Die ökonomischen Ungleichgewichte werden in der Krise zu einer besonderen Belastung – Deutschland als „Spielverderber“ für ein europäisches Sozialmodell
Deutschland verstärkt unter dem gemeinsamen Dach des Euro durch eine massive Lohndumpingstrategie als Exportweltmeister mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen auf der einen Seite die Ungleichgewichte in der Europäischen Union und der gesamten Weltwirtschaft. Auf der anderen Seite üben Lohndruck und Arbeitsintensivierung einen enormen Druck auf alle lohnpolitisch gefestigteren Systeme in Europa aus, in denen die Verteilungsspielräume ökonomisch angemessener ausgeschöpft wurden, während in Deutschland das Lohnniveau deutlich hinter der Inflationsrate und hinter dem Produktivitätszuwachs zurückblieb. (Einen aktuellen Überblick dazu gibt der Europäische Tarifbericht des WSI [PDF – 215 KB].) Von Volker Bahl
Zur genaueren Positionsbestimmung seien aus dem Europäischen Tarifbericht einige Sätze zitiert: „Die lohnpolitische Sonderstellung Deutschlands in Europa zeigt sich bei einem Vergleich der Reallohnentwicklung seit dem Jahr 2000: Deutschland ist das einzige Land, das mit minus 0,8 Prozent Reallohnverluste zu verzeichnen hat, während im gleichen Zeitraum die Reallöhne in Frankreich um 9,6 Prozent, in Schweden um 17,9 Prozent und in Großbritannien sogar um 26,1 Prozent stiegen“ (vgl. Schulten/ WSI, S. 475).
In Frankreich – unter dem Dach des Euro – und Schweden – mit einer Bindung an den Euro – kann dem deutschen lohnpolitischen Druck nach unten auf Dauer nicht ausgewichen werden.
Speziell zum „Nordischen Modell“ hält der EU-Tarifbericht noch fest: „In den skandinavischen Ländern sichert das so genannte „Ghentsystem“, in dem die Gewerkschaften die Arbeitslosenversicherung verwalten, einen nach wie vor außerordentlich hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und damit verbunden eine hohe Tarifbindung (S.477).“
Deutschland: Die Löhne sinken sogar im Aufschwung
Im Jahr 2007 trat die lohnpolitische Sonderstellung Deutschlands noch einmal besonders krass hervor. Trotz des (leichten) Konjunkturaufschwungs – und dies ist bisher einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik – sind die Löhne weiter gesunken. So verzeichnete Deutschland 2007 mit einem Minus von 1,1 Prozent erneut einen Reallohnverlust. Darin spiegelt sich einerseits die Schwäche des deutschen Lohnfindungssystems wider, andererseits müssen die „moderaten Lohnabschlüsse“ aber auch der Politik angelastet werden. Die Gewerkschaften wurden in den letzten Jahrzehnten in ihrer Tarifmacht nachhaltig geschwächt. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die Verteidigung der „Exportweltmeisterschaft“ waren das oberste Ziel der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Mit den Ursachen der Schwäche des deutschen Lohnfindungssystems, die gerade im Aufschwung so deutlich wurden, hat sich u.a. der IMK-Report Nr. 27 vom März 2008 “Wer profitiert vom Aufschwung?” [PDF – 395 KB] – dort insbesondere auf Seite 7 – ausführlicher befasst.
Die Schwächung der Tarifautonomie (Art. 9 GG) in Deutschland
Angesichts einer solchen Schwächung der Gewerkschaften muss die Frage gestellt werden, ob die in unserer Verfassung (Art. 9 GG) als Grundrecht gewährleistete Tarifautonomie nicht in ihrer Substanz inzwischen so eingeschränkt wurde, dass sie für Deutschland schon als aufgehoben angesehen werden muss?
Dazu sei etwa daran erinnert, dass zu Zeiten der rot-grünen Regierung unter dem damaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement der „Wissenschaftliche Beirat“ dieses Ministeriums im Jahre 2003 sogar die Aufhebung dieses Grundrechts forderte. Die neoliberale „Creme“ der deutschen Ökonomen betrachteten den Art. 9 GG sozusagen als eine systemwidrige – weil den marktradikalen Glaubensätzen widersprechende – Verfassungsnorm (siehe Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit , „Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates „Tarifautonomie auf dem Prüfstand“ vom 27. 11. 2003 [PDF – 300 KB]).
Darüber hinaus vollstreckt inzwischen der Europäische Gerichtshof (EuGH) gerade auch gegenüber Schweden diese wirtschaftsliberale Doktrin (siehe Martin Höpner u.a., „Die Politische Ökonomie der europäischen Integration“, S. 23 ff.).
Deutschland gibt mit seiner Lohnsenkungspolitik in der gesamten EU ökonomisch den Takt vor, und auf der juristischen Ebene schreiben die Institutionen der EU qua Wettbewerbsregeln und über die EU-Verfassung den Abbau von Gewerkschaftsrechten vor. Bei diesem „Spiel über Bande“ wird die Schwächung der Tarifautonomie auf eine nicht mehr durchschaubare höhere Ebene verlagert, so dass sie auf den ersten Blick nicht sofort als politisch gewollt auffällt. Das neoliberale Diktat wird mit der EU-„Verfassung“ zur alleinseligmachenden Staatsdoktrin in Europa – mit der gleichzeitigen Schwächung sozialer Rechte (siehe hierzu den französischen Arbeitsrechtler und Rechtsphilosophen Alain Supiot).
Die ökonomischen Ungleichgewichte werden in der Krise zu einer besonderen Belastung
In diesem Beitrag soll es nicht um die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Wirtschaft, sondern um die – krisenverschärfende – Struktur der internationalen ökonomischen Ungleichgewichte gehen, also um die Leistungsbilanzüberschüsse, die dann mit den entsprechenden Leistungsbilanzdefiziten (z.B. in den USA oder bei unseren europäischen Nachbarn) korrespondieren.
Wenn über Exportüberschüsse geredet wird, gerät üblicherweise zunächst China mit seinen hohen Exportüberschüssen ins Visier der öffentlichen Kritik. So hat – kaum im Amt – der neue US-Finanzminister der Obama-Regierung , Timothy Geithner, China vorgeworfen, durch eine gezielte Unterbewertung seiner Währung die chinesischen Handelsbilanzüberschüsse zu zementieren und damit für die USA den Defizitabbau zu erschweren.
Bei derartigen Vorwürfen wird allerdings geflissentlich übersehen, dass es gerade die Industrieländer waren – allen voran die USA – , die seit Anfang der 90er Jahre die Entwicklungs- und Schwellenländer zu einer raschen Öffnung der Kapitalmärkte drängten, ohne dabei gleichzeitig – nach der Auflösung des „Bretton-Wood-Systems“ – ein funktionsfähiges, globales Währungssystem anzubieten. So entwickelten sich die Wechselkurse auch „dank“ internationaler Finanzspekulanten völlig unberechenbar.
Flassbeck/Spiecker halten folgerichtig diesem recht einseitigen Vorwurf entgegen, bei einer derart unkoordinierten, globalen Währungsordnung und einem weitgehend sich selbst überlassenen Devisenmarkt blieb für diese Länder als einzig relativ sicherer Weg zur eigenen ökonomischen Entwicklung nur die eine Variante übrig, nämlich den Wechselkurs durch Zentralbankinterventionen auf einem unterbewerteten Niveau zu stabilisieren (Flassbeck/Spiecker, „Das Spiel geht weiter“ in der taz vom 2.Febr. 09).
Außenministerin Hillary Clinton sah das offenbar nicht so einseitig wie ihr Kabinettskollege vom Finanzministerium. Ihre erste Auslandsreise galt China. Eines der wichtigsten Ziele ihrer Reise war zu verhindern, dass China mit seinen riesigen Dollarrücklagen die USA in der Krise noch zusätzlich destabilisiert. Sie setzte auf Kooperation und Koordination – statt auf Konfrontation. Es wäre auch ziemlich unglaubwürdig, wenn die Industrieländer ohne eine stabile Weltwährungsordnung China zum Verlassen ihrer ökonomisch für das Riesenreich bisher erfolgreichen Währungspolitik zwingen wollten.
Merkwürdigerweise bleibt bei der Diskussion über Leistungsbilanzdisparitäten meist unerwähnt, dass Deutschland beim Export immer noch vor China liegt. Unser Land hat, sozusagen versteckt hinter den Mauern des Euroraumes, mit seiner Lohnsenkungsstrategie seine internationale Wettbewerbsposition in wenigen Jahren so sehr zu Lasten seiner Handelspartner ausgebaut, dass es die Überschüsse Chinas – also eines wesentlich größeren Landes – erreicht.
Die „negative Integration“ in Europa – und Deutschland als Taktgeber für die Spirale nach unten
Der von Deutschland ausgehende ökonomische Druck wird durch institutionelle Vorgaben der EU verstärkt. Fritz Scharpf, der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, bezeichnet diese lohnpolitische Dynamik nach unten innerhalb der EU als „negative Integration“ und fordert dringend eine politische Umkehr.
Zwar haben wir dieses Jahr Europawahlkampf, aber von der Forderung nach einer notwendigen Umkehr in der EU und einer Perspektive für ein wirkliches europäisches Sozialmodell, ist – außer bei der Linken mit Lafontaine – kaum etwas zu vernehmen. Im Gegenteil: Ein nationales Parlament nach dem anderen stimmte dem neuen EU-Reformvertrag zu, der die verfassungsmäßige Grundlage eines Weges zur Aushebelung sozialer Grundrechte, wie etwa auch der Tarifautonomie, schafft (siehe dazu ausführlich Martin Höpner u.a.: „Die politische Ökonomie der europäischen Integration“, S.11 und 23 ff. – sowie „Europa-Richter stellen Wettbewerb über Arbeitnehmerrechte“ und Böckler Impuls 5/2009 [PDF – 270 KB]. Siehe dazu auch Anne-Cecil Robert in „Die Klempner von Europa“ in Le Monde diplomatique vom März 2009, S. 1 und 10 f.).
“Das Ende des “Deutschen Modells” – Europa in der ökonomischen “Doppel”-Krise
Die ökonomische Realität fordert, dass der größte „Profiteur“ von Exportüberschüssen, nämlich Deutschland, endlich globale Verantwortung übernimmt.
Das „Deutsche Modell“ zeichnete sich dadurch aus, dass es ein mit Lohndumping angetriebenes Wachstum ganz überwiegend über den Export erzielen wollte. Bildlich gesagt ist diesem Modell durch die Weltwirtschaftskrise einfach der Stecker herausgezogen worden.
“Die US-amerikanische Wirtschaft kann nicht mehr in dem Maß wie zuvor Motor der Weltwirtschaft sein, da ihre binnenwirtschaftliche Expansion mit hohem Importsog auf den tönernen Füßen eines schlecht regulierten Finanzsektors und überschuldeter Haushalte stand. Diese Rolle müssen jetzt andere übernehmen – und hier sind neben China gerade auch Europa, und dort vor allem Deutschland zu nennen, dessen globale Verantwortung von der Politik und auch von vielen Ökonomen noch nicht hinreichend erfasst wird “(„Am Rande des Abgrundes“ [PDF – 650 KB], S.23).
Deutschland und die USA hängen eben zusammen wie der Stecker mit der Steckdose, aus der bisher der Strom kam, schrieben Flassbeck und Spiecker lange vor der Krise: „Wer profitiert denn seit Jahren vom amerikanischen Wachstum? Doch wir Deutsche im Verein mit den Japanern. Wir benutzen die USA als Konjunkturlokomotive und bauen mit unserer Strategie des Lohndumpings enorme Überschüsse auf. – Mit anderen Worten: Die Amerikaner können eine sinnvolle Konjunkturpolitik betreiben wie sie wollen, wenn die Eurozone und Japan sie dauernd torpedieren, können die Amerikaner die Geschicke der Weltwirtschaft nicht sinnvoll lenken, dafür ist das Gewicht der EWU und Japans zu groß und die Weltwirtschaft zu globalisiert“ (aus: Heiner Flassbeck und Friederike Spieker, “Das Ende der Massenarbeitslosigkeit”, S. 177ff., 180 und 181 f.).
Wie folgenreich für das einseitig exportorientierte „deutsche Modell“ das Ausbleiben der Konjunkturlokomotive USA wird, zeigten dann auch schon rasch die Wachstumszahlen für Ende 2008 auf: Der Exportweltmeister Deutschland wird von der weltweiten Wirtschaftskrise besonders hart getroffen. So sank das Bruttoinlandsprodukt um 2,1 Prozent – und damit weitaus stärker als in allen anderen europäischen Staaten! Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes handelt es sich um den stärksten Einbruch der Wirtschaftsleistung eines Vierteljahres seit 1987 – und macht Deutschland zum Schlusslicht in der Europäischen Union. Die Wirtschaftsleistung aller europäischen Länder sank im Schnitt lediglich um 1,5 Prozent – auch das ist immerhin der schwerste Einbruch seit Einführung des Euro (z.B. Frankreich 1,2 Prozent – Italien 1,8 Prozent).
Diese Empfindlichkeit des „Deutschen Modells“ beruht auf dem enormen Anteil des Exportes an der Wirtschaftsleistung von 40 Prozent (vor allem beim Maschinenbau und der Automobilindustrie). War der Export in dem Boomjahr 2006 noch die maßgebliche Triebfeder der Konjunktur, so wird diese extreme Einseitigkeit jetzt in der Krise zur Wachstumsbremse für Deutschland (siehe SZ vom 14. Februar 2009 „Exportabhängigkeit wird zum Nachteil – Rezession trifft Deutschland besonders hart“ – S. 1 und Kommentar S. 4).
Es ist nicht eine ominöse „Globalisierung“, die zurückschlägt, wie in seltsamer Realitätsverweigerung der Kommentator in der SZ glauben machen will, sondern der seit langem politisch gepflegte Glaube an die immer stärkere Ausrichtung unserer Wirtschaft auf den Export – unter konsequenter Außerachtlassung der angerichteten sozialen Flurschäden. Es war diese „Totalität“ des Glaubens an den Markt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit, die alles richten sollte und die jetzt in diese Sackgasse führte.
(Zum Druck auf die gemeinsame Währung, den Euro, durch das „Deutsche Modell“ siehe z.B. auch die Diskussion: „Ist es die Währung? – Es sind die Löhne! – zwischen Laurent Jacques und Hansjörg Herr – in: Monde diplomatique“ vom Februar 2009, S. 4 und 5.)
Schon 2005 hatten Heiner Flassbeck und Ulrike Spiecker gewarnt: „Die deutsche Lohnpolitik sprengt die Europäische Währungsunion“ (Siehe WSI-Mitteilungen 12 / 2005 [PDF – 130 KB]; aktuell; sowie hier [PDF – 140 KB]). Kritik kam aber auch von unseren Nachbarn. 2007 hat der britische Historiker Perry Anderson in seinem „Europagemälde“ („Depicting Europe“) beschwörend darauf hingewiesen: Deutschland erwürgt als wirtschaftliche Großmacht Europas die soziale Entwicklung – nicht zuletzt in den südeuropäischen Ländern (Perry Anderson „Depicting Europe“ in: „London Review of Books“ vom 20.9. 07 – dort insbesondere die Seite 7).
Kein Wunder, dass jetzt in der Krise auch wieder die Kontroverse aufbricht, ob mit einer Rückkehr zu nationalen Währungen – mit der jeweiligen Möglichkeit auf- und abzuwerten – die entstandenen ökonomischen Ungleichgewichte leichter gemanagt werden könnten (so etwa Wilhelm Hankel in der FR vom 12.2. 09). Dazu hat Rudolf Hickel die Gegenposition eingenommen: Einzelstaatliche Währungen wären noch viel massiver ein „Spielball“ der Spekulation auf den Finanzmärkten. Das Defizit in der EU ist die fehlende makroökonomische Koordinierung, und in diesem Rahmen kommen auf Deutschland drei Anforderungen zu, um diese krassen ökonomischen Ungleichgewichte – gerade auch in Europa selbst – auszugleichen:
- Die Exportüberschüsse müssen abgebaut werden
- Parallel dazu bedarf es wieder einer expansiven Lohnpolitik …
- … verbunden mit einer expansiven Finanzpolitik.
Es geht darum, das bisher so vorrangige Standbein für das Wachstum, den Export, durch eine Stärkung der Binnennachfrage zu ergänzen (siehe auch den Gastbeitrag von Rudolf Hickel „Rückkehr zur D-Mark wäre eine Katastrophe“ – in FR vom 17.Februar 2009).
In keinem anderen Land der Eurozone war die „Lohnzurückhaltung“ seit Beginn der Währungsunion so stark wie in Deutschland. Das nützte – zumindest kurzfristig – der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, jedoch auf Kosten der anderen Länder! Mit der Zeit dämpfte dies die Konjunktur in den Nachbarstaaten, die damit – längerfristig – auch weniger Waren importieren können. Mit seinem Verhalten hat Deutschland das Fundament der Währungsunion untergraben, denn in einer Währungsunion, in der es keine Wechselkurse mehr gibt, treten die nominalen Lohnstückkosten als Stellschraube an deren Stelle. Es wird also höchste Zeit, dieses deutsche Lohndumping zu beenden, auch im Interesse eines weiteren Funktionierens der Euro-Währungszone (siehe dazu Böckler-Impuls 3 /2009).
Der Mindestlohn wäre für das deutsche Tarifsystem eine Mindestbedingung. Ulrike Herrmann hat es in der taz so schön plastisch ausgedrückt: „Das Originellste an der Mindestlohnforderung der SPD ist, dass ihre Reformen ihn erst so richtig notwendig gemacht haben.“
(Einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Mindestlöhne bietet der WSI-Mindestlohnbericht 2009 [PDF – 190 KB].)
Der Mindestlohn reicht jedoch längst nicht aus, um die Beschädigungen der Tarifautonomie in Deutschland wieder zu beseitigen.
Exkurs: Frankreich wehrt sich
Wie hieß es doch: „Sarkozy brüskiert Brüssel“ (SZ vom 10.Febr. 09), als der französische Staatspräsident die Staatshilfen für die französischen Automobilkonzerne mit der Auflage verband, dass sie nur für französische Autos gelten sollte. Statt einer Brüskierung kann man darin aber auch eine angemessene Selbstverteidigung gegen den durch permanentes Lohndumping erzielten Wettbewerbsvorteil Deutschlands sehen. In Frankreich wurde heftig über die Frage gestritten, ob die Franzosen mit ihren Steuer- bzw. Staats-Milliarden – immerhin 6 Milliarden Euro – die in der Krise jetzt besonders notleidenden – weil so stark auf den Export fixierten – deutschen Automobilbauer fördern solle.
Für Frankreich war und ist der deutsche Weg des Lohndumpings durch das sehr durchsetzungskräftige französische individuelle Streikrecht mit der dazu gehörenden Streikbereitschaft der Franzosen wesentlich schwieriger zu gehen
(siehe zur Entwicklung der Streikbewegung – zuletzt am 19. März 2009 – Generalstreik bricht alle Rekorde: 3 Mio. Beteiligte!).
Der Weg einer Politik zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung – wie in Deutschland – hatte in Frankreich seine Grenzen. Ein Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich lässt daher empirisch die deutlich stärkere französische Binnennachfrage hervortreten, weil dort die angemessenen Lohnspielräume besser ausgeschöpft wurden (siehe die Studie „Frankreich ein Vorbild für Deutschland ?“ – IMK-Report Nr. 31 [PDF – 612 KB]).
Mit der Streikbewegung im Nacken entschloss sich Sarkozy zur Vorwärtsverteidigung gegen den „Spielverderber“ Deutschland. Wenn Angela Merkel als Reaktion auf Sarkozy verärgert meint, die Teilnehmer am Binnenmarkt müssten „schon auf dem gleichen Spielfeld bleiben“ (SZ vom 12. Febr. 09), dann muss man ihr vorhalten, dass sie gänzlich blind für die Rolle Deutschlands auf diesem europäischen Spielfeld zu sein scheint. Ohne eine Problematisierung des ökonomischen Diktats aus Deutschland kann in Europa kaum eine gemeinsame Linie gefunden werden. Früher oder später wird es auch für die deutschen Politiker zum Schwur kommen: Die europäischen Nachbarn dürften den deutschen Weg in ein europäischen „A-Sozial-Modell“ jedenfalls auf Dauer nicht mehr klaglos hinnehmen.
Die Doppelkrise mit Doppelstrategie angehen
In der Prognose der wirtschaftlichen Lage 2009 des IMK gibt es gerade für Europa wichtige Aussagen. Zuerst wird festgestellt, dass es sich um eine “Doppelkrise”, nämlich sowohl der Finanzmärkte als auch der Realwirtschaft handele, die auch in einer “Doppelstrategie” anzugehen sei: “Die Hauptlast der Stabilisierung liegt also derzeit bei der Finanzpolitik. Erforderlich ist ein europäisch abgestimmtes Konjunkturprogramm in Höhe von rund 2 % des BIP, heißt es in “Am Randes des Abgrunds” [PDF -650 KB] (S. 21 ff.).
Dies zeigten Simulationen verschiedener Konjunkturprogramme mit dem IMK-Modell. Nationale Alleingänge innerhalb des Euroraumes verminderten deren Effektivität nennenswert. Erneut werde deutlich, wie wichtig die europäische Dimension ist. Die Gefahr sei groß, dass sich die einzelnen Länder mit Konjunkturprogrammen, die sie im Alleingang umsetzen, verzettelten. Dadurch werde die Effektivität der europäischen Antwort enorm eingeschränkt….(S.23) Diese Weltwirtschaftskrise wird also die große Herausforderung für die Institutionen der EU!“
Kann das Konjunkturprogramm II uns aus der Krise führen?
Mit dem Konjunkturprogramm II verringert sich nach der Prognose des IMK das Brutto-Inlandsprodukt um 2,4 Prozent im Jahresdurchschnitt. Das prognostizierte Minus von 3 Prozent werde also mit den Konjunkturstützungsmaßnahmen der Bundesregierung nur um 0,6 Prozent günstiger. Dieses Minus von 2,4 Prozent beim BIP wäre die größte Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik. Und falls es nicht gelingt, durch dieses Konjunkturprogramm – sein größter Fehler ist seine langsame Wirkung – einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern, dann sind auch alle Hoffnungen auf den Konsum, der die Konjunktur stabilisieren könnte, vergeblich. Dann sinken die Einkommen trotz der nachlassenden Inflationsrate (S. 15).
Das IMK hatte deshalb im Dezember ein Konjunkturpaket von mindestens 50 Milliarden Euro konzentriert auf 2009 gefordert. Bei einem Investitionsvolumen von 30 Milliarden Euro und sofort wirksamen Konsumschecks in Höhe von 20 Milliarden Euro hätte nach Meinung des IMK ein dreimal so starker Effekt und ein deutlich höherer Multiplikator erreicht werden können [PDF – 110 KB] (S. 14).
Der (Irr-)Wahn vom „schlanken Staat“
Auf eine weitere – deutschlandspezifische – Fehlentwicklung verweisen Harald Schumann und Christiane Grefe in ihrem Buch „Der globale Countdown – Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung – die Zukunft der Globalisierung“. Sie weisen zunächst auf den die letzten Jahre praktizierten Wahn der Politik hin, einen möglichst „schlanken Staat“ herzustellen, um die „freien Kräfte des Marktes“ zu stärken: „Während ihrer sieben Jahre in der Regierung mit dem damaligen Kanzler Schröder betrieben die Sozialdemokraten eine radikale Umverteilung von unten nach oben. Um zeitweilig bis zu 26 Milliarden Euro jährlich senkte die Schröder-Regierung die Steuerlast für Konzerne, Kapitalgesellschaften und Besserverdiener, während sie gleichzeitig die Unterstützungsleistungen für Arbeitslose zusammenstrich. Seitdem bezieht mehr als die Hälfte der Empfänger von Arbeitslosengeld weniger als vor der „Reform“. Vor allem aber stieg die Unsicherheit: Wer länger als ein Jahr arbeitslos war und ohne Vermögen ist, fällt unweigerlich in die Armut…. Der Anteil der betroffenen Leistungsempfänger, die nach internationalen Maßstäben als einkommensschwach gelten, ist von gut der Hälfte auf zwei Drittel gestiegen.“ (Harald Schumann/Christiane Grefe, a.a.O. S. 164). Es kam zu einer „Erosion der Mittelschichten“ (DIW) [PDF – 270 KB].
Eine Bilanz des deutschen Sonderweges zum möglichst „Schlanken Staat“ zog auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger in seinem Aufsatz „Das Jahrzehnt der Entstaatlichung“. Schon jetzt sei zu erkennen, schreibt Bofinger, dass sich die Entstaatlichung zu Lasten der Zukunftsinvestitionen in den Bereichen Bildung und Infrastruktur auswirke – verbunden mit einer Erosion des Wohlfahrtsstaates, die auch die politische Stabilität des Landes gefährde (a.a.O. S. 351 ff.).
Wird die Politik zur Bewältigung der Krise überhaupt noch von ökonomischen Erwägungen getragen?
Die vom IMK vorgebrachte Kritik an den deutschen Konjunkturprogrammen (die Kapazität sei zu schwach, und es wirke zu langsam) wird massiv verstärkt durch eine Intervention des Wirtschaftsnobelpreisträgers Robert Solow, der unablässig für eine bessere Makropolitik in Europa kämpft. In seinem „Manifest für eine gemeinsame Fiskalpolitik in Europa“ (FR vom 10.Febr. 09) wird festgestellt: „Viele Maßnahmen werden von politischen Erwägungen getrieben. Um die volle Wirkung zu entfalten, sollten sie aber von ökonomischen Prinzipien geleitet werden…Die – zu beobachtende – passive Haltung im Euro-Raum könnte schwerwiegende Folgen haben … und die Wirtschaft immer tiefer in eine lang anhaltende Stagnation versinken (lassen). Die Opportunitätskosten zu zaghaften Handelns sind enorm hoch“.
Solow hat die Nicht-Koordination allein unter dem Druck der nationalen Wirtschaftsinteressen auf den Punkt gebracht: „Angesichts dieser Unzulänglichkeiten droht die Gefahr wechselseitiger „Beggar-the-neighbour-Politik“ – d.h. einer Wirtschaftspolitik, die den Schaden möglichst auf den Nachbarn abzuwälzen versucht. (vgl. dazu auch noch einmal Flassbeck/Spiecker, in der FR vom 26. Febr. 09 „Mit einer europäischen Lohnpolitik die Währungsunion retten“).
Die Krisenpolitik aus der Distanz betrachtet
Versuchen wir einmal den Nahblick zu verlassen und auf Distanz zu den bedrohlichen Szenarien der Wirtschaftskrise zu gehen; springen wir einfach einige Jahre weiter in die Zukunft – ähnlich wie das John Kenneth Galbraith – allerdings rückblickend – in „Der große Crash 1929“ in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gemacht hatte. Die Süddeutsche Zeitung hat dies in einem Artikel von Alexander Mühlauer gleichfalls versucht (SZ vom 3.Febr. 09 „Die Erinnerung an die vielen Nullen“). Ein düsteres Fazit dieses Rückblicks könnte sein: „Die Politiker zementierten (alte) Strukturen und erreichten so, dass die Krise länger dauerte“. Und im Moment deutet leider nichts darauf hin, dass ein späteres Zeugnis günstiger ausfallen könnte.
Es herrscht wohl noch überwiegend die Einbildung vor, dass die, die uns in dieses Schlamassel hineingeführt haben, auch die „Besten“ seien, uns wieder herauszubugsieren. Und alles deutet darauf hin, dass Deutschland weiter den „Spielverderber für ein europäisches Sozialmodell“ abgeben wird.
Wenn nicht noch ein deutlicher Meinungsumschwung eintritt, bleibt wohl nur die Hoffnung auf die nächste Bundestagswahl 2013. Der einzige Trost, den wir dabei aus der Geschichte ziehen könnten wäre: Auch Roosevelt („New Deal“) kam erst rund vier Jahre nach der Weltwirtschaftskrise 1933 ins Amt.
John Kenneth Galbraith hat in seiner Analyse der Weltwirtschaftskrise von 1929 ff. übrigens auch dargelegt, dass die Entwicklung zu einer ungleichen Einkommensverteilung eine der Ursachen für die Krise war (S. 187f.). Eine Umkehr – weg von der Umverteilung von unten nach oben – wäre also nicht nur sozial wünschenswert, sondern auch ökonomisch geboten. Auch Paul Krugman („Nach Bush“) hat ausführlich begründet, dass mehr Gleichheit und die Möglichkeit zu einem guten Auskommen für alle nicht nur die einer Demokratie angemessenste Form einer Volkswirtschaft, sondern auch ökonomisch geboten und am besten geeignet ist, nachhaltiges Wachstum zu schaffen.
Die Rückkehr zu einer Gesellschaft mit mehr Gleichheit und der Kampf für ein soziales Europa wird das Motto der europäischen Gewerkschaften bei ihren europaweiten Demonstrationen am 16. Mai dieses Jahres sein.
Volker Bahl war Redakteur der „Gewerkschaftlichen Monatshefte“ und Sekretär bei verschiedenen DGB-Gewerkschaften.