisen des Tages für Sie gesammelt haben. Nehmen Sie sich ruhig auch die Zeit, unsere werktägliche Auswahl der Hinweise des Tages anzuschauen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (CW)
Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:
- Diesel-Gipfel
- Freundliche Industrie fördert Parteien durch Spenden
- Der finale Sieg über den IS in Mossul? Noch lange nicht!
- Die humanitäre Katastrophe im Jemen: Verdrängt und nicht wichtig genug
- Flüchtlingspolitik am Nullpunkt: die Orbanisierung Europas
- Mali: Debatte
- Zypries droht den USA
- Griechenland: Verordnete Verarmung
- EZB-Niedrigzinspolitik: Es gibt kein Recht auf Rendite – auch nicht für deutsche Sparer
- Bundeskabinett verabschiedet Sozialbericht 2017
- Arbeitsmarktforscher: „Viele Jobs sind schlechter bezahlt“
- Neustart in der Arbeitsmarktpolitik ist notwendig
Vorbemerkung: Ursprünglich hatten wir geplant, in unserer Wochenübersicht auch auf die lohnendsten redaktionellen Beiträge der NachDenkSeiten zu verweisen. Wir haben jedoch schnell festgestellt, dass eine dafür nötige Vorauswahl immer damit verbunden ist, Ihnen wichtige Beiträge vorzuenthalten. Daher möchten wir Ihnen raten, am Wochenende doch einfach die Zeit zu nutzen, um sich unsere Beiträge der letzten Wochen (noch einmal) anzuschauen. Vielleicht finden Sie dabei ja noch den einen oder anderen Artikel, den es sich zu lesen lohnt. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.
- Diesel-Gipfel
- Sieg der Autolobby
Der Dieselgipfel hat nochmal vor Augen geführt, was Sache ist: Deutschland hat ein massives Lobbyismus-Problem. Da haben die Autokonzerne jahrelang Verbraucher und Öffentlichkeit betrogen und belogen, gegen Gesetze verstoßen, die Luft verdreckt und Menschen krank gemacht – und die Bundesregierung lädt die Unternehmer zum freundlichen Gespräch. „Für die einen gelten Gesetze, für die anderen werden Gipfel veranstaltet“, urteilte „Die Zeit“ treffend.
Angesichts der engen Verflechtungen zwischen Politik und Industrie ist das Resultat des „Dieselgipfels“ ebenso erwartbar wie beschämend: Die Bundesregierung lässt die Autokonzerne mal wieder viel zu billig davonkommen. Statt teurer technischer Nachrüstungen soll es lediglich Software-Updates geben. Die kosten die Autobauer schlappe 50 Euro pro Wagen. Klar ist: Die dadurch erwartete Minderung des Stickoxidausstoßes um 25 bis 30 Prozent reicht nicht, um die Belastung in Städten wie München, Stuttgart oder Hamburg ausreichend zu senken. Aufatmen dagegen bei den Börsianern: Die Aktienkurse von BMW, Daimler und VW legten nach dem Gipfel wieder zu.
Doch es regt sich Widerstand. In Umfragen befürworten drei Viertel der Deutschen einen härteren Kurs gegen die Autoindustrie. Auch viele Journalisten sind entsetzt. Das Handelsblatt kritisiert das „Doppelkartell“ von Autoindustrie und Politik, Spiegel Online wirft der Politik vor, als Kontrollorgan der Industrie zu versagen und die Süddeutsche Zeitung spricht von „der Arroganz der Macht“. (…)
Unsere Botschaft: Angesichts der starken personellen und finanziellen Verflechtungen zwischen Politik und Autoindustrie ist auf eine Einsicht bei den Verantwortlichen nicht zu setzen. Nur öffentlicher Druck wird sie bewegen.
Quelle: LobbyControldazu: So verflochten sind Autoindustrie und Politik
Betrogen hat die Industrie. Es waren die deutschen Autokonzerne, die über Jahre ihre unerlaubt hohen Abgaswerte durch manipulierte Software vertuscht und sich dabei wohl auch unerlaubt abgesprochen hat. Möglich ist dieser Skandal aber nur, weil die Politik den Herstellern seit vielen Jahren den Rücken freihält. Die Bundesregierung verhinderte in Brüssel strengere Grenzwerte und schärfere Kontrollen. Und auch in der Aufarbeitung des Diesel-Skandals zeigen deutsche Behörden bei weitem nicht die Härte wie etwa in Amerika.
Das liegt womöglich auch daran, dass Berlin und die Konzerne personell häufig eng verwoben sind. Immer wieder wechseln Spitzenpolitiker und Regierungsbeamte auf Positionen in der Autolobby. Und manchen gelingt nach einigen gut bezahlten Jahren in der Industrie gar der Sprung zurück in ein Regierungsamt.
Quelle: Süddeutsche - Mit Abgas in den Abgrund
Die Autohersteller sind angeschlagen, ihre Diesel-Verkäufe sinken dramatisch. Mit dem Gipfel sollte hektisch Vertrauen zurückgewonnen werden, doch das Gegenteil ist der Fall. So ist die Branche dem Untergang geweiht.
Die „Auto Bild“ galt bislang nicht als Speerspitze umweltbewusster Mobilität. Sie war im Gegenteil ein Refugium gusseiserner Auto-Ideale: Beschleunigung, Straßenlage, das zählte. Vernunft war vor allem gefragt, wenn es um das Ausmessen des Kofferraumvolumens ging. Anfang Juli hat die Fachzeitschrift einen Sieben-Punkte-Plan veröffentlicht mit Vorschlägen, wie man angesichts der Dieselkrise das Vertrauen der Kunden zurückgewinnen und die deutsche Autobranche retten könne.
Dieser Plan der PS-Postille hatte mehr Substanz als alle Maßnahmen, die Autohersteller und Politik auf dem sogenannten Dieselgipfel beschlossen haben. Neben verschiedenen sinnvollen Forderungen wie der Schaffung einer industrieunabhängigen Kontrollbehörde (statt des industrienahen KBA) und einer Abschaffung der Diesel-Subventionen beinhaltete der Plan im Kern, was Experten schon länger fordern: eine echte Umrüstung aller Euro-5-Diesel mit einem sogenannten SCR-System, einer Abgasreinigung mit Harnstoffeinspritzung. Dieses System ist erhältlich, es ist getestet, es senkt die Stickoxidemissionen (Nox) auch im Realbetrieb auf Euro-6-Norm-Werte ab. Das einzige Problem: Es ist teuer.
Deutlich teurer zumindest als die nun von Herstellern und Politik beim „Nationalen Forum Diesel“ ausgehandelte „Umrüstung“. Wobei „Umrüstung“ für das, was die Hersteller dort anbieten, ein unzutreffender Begriff ist, der schleunigst aus dem Sprachgebrauch getilgt werden sollte. „Umrüstung“ klingt nach Schraubenschlüssel, dem Einbau von Teilen und damit verbundenen Kosten, aber genau die scheuen die Hersteller. Millionen von Pkw wollen sie heilen, indem sie ein Software-Update aufspielen, an dessen Wirkung Experten zweifeln. Im IT-Bereich würde so was höchstens „Patch“ heißen. Flickwerk.
Quelle: Spiegel Online - Sondersitzung des Verkehrsausschusses ist nötig
„‘Weiter so‘ heißt die Devise der Bundesregierung nach dem Gespräch mit der Automobilindustrie. Verkehrsminister Dobrindt bleibt das Sprachrohr der Industrie, Umweltministerin Hendricks akzeptiert das – zwar murrend, aber ohne Konsequenzen. Die von Schadstoffen geplagten Bürger und die geprellten Autofahrer bleiben auf ihrem Schaden sitzen“, erklärt Herbert Behrens, Verkehrsexperte der Fraktion DIE LINKE und Leiter des früheren Abgas-Untersuchungsausschusses, mit Blick auf den Diesel-Gipfel. Behrens weiter:
„Der Gipfel diente ausschließlich dem Ziel, Fahrverbote und die damit verbundenen Nachteile für die Automobilkonzerne zu verhindern. Minister sind nicht dazu da, die Vorgaben der Automobilindustrie umzusetzen. Wer sein Amt so versteht, der muss seinen Sessel räumen. Die Informierung ausschließlich der Obleute der Ausschüsse für Wirtschaft, Umwelt und Verkehr am heutigen Donnerstag reicht nicht aus. Eine Sondersitzung des Verkehrsausschusses ist nötig: Fragen zu Gewährleistungsansprüchen, Kontrollen der Abgaswerte nach einem Software-Update, die Dauer der Verfahren und den Umgang mit zu erwartenden Fahrverboten sind ungeklärt. Ich unterstütze die Forderung des Bundesverbandes Verbraucherzentralen nach einem weiteren Auto-Gipfel, wo unter anderem Fragen von Entschädigungen und Schutz der Verbraucher auf die Tagesordnung gesetzt werden.“
Quelle: Linksfraktion
- Sieg der Autolobby
- Freundliche Industrie fördert Parteien durch Spenden
Die Auswertung aller Großspenden an Parteien seit Beginn der Wahlperiode zeigt: Mehr als 50% stammen von BMW, Daimler und den Verbänden der Metall- und Elektroindustrie. Auf treue Einzelspender kann sich besonders die CDU verlassen, Platz 2 nimmt die FDP ein. Doch die Einzelspenden sind nur ein Bruchteil der Spenden, die den Parteien insgesamt zufließen. Die Bundestagsverwaltung macht Empfehlungen zur Verbesserung der Transparenz dieser Finanzierung. Die Umsetzung steht jedoch noch aus …
Ein letztes Mal vor der Bundestagswahl hat die Bundestagsverwaltung die Liste der Großspenden vorgelegt, die Parteien im Zeitraum von Januar bis Juli diesen Jahres erhalten haben. Nach dem Parteienfinanzierungsgesetz sind sie verpflichtet, alle Einzelspenden von 50.000€ oder mehr unverzüglich bei der Bundestagsverwaltung anzugeben. Und die Bundestagsverwaltung veröffentlicht diese Angaben lückenlos seit 2002 [1]. Dies gab die Möglichkeit, die Spenden auszuwerten, die seit 2013, also während der zu Ende gehenden 18. Wahlperiode, aufgelaufen sind.
Quelle: Civesdazu: (Auto-) Konzerne und Verbände kaufen sich Schwarz-Gelb
Zu den im Jahr 2017 von Konzernen und Verbänden insbesondere an die CDU (1,9 Millionen Euro) und die FDP (1,5 Millionen Euro) gezahlten Großspenden erklärt der Bundesgeschäftsführer der Partei DIE LINKE, Matthias Höhn:
Konzerne und Lobbyverbände versuchen sich im Bundestagswahljahr die ihnen genehme Koalition von Union und FDP zusammenzukaufen. Mit insgesamt 3,4 Millionen Euro werden Konservative und Liberale von Konzernen und Milliardären hofiert. Mit der Annahme dieser beträchtlichen Summen begeben sich CDU und FDP in Abhängigkeiten moralischer und struktureller Natur. Denn auch in der Politik wollen die, die das Orchester bezahlen, schließlich auch bestimmen, welche Musik gespielt wird.
Besonders abstrus ist die Bereitschaft von CDU, FDP und SPD, inmitten des Diesel-Skandals Riesensummen von Autokonzernen und Metallunternehmensverbänden in Empfang zu nehmen. Die BMW-Großaktionärsfamilie Quandt zahlte 200 000 Euro, die jeweils zur Hälfte an die CDU und FDP gingen. Daimler schrieb einen Scheck über zwei Mal 100 000 Euro für SPD und CDU aus.
Quelle: Die Linke - Der finale Sieg über den IS in Mossul? Noch lange nicht!
Der IS wird nun zu seinen Wurzeln des Guerillakriegs zurückkehren. (…) Am 17. Oktober 2016 begannen in Mossul blutigste Kämpfe, die mehr als acht Monate andauern sollten und die meisten Viertel der Stadt in ein Trümmerfeld verwandelten. Am 10. Juli schließlich verkündete der irakische Premierminister Haider al-Abadi den Sieg über den Islamischen Staat (IS).
Nach dem völligen Kollaps der irakischen Armee sowie der irakischen Polizeikräfte und nach deren Flucht am 10. Juni 2014 konnte der IS innerhalb von acht Stunden Mossul übernehmen, mit minimalem Aufwand an Kombattanten und Ausrüstung.
Die Eroberung der Stadt führte zu zwei wichtigen Entwicklungen. Erstens erließ der höchste schiitische Kleriker des Iraks, Großayatollah Ali al-Sistani, am 13. Juni 2014 eine heilige Fatwa – „Jihad al-Kafai“ –, die zur Unterstützung von Armee und Polizeikräften die Gründung einer Schiiten-Miliz forderte. Und zweitens wurde im September 2014 die von den USA geführte Internationale Anti-ISIS Allianz ins Leben gerufen mit dem Ziel, den IS aus Mossul und anderen Städten zu vertreiben, die er im Irak und Syrien kontrolliert.
Sichtlich glücklich über die Niederlage des IS verkündete Präsident Abadi Ende Juni und bei seinem Besuch in Mossul diese Woche das „Ende der Terroristen vom IS“ und versicherte, dass die irakischen Streitkräfte den IS auch weiter bis zum letzten Mitglied im Land verfolgen werden.
Die IS-Bombardierung der al-Nuri-Moschee und des al-Hadba-Minaretts, so sagte er, seien „vielmehr das Einläuten des Endes des kleinen und nichtigen IS-Staats“.
Die Realität zeigt jedoch, wie unglaubwürdig Abadis Aussagen sind. Die Niederlage und Vertreibung des IS aus Mossul bedeutet noch lange nicht das Ende des IS. Angesichts des politischen Tauziehens im Lande scheint es viel zu früh für Abadi, davon zu reden.
Quelle: Justice Now!dazu: A Shameful Silence: Where is the Outrage Over the Slaughter of Civilians in Mosul?
The catastrophic number of civilian casualties in Mosul is receiving little attention internationally from politicians and journalists. This is in sharp contrast to the outrage expressed worldwide over the bombardment of east Aleppo by Syrian government and Russian forces at the end of 2016. Hoshyar Zebari, the Kurdish leader and former Iraqi finance and foreign minister, told me in an interview last week: “Kurdish intelligence believes that over 40,000 civilians have been killed as a result of massive firepower used against them, especially by the Federal Police, air strikes and Isis itself.” (…) The US-dominated coalition said that it tried to avoid carrying out air strikes where civilians were present, and its planes dropped leaflets telling them to move away from Isis positions. People on the ground in Mosul regarded this as a cruel joke, because they had nowhere else to go to and Isis would shoot them if they tried to run away.
Quelle: Patrick Cockburn in Counterpunch - Die humanitäre Katastrophe im Jemen: Verdrängt und nicht wichtig genug
Im Jemen entfalte sich lautlos eine menschliche Tragödie, die außerhalb des Landes kaum auf Interesse stoße, kommentiert Jürgen Stryjak im Dlf. An Krieg und Elend seien zwar alle Konfliktparteien schuld, aber Saudi-Arabien spielte eine besondere Rolle. Denn mit dem Königreich bombardiere eines der reichsten Länder der Welt eines der ärmsten.
Quelle: DeutschlandfunkAnmerkung JK.: Einer der wichtigsten Verbündeten der USA, die islamische Diktatur Saudi-Arabien, ist wesentlicher Antreiber des Krieges im Jemen. Dieser wird, bis auf Ausnahmen, wie obigen Kommentar, durch die „Qualitätsmedien“ einfach totgeschwiegen. Man vergleiche dagegen etwa die aktuelle Berichterstattung über die Lage in Venezuela und deren Tenor, womit sich zweifellos publizistisch ein Regime Change ankündigt oder man stelle sich vor im Jemen wäre Russland engagiert, die Meldungen würden sich überschlagen.
- Flüchtlingspolitik am Nullpunkt: die Orbanisierung Europas
Gibt es noch ein Tabu in der Europäischen Flüchtlingspolitik? Unterhalb vom »Schießbefehl« an den Grenzen oder der Forderung, Flüchtlingsboote direkt im Mittelmeer zu versenken, scheint fast jeder Vorschlag diskussionswürdig.
Die wenigen Momente der Selbstkritik, etwa nach dem 360-fachen Tod vor Lampedusa im Oktober 2013, sind passe. Es gibt keine offizielle Schweigeminute mehr für ertrunkene Fluchtlinge. Stattdessen: Flüchtlingsdeal mit Erdogan (Marz 2016), mit dem zerfallenen Bürgerkriegsland Libyen (Februar 2017), das EU-Abkommen mit Afghanistan (Oktober 2016), die Endlosdebatte über »Lager in Nordafrika«, »Migrationspartnerschaften« mit diktatorischen Regimen. Es droht die Orbanisierung Europas.
Seit Lampedusa starben über 13.000 Menschen im Mittelmeer. Ohne den unermüdlichen Einsatz von zivilen Seenotrettungsorganisationen waren es noch viel mehr. Ihr Anteil an der Seenotrettung stieg von fünf Prozent im Jahre 2015 auf 40 Prozent im Jahr 2016. Dieser Einsatz ist den Festungsbauern jedoch zunehmend ein Dorn im Auge. Osterreichs Außenminister Kurz hetzt am 24. Marz 2017: »Der NGO-Wahnsinn muss beendet werden«. Die freiwilligen Seenotretter*innen würden sich zu Partnern der Schlepperbanden machen. Der Frontex-Chef Leggeri erhob ähnliche Vorwürfe. Derartige Äußerungen sind alarmierend, da die Hilfsorganisationen zudem die einzigen sind, die auf hoher See das Handeln der EU und ihrer »neuen Partner« zumindest ansatzweise überwachen können.
Quelle: Pro Asyldazu: Flüchtlingsrettung: „Italien wird mit der Verantwortung allein gelassen“
Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen, hat das Verhalten der europäischen Staaten in puncto Seenotrettung im Mittelmeer kritisiert. Das Problem sei, dass Italien mit dieser Verantwortung alleingelassen werde. „Die übrigen Staaten können sich dieser Verantwortung nicht entziehen“, sagte Westphal im Dlf. […]
Büüsker: Finden Sie das denn grundsätzlich nachvollziehbar, dass Italien die Einsätze der Hilfsorganisationen reglementieren will?
Westphal: Italien hat in punkto Seenotrettung wirklich extrem viel geleistet. Die italienische Küstenwache hat sehr viele Menschenleben selbst retten können. Die Koordinationsstelle, die Leitstelle ist wirklich wesentlich in der Koordination dieser Einsätze. Aber das Problem ist ja, dass Italien mit dieser Verantwortung weitestgehend alleingelassen wird vom Rest der Europäischen Union, von den anderen Mitgliedsstaaten. Dass die Europäische Union und ihre Staaten sich weigert, die ja eigentlich staatliche Verantwortung Seenotrettung durchzuführen, endlich wahrzunehmen und stattdessen, weil das eben nicht geschah, sind wir und andere Nichtregierungsorganisationen dort angetreten, um das zu tun. Aber die Staaten können sich dieser Verantwortung nicht entziehen und sozusagen uns aufzufordern, transparent zu sein über das, was wir tun und wie wir das tun, ist absolut in Ordnung. Aber das ändert nichts daran, dass wir überhaupt nicht dort präsent sein sollten, sondern dass das die Verantwortung der Staaten ist, dort dafür zu sorgen, dass nicht Tausende von Menschen ertrinken.
Quelle: Deutschlandfunk - Mali: Debatte
In der ZDF-Talkshow Dunja Hayali wurde ausführlich über den Mali-Einsatz diskutiert – und mehr natürlich noch über „Ausrüstungsmängel“ und „fehlende Anerkennung“ der Soldaten. Die Moderatorin war selbst zuvor im Camp Castor, wie ein relativ ausführlicher Bericht zur Einstimmung darstellt. Auch hier sieht man natürlich deutsche Soldaten mit Kindern, eine Sanitätssoldatin, einen Transporthubschrauber und die Drohne Luna, zu der dann ausdrücklich betont wird, dass sie keine Waffen trage, da „Kampfeinsätze“ ja nicht zum Auftrag gehörten. Vom Kampfhubschrauber Tiger war dann wegen des kürzlichen Absturzes doch die Rede – vom Kämpfen aber natürlich nicht.
Ursprünglich sollte auch die Verteidigungsministerin an der Diskussion teilnehmen, hat sich jedoch wohl wegen einer Fieberattacke zurückgezogen. Vertreten wurde sie von einer Soldatin, die sich vehement für die Auslandseinsätze und eine entsprechende Aufrüstung aussprach.
Deutlich wurde in der Debatte insgesamt, dass das Thema Flucht und Verhinderung von Flucht sich mittlerweile zu einem der wichtigsten Argumente der Befürworter_innen von Auslandseinsätzen geworden ist.
Quelle: Informationsstelle Militarisierung e.V.Anmerkung Christian Reimann: Der Wahrheitsgehalt für die offizielle Begründung des Bundeswehr-Einsatzes – Flucht und Verhinderung von Flucht – dürfte bei Null liegen. Viel wichtiger dürften ökonomische Interessen sein, denn Mali gilt als rohstoffreich. Anfang 2013 schrieb „SPON“ u.a.:
„So liegen rund um Nordmali viele der von Frankreich ausgebeuteten Uranminen, die das Land dringend für seine Atomkraftwerke braucht. Der staatliche französische Atomkonzern Areva fördert Uran in Malis Nachbarland Niger, das inzwischen der größte Uranproduzent des Kontinents ist. Auch in Mali selbst wurde Uran gefunden. Die atomare Unabhängigkeit ist in Frankreich mehr oder minder eine Frage der Staatsräson und ganz oben auf der Agenda jeder Regierung. Entsprechend kam in den vergangenen Tagen bei Kritikern der französischen Intervention schnell der Verdacht auf, es gehe Paris nicht allein um die Bekämpfung von Terroristen. Das militärische Engagement Frankreichs diene „auch der Sicherung seiner eigenen Energieversorgung mit preiswertem Uran aus Malis Nachbarland Niger“, erklärte etwa die Gesellschaft für bedrohte Völker.“ - Zypries droht den USA
Die US-Sanktionen gegen Russland sorgen nicht nur zwischen den Regierungen in Moskau und Washington für Streit, auch in Berlin ist man verärgert. Wirtschaftsministerin Zypries wirft den USA „völkerrechtswidriges“ Verhalten vor und droht mit Gegenmaßnahmen.
Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries hat den USA wegen ihrer schärferen Russland-Sanktionen, die auch deutsche Firmen treffen könnten, mit Gegenmaßnahmen gedroht. Sie nannte die Strafmaßnahmen wegen ihrer Wirkung auch auf nicht-amerikanische Firmen „schlicht und ergreifend völkerrechtswidrig“. „Die Amerikaner können nicht deutsche Unternehmen bestrafen, weil die sich in einem anderen Land wirtschaftlich betätigen“, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Quelle: Tagesschaudazu: „Jetzt klare Kante gegenüber Washington“
Wirtschaftsministerin Zypries hält die US-Sanktionen gegen Russland für inakzeptabel und ruft Washington zu Verhandlungen auf. Das wird kaum Wirkung zeigen. Berlin muss Gegenmaßnahmen ergreifen. Ein Gastbeitrag.
Die neuen Sanktionen der USA gegen Russland zielen vor allem auf europäische und deutsche Unternehmen. Gerade die Gaspipelines und die geplante Leitung Nord Stream 2 will man damit treffen. Statt mit russischem Gas soll Europa künftig vorrangig mit teurem und dem ökologisch katastrophalen Fracking-Gas aus den USA versorgt werden. Die US-Sanktionen sind daher nichts weiter als die Anbahnung eines Riesengeschäfts für die US-Fracking-Konzerne.
Mit dieser Attacke, die einen Bruch internationalen Rechts bedeutet, müssen sich die USA den Vorwurf gefallen lassen, auf diplomatischem Parkett wie ein Schurkenstaat zum billigen Vorteil der eigenen Gasindustrie zu agieren. Die Bundesregierung ist gefordert, ihrer richtigen Verurteilung des Völkerrechtsbruchs jetzt auch Taten folgen zu lassen, um Gegendruck zu entfalten. Dies kann nicht allein der EU-Kommission überlassen werden.
Den ersten politischen Kollateralschaden in Deutschland gibt es im Übrigen auch schon, denn es kommt einem politischen Bankrott der Grünen gleich, dass sich führende Grünen-Politiker hinter diese Profitmaximierung der Umweltzerstörer stellen und die US-Sanktionen unterstützen. Wer sich de facto für die Interessen der US-Frackingindustrie einsetzt, verspielt jede Glaubwürdigkeit im Hinblick auf einen ökologischen Politikwechsel in Deutschland.
Quelle: Sahra Wagenknecht im Handelsblatt - Griechenland: Verordnete Verarmung
Während Angela Merkel nach außen – und im Wahlkampf – die Europäische Union zur Schicksalsfrage erklärt, nehmen im Innern der EU die Auseinandersetzungen wieder zu. Im Brennpunkt steht dabei erneut der Umgang mit Griechenland. Die Koalition um Ministerpräsident Alexis Tsipras stimmte am 19. Mai für ein weiteres Sparpaket, das als Voraussetzung für neue „Hilfen“ von Griechenlands Gläubigern gefordert wurde. Athen ist darauf angewiesen, weil Rückzahlungen fällig werden, die aus eigener Kraft nicht gestemmt werden können. Dagegen gab es massive Proteste vor dem griechischen Parlament – Ausdruck einer zunehmend verzweifelten Gesellschaft.
Um die Absurdität der bisherigen „Rettungsversuche“ zu verstehen, hilft zunächst ein Blick auf die bloßen Summen, die bisher zwischen Gläubigern und Griechenland geflossen sind: Addiert man alle drei bisherigen Hilfspakete, wurde Griechenland ein Kreditrahmen von 368,6 Mrd. Euro gewährt – eine gewaltige Summe, gemessen am griechischen BIP von 176 Mrd. Euro im Jahr 2015. Allerdings wurde dieser Kreditrahmen bis 2015 nur im Umfang von 215,9 Mrd. Euro ausgeschöpft, und davon sind weniger als fünf Prozent, nämlich 10,8 Mrd. Euro, wirklich in den griechischen Staatshaushalt geflossen – wohlgemerkt als rückzahlbare, verzinsliche Kredite. Der weit überwiegende Teil floss entweder in Zinszahlungen, in die Schuldentilgung bzw. in die Umschuldung – das heißt in einen Risikotransfer von privaten Banken hin zu öffentlichen Trägern (EU, EZB, IWF, ESM) – oder, jedenfalls teilweise, in die Finanzierung von Anreizen für private Gläubiger, sich am Umschuldungsprogramm zu beteiligen.
Umgekehrt hat Griechenland im Zeitraum von 2010 bis 2015 aber 52,3 Mrd. Euro an Zinsen an seine Gläubiger gezahlt, vor allem an EU, EZB und IWF. Bis 2018, wenn das dritte Programm ausläuft, werden es sogar 70,1 Mrd. Euro sein. Der Saldo des Kapitalflusses war und ist für Griechenland also negativ – trotz aller „Hilfen“. Damit wird deutlich, dass es sich letztendlich um die Ausbeutung des griechischen Staates handelt: Diese 70,1 Mrd. Euro Zinsen entsprechen etwa 40 Prozent des gesamten griechischen BIP des Jahres 2015.
Quelle: Egbert Scheunemann in den Blättern für deutsche und internationale PolitikAnmerkung JK: Ein exzellenter Beitrag, der den völligen Irrsinn des deutschen Austeritätsdiktates gegen Griechenland verdeutlicht und der eine möglichst breite Verbreitung verdient. Der Beitrag entlarvt auch, um was bei der Privatisierung öffentlicher Infrastruktur geht: nicht darum, den Bürgern öffentliche Dienstleistungen effizient und kostengünstig anzubieten, sondern ausschließlich darum, privaten Investoren neue Renditemöglichkeiten zu eröffnen. Also letztlich darum, die Taschen der Reichen und Superreichen noch praller zu füllen. Zugleich handelt es sich bei Griechenland um das neoliberale Freiluftlabor der EU. Man testet in Griechenland offenbar aus, wie weit sich der Wunschtraum der Neoliberalen, den Staat soweit wie möglich zu zerstören, realisieren lässt.
dazu: Griechenlands krankes Gesundheitssystem
Das griechische Gesundheitssystem steckt in der Krise: Tausende medizinische Fachkräfte haben das Land verlassen, die Ausgaben für Gesundheit wurden halbiert und drei Millionen Griechen sind nicht krankenversichert. Sie fühlen sich vom Staat im Stich gelassen.
Ein Lichtblick für krisengebeutelte Griechen ohne Versicherungsschutz sind die Sozialkliniken des Landes. Eine davon ist das Ellinikó im gleichnamigen Athener Stadtteil. Die arte-Reportage von Tanja Dammertz zeigt den ehrenamtlichen Einsatz der Helfer im Ringen um die Gesundheitsversorgung für die sozial Schwächsten des Landes.
Quelle: Spiegel.TVund: Widerstand in Weiß
Seit Beginn der Krise ist das griechische Gesundheitssystem in katastrophalem Zustand. Hunderte Ärzte und Freiwillige wollen das ändern: mit solidarischen Kliniken, kostenlosen Behandlungen – und Druck auf die Politik.
Quelle: SPON - EZB-Niedrigzinspolitik: Es gibt kein Recht auf Rendite – auch nicht für deutsche Sparer
Ohne die Intervention der EZB wäre der Euro längst Geschichte. Das sollten alle, die dauernd über die niedrigen Zinsen meckern, nie vergessen.
Es gibt nur sehr wenige Menschen, die mit einem einzigen Satz Geschichte geschrieben haben. Einer von ihnen ist Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank. „Die EZB ist bereit, zu tun, was immer nötig ist, um den Euro zu bewahren“, erklärte er am 26. Juli 2012 – und bewahrte Europa so vor einer wirtschaftlichen Katastrophe.
Von einer Minute zur anderen überbrückte Draghi damals den zentralen Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion. Deren Mitgliedsländer sind zwar wirtschaftlich und monetär auf Gedeih und Verderb miteinander verflochten. Aber sie agieren nicht als gemeinsamer Staat und stehen nicht füreinander ein. Darum drohte den wirtschaftlich schwächeren Mittelmeerländern der Staatsbankrott. Der Zerfall der Euro-Zone wäre die unvermeidliche Konsequenz gewesen. Dagegen setzte Draghi die ganze Macht einer Notenbank: Ausgestattet mit dem Recht zur Geldschöpfung stellte er klar, dass keine Staatsanleihe in Euroland unbezahlt ausfalle, weil im Notfall die Zentralbank dafür einsteht. Allein die Ankündigung reichte, um die Zinsen zur Erneuerung der auslaufenden Anleihen in den Krisenstaaten wieder auf Normalniveau zu senken. Gegen die Notenbank sind alle Spekulanten machtlos.
Quelle: Harald Schumann im Tagesspiegel - Bundeskabinett verabschiedet Sozialbericht 2017
Die zentralen Ergebnisse für 2016 sind:- Der Sozialschutz ist auf einem soliden Niveau: Für Sozialleistungen wurden insgesamt 918 Mrd. Euro ausgegeben. Gegenüber 2015 stiegen die Leistungen um rund 33 Mrd. Euro bzw. rund. 3,7 %.
- Der Zuwachs fällt etwas höher aus als das Wirtschaftswachstum. Die Sozialleistungsquote – das Verhältnis der Leistungen zum BIP – ist mit 29,3 % gegenüber dem Vorjahr (29,2 %) leicht gewachsen.
- Im Mittelpunkt steht der Schutz vor den zentralen Lebensrisiken: Mehr als 80 % der Sozialleistungen bzw. gut 720 Mrd. Euro dienten zur Absicherung der Risiken Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Invalidität, Alter und Tod.
- Der Sozialschutz in Deutschland ist auch im europäischen Vergleich angemessen: Deutschland lag 2014 (letzte verfügbare Daten) auf dem neunten Platz der EU-28 Länder mit einer Sozialleistungsquote leicht über dem EU-Durchschnitt. Deutlich höhere Sozialleistungsquoten wiesen z. B. Frankreich oder Dänemark auf.
Nach den Ergebnissen einer Modellrechnung zur Entwicklung der Sozialleistungen bis 2021 wird die Sozialleistungsquote im Jahr 2017 um 0,5 Prozentpunkte auf 29,8 % steigen. Dieser Anstieg ist Folge von gesetzlich geregelten Leistungsverbesserungen in verschiedenen Bereichen der gesetzlichen Krankenversicherung, mit denen eine gut erreichbare Versorgung der Patientinnen und Patienten auf hohem Niveau gestärkt wird. Dazu kommt die Neuregelung in der Pflegeversicherung durch das zweite Pflegestärkungsgesetz 2016, mit der ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt wurde. Zudem hat die hohe Rentenanpassung zum 1. Juli 2016 zum Anstieg der Sozialleistungen beigetragen, da sie 2017 als volles Jahr wirkt.
Quelle: BMASdazu: Bundesregierung versagt bei Armutsbekämpfung
„Die hohen Sozialausgaben belegen, dass sowohl die sozialen Sicherungssysteme als auch Arbeit in vielen Fällen nicht mehr existenzsichernd sind. An den Sozialhilfeausgaben kann man klar erkennen, dass die soziale Sicherung für immer mehr Menschen nicht mehr greift. Vorgelagerte Systeme wie die Renten- oder die Pflegeversicherung sind nicht mehr in der Lage, soziale Sicherheit zu gewährleisten, so dass die Betroffenen eine Sozialhilfeleistung in Anspruch nehmen müssen. Immer noch 1,1 Millionen Beschäftigte beziehen ergänzende Hartz IV-Leistungen, da sie von ihrer Arbeit nicht leben können. Millionen Menschen leben in Armut, daran hat diese Bundesregierung nichts geändert. Bei der Armutsbekämpfung hat sie versagt“, erklärt die stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Sabine Zimmermann, zum aktuellen Sozialbericht. Sabine Zimmermann weiter:
„Ein Kurswechsel in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist dringend notwendig. Arbeit muss wieder existenzsichernd werden. Dazu ist unter anderem der Mindestlohn auf zwölf Euro die Stunde zu erhöhen, systematische Niedriglohnbeschäftigung wie Leiharbeit muss abgeschafft werden. Vor allem muss auch der Altersarmut endlich der Kampf angesagt werden. Die gesetzliche Rente muss gestärkt und armutsfest gemacht werden. Die Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente müssen weg. Das Sozialversicherungssystem bietet zunehmend weniger Schutz und franst aus. Dieser Entwicklung muss endlich Einhalt geboten werden.“
Quelle: Die Linke im Bundestag - Arbeitsmarktforscher: „Viele Jobs sind schlechter bezahlt“
Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit rückläufig. Die Zahl der Arbeitsplätze hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Was sind das für Arbeitsplätze?
Sell: Wir haben tatsächlich einen Beschäftigungsrekord. Aber bei den neuen Jobs handelt es sich nur zu einem kleineren Teil um Vollzeitstellen. Deutlich stärker zugenommen haben Teilzeitarbeitsplätze oder Minijobs. Allein 5,1 Millionen Menschen waren 2016 ausschließlich geringfügig beschäftigt. Daneben gab es 2,6 Millionen Menschen, die nebenbei einen Minijob hatten, weil sie entweder mit dem Geld aus ihrem Vollzeitjob nicht über die Runden kamen, oder weil sie ihren Lebensstandard aufbessern wollten.
Selbst Selbstständige, die nur für ein paar Stunden Arbeit haben, tauchen in der Statistik als Erwerbstätige auf. So lässt sich auch zu erklären, dass in den vergangenen sechs Jahren die Zahl der Erwerbstätigen deutlich stärker gestiegen ist als die Zahl der in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden.
Sind sozialversicherungspflichtige Vollzeitstellen automatisch gute, ordentlich entlohnte Arbeitsplätze?
Sell: Nein. Nur rund 60 Prozent der Vollzeitjobs entstehen in Bereichen, in denen das Lohnniveau halbwegs ordentlich ist. 40 Prozent dieser Arbeitsplätze werden hingegen deutlich schlechter bezahlt als früher. Wir beobachten eine deutliche Spreizung bei den Löhnen.
Woran liegt das?
Sell: Das ist Folge der nachlassenden Tarifbindung. Nehmen wir als Beispiel den Einzelhandel. Nur noch 30 Prozent der Unternehmen zahlen Tariflohn. Der Rest ist aus der Tarifbindung ausgestiegen. Wenn in der Branche neue Jobs entstehen, sind sie deutlich schlechter entlohnt als noch vor zehn oder 15 Jahren. Ähnliches ist in anderen Berufsbereichen zu beobachten.
Quelle: Aachener Nachrichtendazu: Mittleres Bruttomonatsentgelt Vollzeitbeschäftigter
Das „mittlere sozialversicherungspflichtige Bruttomonatsentgelt der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten der Kerngruppe“1 (Median2) in der Bundesrepublik Deutschland betrug Ende 2016 nach Berechnung der Statistik der Bundesagentur für Arbeit 3.133 Euro. (…) Die Betrachtung der 401 Kreise zeigt: Das (…) Bruttomonatsentgelt (…) reichte 2016 von 4.579 Euro in Ingolstadt bis 2.103 Euro im Landkreis Vorpommern-Rügen. (…) Anmerkung: In diversen Presseberichten über die Ergebnisse der jüngsten Entgeltstatistik der Statistik der Bundesagentur für Arbeit wurde ausgerechnet der Landkreis Vorpommern-Rügen vergessen (…). Dies verwundert in diesen Tagen besonders, denn beim Landkreis Vorpommern-Rügen handelt es sich nicht nur um eine beliebte Urlaubsregion sondern auch um den Wahlkreis der Bundeskanzlerin.
Quelle: BIAJAnmerkung Paul Schreyer: Dass in Merkels Wahlkreis die Menschen bundesweit am schlechtesten verdienen, „vergaß“ insbesondere die Bild-Zeitung zu erwähnen. Dort hieß es stattdessen, in den Kreisen Prignitz und Görlitz verdiene man am wenigsten. Das Schlusslicht ist aber laut Statistik Vorpommern-Rügen.
- Neustart in der Arbeitsmarktpolitik ist notwendig
„Die Wahlperiode neigt sich dem Ende zu, die strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt sind nach wie vor ungelöst. Noch immer sind viel zu viele Beschäftigte arm trotz Arbeit. 1,1 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beziehen ergänzende Hartz IV-Leistungen, 2,7 Millionen gehen einem Zweitjob nach, um über die Runden zu kommen. Langzeiterwerbslose bekommen nur selten einen Job am ersten Arbeitsmarkt. Insbesondere das Hartz-IV-System ist gekennzeichnet von Perspektivlosigkeit und Sanktionen. Für Millionen von Menschen ist gute Arbeit ein leeres Versprechen dieser Bundesregierung geblieben. Deshalb braucht es einen Neustart in der Arbeitsmarktpolitik, für gute Arbeit und eine soziale Sicherung, die Armut verhindert“, erklärt Sabine Zimmermann, stellvertretende Vorsitzende und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, zum aktuellen Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit.
Quelle: Die Linke im Bundestagdazu auch: Langzeitarbeitslose – gefangen auf der Schulbank
Seminare und Trainings für Menschen ohne Job sind seit vielen Jahren ein wichtiger Geschäftsbereich in der Bildungsindustrie. Obwohl die Zahl der Arbeitslosen gesunken ist, so viele wie noch nie seit der Wiedervereinigung einen Job haben und teilweise Fachkräftemangel herrscht, gibt es immer noch etwa 900 000 Langzeitarbeitslose, die seit mindestens einem Jahr ohne Job sind. Hinzu kommen Hunderttausende, die ebenfalls seit Jahren auf Arbeitssuche sind, aber in der Statistik gerade nicht mitgezählt werden, zum Beispiel, weil sie gerade einen Förderkurs belegen. Rund um sie gibt es mehrere tausend Seminar-Anbieter, die von den Aufträgen der Jobcenter und Arbeitsagenturen leben und Erwerbslose so qualifizieren sollen, dass sie möglichst den Sprung auf den regulären ersten Arbeitsmarkt schaffen.
Der Markt ist riesig, Arbeitslosigkeit ist ein Milliardengeschäft. Doch jahrelang litten die Förder- und Trainingskurse unter einem miserablen Ruf. Zu Recht? Wird immer noch Geld des Steuerzahlers und der Beitragszahler für unsinnige Schulungen verbrannt? (…)
Dirk Kratz hat in einer Doktorarbeit untersucht, was Langzeitarbeitslosen wirklich hilft. Der Universitätsdozent und Leiter eines Therapieverbunds in Ludwigsmühle in Rheinland-Pfalz, sagt, in den Jobcentern werde zu wenig auf vorhandene Fähigkeiten geachtet. Oft wüssten Langzeitarbeitslose ziemlich genau, was sie tun möchten, worauf sie hinarbeiten wollten, bekämen aber die gewünschte Weiterbildung nicht, weil ihnen die formalen Voraussetzungen fehlen, das Geld für das Wunschangebot nicht da ist oder ihr Betreuer das für nicht passend hält.
Ähnlich sieht es Stefan Sell, Professor für Sozialpolitik an der Hochschule Koblenz: Er kritisiert, dass Jobcenter noch zu viele Arbeitslose in kurzfristige Maßnahmen steckten, ohne auf die Vorkenntnisse der Teilnehmer zu achten. „Da drücken in einem Kurs über Online-Bewerbungen neben einem Akademiker Menschen die Schulbank, die kaum Deutsch können.“
Sell empfiehlt stattdessen nach der Devise vorzugehen: „Weniger, aber mehr, das lohnt sich.“ Also statt Arbeitslose womöglich noch gegen ihren Willen und mehrmals in vierwöchige oder zwei, drei Monate lange kurzfristige Maßnahmen zu verschieben, lieber in langfristige Weiterbildungskurse zu investieren. Denn die steigern auf jeden Fall die Jobaussichten, vor allem, wenn sie in einem Betrieb stattfinden oder am Ende mit einem beruflichen Abschluss verbunden sind.
Quelle: Süddeutsche ZeitungAnmerkung Christian Reimann: Nicht Wenige nennen diesen Zweig der Bildungsindustrie nicht ganz zu Unrecht „Sozialindustrie“. Die ALG-II-Gelder beziehenden Personen haben kaum eine Wahl und fühlen sich meist implizit gezwungen, an den Maßnahmen teilzunehmen, denn eine unbegründete Ablehnung/Nichtteilnahme kann mit Sanktionen verbunden sein. Vorteilhaft könnte hierbei ein (gewerkschaftlicher) Rechtsschutz sein.
Bitte lesen Sie dazu auch 766 Millionen Euro Umschichtung: Jobcenter stopfen Löcher im Verwaltungshaushalt mit Fördergeldern.