Chance für das “Nordische Modell” – Mögliche gewerkschaftliche Perspektiven für Deutschland und Europa
Anmerkungen und Gedanken zum Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen 01/2009 „Das nordische Modell unter Anpassungsdruck“ von Volker Bahl.
Vorspann:
Orlando Pascheit schrieb zum Schwerpunktheft der WSI Mitteilungen 1/2009 über „Das nordische Modell unter Anpassungsdruck“:
„Das wegen seiner offensichtlichen Erfolge bewunderte nordische Modell durchläuft eine Phase der Neuausrichtung. Der konservative schwedische Finanzminister Anders Borg bezeichnete diesen Prozess im Oktober 2008 bei der von ihm gehaltenen Ludwig- Erhard-Lecture der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ als „Neuerfindung“ des schwedischen Modells.
Genau darum geht die politische Auseinandersetzung in den nordischen Ländern: Borgs Formulierung lässt sich zwar als Absage an einen Modellwechsel interpretieren. Sie dokumentiert aber den konservativen Versuch, die Erfolgsmarke „nordisches Modell“ beizubehalten, sie aber mit eigenem politischen Inhalt zu füllen. Das vorliegende Schwerpunktheft greift einige Aspekte der Debatte um die Neuausrichtung auf. Beiträge von Urban Lundberg, Lena Schröder und Joakim Palme et al. vermitteln uns, dass auch im Norden nicht alles eitel Sonnenschein ist; einige Schatten fallen auf das in der deutschen Öffentlichkeit häufig allzu positive Bild von Skandinavien.“
Quelle: boeckler.de [PDF – 84 KB]
Demgegenüber meint Volker Bahl in seinen Bemerkungen zu diesem Schwerpunktheft der WSI Mitteilungen: Nicht das „häufig allzu positive Bild von Skandinavien“ sei ein Problem. Er zitiert dazu eine andere Stelle aus dem Editorial des Heftes: „Insgesamt hat sich das „Nordische Modell“ als Gegenentwurf zum lange einseitig favorisierten angelsächsischen Modell bewährt. Es widerlegt die lange verbreitete Auffassung, dass eine gute Performanz der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes einerseits und eine hohe Staatsquote sowie umfassende Sozialleistungen andererseits sich gegenseitig ausschließen. Auffallend ist auch, dass die nordischen Länder im internationalen Vergleich noch immer durch eine hohe soziale Gleichheit und ein hohes Lohnniveau hervorstechen“
Diese kleine Kontroverse führt uns schon mittenhinein in etwas sehr Typisches bei der Betrachtung des „Nordischen Modells“: Die Sichtweise auf Skandinavien – bei aller Differenz zwischen den einzelnen Ländern – ist schon seit den 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt durch das Hin und Her der Debatte zwischen Utopie auf der einen Seite und Dystopie (Fehllagerung) auf der anderen Seite (Lundberg). So gesehen erscheint das „Modell“ oft in einem Zustand einer permanenten Krise. Dennoch kann abschließend – nach Wägung aller wichtigen Fakten – festgehalten werden: „ein Pfadwechsel hat durch alle Änderungen seit Beginn der 90-er Jahre nicht stattgefunden“ (Palme u.a.).
Chance für das “Nordische Modell” – Mögliche gewerkschaftliche Perspektiven für Deutschland und Europa Von Volker Bahl
Nun gibt es ein schönes Heft der aktuellen WSI-Mitteilungen (1 / 2009) zum “Nordischen Modell” – und ich habe mich durch diesen “Dschungel” vorgearbeitet, um noch ein Stück mehr Klarheit zu gewinnen –
über die statistisch gut aufbereitete Arbeit von Uwe Becker, “Was ist dran am skandinavischen Modell” hinaus (in: “Leviathan, Heft 2 / 2008, S.229 ff.).
Dieses WSI-Heft wird fast ausschließlich von skandinavischen Autoren bestritten, was den Vorteil hat, dass man es mit langjährigen Kennern zu tun hat – aber auch den Nachteil mit sich bringt, dass der “Binnenblick” dem “Außenstehenden”, der in anderen “Systemen “zu Hause” ist, oft nicht alles deutlich werden lässt.
Meine Bemerkungen zu diesem Heft möchte ich daher auch nicht eine Besprechung nennen, sondern es sind eher die Randglossen eines an dieser Materie sehr Interessierten, ohne dass ich den Anspruch erheben könnte, ein ausgefuchster „Kenner” zu sein.
Bevor ich meine Anmerkungen loswerde, möchte ich zum besseren Verständnis meiner Sicht auf dieses Faszinosum noch in die Märchen- und Traumwelt eines Michael Ende entführen – in jene Erzählung vom “Korridor des Borromeo Colmi” (in: Michael Ende, “Das Gefängnis der Freiheit” ). Ich fasse zusammen: Die Leit”philosophie” dieser Geschichte ist kurz gesagt die, es gibt Dinge – also Realitäten -, aber niemand sieht sie, obwohl sie faszinierend schön und wirklich sind. Und weil sie niemand sieht, gibt es sie einfach nicht in dieser Welt. Um Realität zu werden, müssen sie eben betrachtet werden. Und da jeder Betrachter nun jeweils einen unterschiedlichen Blickwinkel haben kann, könnte es dazu kommen, dass auch an ein und demselben Ort durchaus mehrere Wirklichkeiten vorhanden sind…..
Rudolf Meidner, von 1945 bis 1974 Chefökonom des Schwedischen Gewerkschaftsbundes (LO) (er starb 2005), schreibt schon in den WSI-Mitteilungen 1/1994: “Die Tatsache, dass sich der Organisationsgrad in den letzten Jahren (1994 !) nicht verringert hat, dürfte dem Umstand zuzuschreiben sein, dass die schwedischen Gewerkschaften die Verantwortung für die Verwaltung der Arbeitslosenkassen (der schwedischen Arbeitslosenversicherung) tragen. Die Mitgliedsbeiträge für die Kassen werden zusammen mit den Beiträgen für die gewerkschaftliche Mitgliedschaft eingezogen. Kassenzugehörigkeit ist zwar ohne gewerkschaftliche Mitgliedschaft formell möglich, sie ist aber in der Praxis eher eine Ausnahme” (S.8) – Diese Arbeitslosenversicherung in der Hand der Gewerkschaften wird auch „Ghent-System“ genannt.
Als ich vor Jahren Schweden besuchte und das erfuhr, war ich fasziniert von dieser Möglichkeit, die Organisation der Gewerkschaften auf diesem Weg zu stärken. Lag der Organisationsgrad damals noch bei 85 %, so liegt er heute bei ca. 70 % – immer noch eine gewaltige Zahl im Vergleich zu Deutschland – mit entsprechenden Ergebnissen an sozialer Gleichheit. Es war politisch so gewollt, die Gewerkschaften zu stärken! (Die dänischen Autoren in diesem Heft entwickeln noch die stärkste Sensibilität für dieses System und seine Wirkungen (S.31 ff.)).
Diese bewusste Stärkung der Gewerkschaften durch die Politik führte zu einem politisch sehr fruchtbaren Wechselverhältnis. Meidner drückt es so aus: “Es ist kein historischer Zufall, dass die beiden Teile der schwedischen reformistischen Arbeiterbewegung – der politische und der gewerkschaftliche – seit hundert Jahren in einem symbiotischen Verhältnis leben”. Weiter meint er, “dass Schweden in den Jahrzehnten unbestrittener sozialdemokratischer Hegemonie von Kriegsende bis Mitte der siebziger Jahre eine ausgesprochen korporatistische Gesellschaft war.” (S.4)
Aber das „Ghent-System“ hat nicht nur einfach diesen “organisationspatriotischen” Sinn, sondern bringt die Gewerkschaften auch zu einer starken Gemeinwohlorientierung (Wolfgang Merkel et al. S.107 in: “Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie”). Wer so viele Beschäftigte repräsentiert, verliert einfach den Charakter, als würde er sich für Sonderinteressen einsetzen, und dies stärkt wiederum die politische Bedeutung der Gewerkschaften.
Jede konservative Regierung versuchte daher jeweils – mehr oder minder sanft – an dieser Gewerkschaftsstärke als Quelle der organisatorischen Bedeutung der Gewerkschaften anzusetzen, um die “sozialdemokratische Hegemonie” endlich zu beenden (so z.B. in diesem Heft auf S. 15 – aber leider ohne weitere Angaben über die genaue Wirkung dieser politischen Angriffe auf die Organisationsstärke der Gewerkschaften, so dass das negative “Urteil” nicht nachvollziehbar ist).
Es ist immer wieder auffallend, wie systemimmanent diese Nordländer “weiterdenken” und sich so ziemlich schwertun, “ihr” System für einen Außenstehenden zu erklären. Daher war es für mich erfreulich, auch einen deutschen Autor parallel zu lesen, der die Systematik am Beispiel Schwedens von “Grund auf” zu schildern in der Lage ist – sozusagen mit dem “fremden Blick” – nämlich Andreas Kuhlmann, “Das Schwedische Modell” (FES – Nordic Countries – 3 / 2008 [PDF – 136 KB]). Kuhlmann gelang es nicht nur, das Arbeitslosenversicherungssystem mit den Gewerkschaften “als Kern” präziser darzustellen, sondern auch seine Bezüge zu dem, was man “Schwedisches Modell” nennt. “Eben diese Struktur der Arbeitslosenversicherung gilt als wichtiger Faktor für einen hohen Organisationsgrad und damit für ein starkes Verhandlungsmandat der Gewerkschaften”. (Kuhlmann, S. 4)
Bei Kuhlmann findet man auch genauere Zahlen zu den Folgen der auf die Mitgliedsstärke der Gewerkschaften zielenden politischen Maßnahmen der konservativen Regierung seit 2006, und hier zeigt sich dann für einen Kontinentaleuropäer ein etwas anderes Bild: Zwar hatten die Gewerkschaften die bisher gemeinsam erhobenen Beiträge für die “A-Kassan” und die Gewerkschaften (siehe oben Meidner (V.B.)) auseinanderklamüsiert – jedoch das Ergebnis war am Ende des Jahres (2007) – sowohl für die Gewerkschaften wie auch für die Regierung – ernüchternd. So haben die Gewerkschaften 184 688 Mitglieder verloren. Der stärkste Rückgang innerhalb eines Jahres seit fast genau 100 Jahren… So fiel der Organisationsgrad in Schweden binnen eines Jahres von 77 % auf 73 %. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Einbruch des vergangenen Jahres zu einem überwiegenden Teil auf die (von Kuhlmann genauer beschriebenen Maßnahmen (V.B.)) zurückzuführen ist”.
Aus deutscher Sicht sind 73 % allerdings immer noch eine gewaltige Mitgliederzahl – die auch weiterhin ein starkes politisches Gewicht “verkörpern“. Für einen gewerkschaftsorientierten Schweden mag dies eine gewaltige Gefahr bedeuten, kein Wunder, dass ein schwedischer Journalist in der TAZ schrieb: “Musterland ist abgebrannt”. Dennoch bleibt der wissenschaftlich nüchtern wägende Joakim Palme (u.a.) in diesem Heft bei der Einschätzung, “die verschiedenen politischen Veränderungen, die seit 1990 stattgefunden haben, führten bisher nicht zu einem grundlegenden Pfadwechsel in der schwedischen Umverteilungsstrategie” (Im Heft S. 50).
Bemerkenswert ist allerdings noch etwas ganz anderes: viel dramatischer als die Verluste der Gewerkschaften war der Mitgliederschwund bei den A-Kassan. “Nahezu 400 000 Menschen haben die Veränderungen der Regierung zum Anlass genommen, ihre Mitgliedschaft in der A-Kassan zu kündigen”. Das könnte allerdings jetzt bei stärkerer Arbeitslosigkeit auch in Schweden zu einem Problem werden, “weil inzwischen in Schweden 1,1 Millionen Menschen ohne einkommensabhängige Arbeitslosenversicherung sind und somit auf die niedrigere Grundsicherung für Arbeitslose angewiesen sind.”
Ein kleines Manko hat der Beitrag von Andreas Kuhlmann allerdings, bei aller Genauigkeit der Schilderung, als ehemaliger Müntefering-Mitarbeiter ist er eben „Hartz-infiziert“ und er kann sich deshalb bei den Bewertungen der Entwicklungen in Schweden letztlich nicht so ganz entscheiden, wohin die Reise eigentlich gehen soll.
Die Krise der zentralistischen Lohnpolitik, die Meidner schon 1994 schildert, wurde ja wohl inzwischen durch das weitere Element der Dezentralisierung (mit stärkeren Elementen der „Angebotsseite“) aufgefangen (jetziges Heft S.6 und Seite 10 ff.). Unter „Angebotsseite“ wird konkret die Steigerung der Produktivität, die Weiterbildung sowie die Reorganisation von Arbeit und Produktion verstanden. Mit dieser Steigerung der Produktivität im Rahmen dezentraler Tarifverhandlungen (!) auf Betriebs- und Unternehmensebene konnten wohl nicht nur die Lohnspielräume erhöht, sondern dann auch dank der Durchsetzungsstärke in diesem Zwei-Ebenen-Tarifverhandlungssystem für die ArbeitnehmerInnen ziemlich ausgeschöpft werden. Die Krise der zentralistischen Lohnpolitik – als „solidarische Lohnpolitik“ ein wichtiger Pfeiler des nordischen Modells – konnte so bewältigt werden, so dass am Ende doch wieder lohnpolitische Erfolge standen.
Diese pragmatisch zu nennende Ergänzung auf der “Angebotsseite” durch Elemente einer Dezentralisierung der Lohnpolitik wurde noch ergänzt durch die Fiskalpolitik. Bei den Haushaltskonsolidierungen wurde in verschiedenen Richtungen operiert: Einmal wurde bei der sozialen Sicherung gespart (zu Lasten der Arbeitslosen – Palme) und es wurde der öffentliche Sektor verkleinert. (Lundberg, S.25) – aber es wurden zum anderen auch wieder Steuererhöhungen durchgesetzt – und das bei einer im Vergleich z.B. zu Deutschland schon sehr hohen Steuerquote.
Dazu muss noch wissen, dass sich das „Nordische Modell“ durch das Prinzip einer weitgehenden „Dekommodifizierung“ auszeichnet (Gösta Esping-Andersen). Das heißt, die Bürger können im Falle der Erwerbsunfähigkeit (also Krankheit, Arbeitslosigkeit, Kindergeburt oder Invalidität) ihren Lebensstandard weitgehend behalten. Dies stärkt nicht nur die gewerkschaftlich eVerhandlungsposition, sondern auch die des einzelnen Arbeitnehmers (kein so starker Zwang zur Annahme von prekären Jobs). Und gerade dieses Element macht sicher immer wieder die Popularität des „Modells“ bei der Bevölkerung aus: die Sicherung stärkerer Gleichheit gibt dem einzelnen auch ein Mehr an Freiheit.
Aber just dieses Prinzip gerät in wirtschaftlichen Krisenzeiten auf der Finanzierungsseite enorm unter Druck – und so wurde bei dem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit Anfang der 90-er Jahre (Palme S. 47) zu Einschränkungen gegriffen – ohne dieses Prinzip allerdings grundsätzlich in Frage zu stellen.
Dazu ein knapper Blick auf diese Krise:
Als kleinere Ökonomien haben die skandinavischen zunächst durch Liberalisierung der Finanzmärkte (Ende der 80-er) enorm Kapital anziehen können, gerieten dann jedoch schnell wieder unter den Druck der internationalen Finanzmärkte (die Folge war eine heftige Bankenkrise Anfang der neunziger Jahre). Während zunächst z.B. noch das Mittel der Auf- und Abwertung der eigenen Währung Spielräume für nationale Wirtschaftspolitiken ermöglichte, fiel dieses Mittel weg, als alle nordischen Länder Anfang der 90er Jahre – wohl um dem Druck der Finanzmärkte zu entkommen – sich an der europäischen Währungszone orientierten – zunächst mit der Deutschen Mark als faktischer Leitwährung und später dann mit dem Euro als Anker (zur Problematik siehe Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker, “Das Ende der Massenarbeitslosigkeit”, S. 190 ff.). Wie Flassbeck herausarbeitete, hat solch ein Leitwährungssystem den entscheidenden Defekt, dass die Notenbanken des Ankerlandes – also inzwischen die EZB (dazu Flassbeck/Spiecker, S. 189, 192 u. 201) – die Geldpolitik der Notenbanken aller „Teilnehmerländer“ definiert, und das weitgehend unabhängig von den unterschiedlichen Bedingungen der jeweiligen Wirtschaftszonen. So übten dann die unabhängig waltenden Zentralbanken mit ihrer allein am Ziel der Inflationsbekämpfung ausgerichteten Zins- und Geldpolitik in den nordischen Ländern ab diesem Zeitpunkt einen Druck auf die Lohnfindung der dortigen Gewerkschaften aus – mit einer Orientierung am deutschen Lohnniveau (Dölvik, S.14).
Die Alternative Geldwertstabilität oder ausreichende Wachstumsraten und damit auch höhere Beschäftigung – allerdings mit der Möglichkeit zukünftiger höherer Inflation (Flassbeck/Spiecker, S. 175) – kam so gar nicht mehr als eine Wahlmöglichkeit in die politische Debatte.
Die Löhne, die in einem solchen verbunden Währungssystem eine entscheidende „Stellschraube“ für die Herstellung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit blieben, wurden so immer mehr durch das sinkende bzw. stagnierende deutsche Lohnniveau bestimmt. So wurde das deutsche „Lohndumping“ auch für die nordischen Länder zum Problem (Flassbeck, S. 193), denn spätestens seit 2001 hinkten die deutschen Lohnstückkosten dem Anstieg in der restlichen Europäischen Währungsunion gnadenlos hinterher (Flassbeck/Spiecker, S. 197).
Diese ziemlich radikal gewandelten ökonomischen Rahmenbedingungen für eine Politik der Gleichheit, die hinzukommende Wirtschaftskrise in den 90-er Jahren und die einseitige Ausrichtung an der Inflationsbekämpfung führte zu einem „Pendeln“ der Sozialdemokratie in wechselnde Koalitionen zwischen der Linkspartei (mit einer Rücknahme der früheren Sozialkürzungen durch die konservative Regierung) und der Zentrumspartei (mit einer Politik der Haushaltskonsolidierung – vgl. die Phasen bei Palme, S.49). Dieses „Pendeln“ hat sicher auch zu einem Profilverlust der Sozialdemokratie geführt. (Siehe Merkel a.a.o., insbesondere zu Schweden S. 272 ff.).
In diesen Prozessen wurde auch ein zentrales Element für die ausgleichende Politik der nordischen Länder – bei den immer wieder zu betonenden Unterschieden im Einzelnen
-, nämlich die hohe Staatsquote zumindest auch auf den Prüfstand gestellt.
Die relativ hohe Staatsquote war wiederum eine wichtige Grundlage für eine frühere Weichenstellung, der zu einem beachtlichen Teil die Beschäftigungserfolge zu verdanken waren: “Mit der frühen Orientierung der nordischen Ökonomien auf einen weitgehend öffentlichen Dienstleistungssektor konnten Entwicklungspotentiale eröffnet werden, von denen die nordischen Ökonomien sowie die nordische Beschäftigung bis auf den heutigen Tag zehren” (im Heft, S. 7 – aber auch Uwe Becker, S.233 und 236). Uwe Becker spricht sogar wegen der im öffentlichen Dienst hohen Frauenbeschäftigung von einem “Staatsfeminismus”. Die hohe und sichere Beschäftigung gerade von Frauen ist sicherlich mit ein Grund, der etwa die Schweden – trotz aller Krisen – immer etwas zuversichtlicher in die Zukunft blicken lässt – denn jedenfalls ein Partner behält ein sicheres Einkommen!
Wie der Keynesianismus und seine Spielarten in den nordischen Ländern immer eine stärkere Beachtung fanden, so behielt auch das „Nordische Modell“ für die Politik stets eine prägende Kraft. So war eine zentrale Rolle der Politik für die gesellschaftliche Entwicklung weit weniger umstritten als in anderen Ländern (Lundberg, S. 26), jedenfalls ganz anders als in Deutschland, wo sich – dem neoliberalen Credo folgend – der Staat zurückziehen sollte und auch Leistungen der Daseinsvorsorge den Marktkräften überlassen werden sollten. Mit der Zuweisung einer hohen wirtschaftlichen und sozialen Verantwortung an die Politik spielten auch die andernorts so häufig zitierten angeblichen Sachzwänge der „Globalisierung“ als Ausrede für Deregulierung und Privatisierung in der politischen Debatte keine so große Rolle. Wie schon erwähnt wurden allerdings durch die Anlehnung an die Währungszone der EU die lohnpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt.
Nach anfänglichen Versuchen der Konservativen gegen die im „Nordischen Modell“ angelegte faktische Festschreibung einer „sozialdemokratischen Hegemonie“ in Form einer Gleichheitspolitik vorzugehen, hat sich im Laufe der Zeit dieses Blatt wieder gewendet. Die Werte, die nach allgemeiner Anschauung das „Nordische Modell“ ausmachen, behielten ihre Popularität bei den Wählern. Keine starke politische Kraft wagt deshalb derzeit das „Nordische Modell“ prinzipiell in Frage zu stellen. Wie auch die sog. bürgerlichen Parteien in zunehmendem Maße eingesehen haben, ist es so gut wie unmöglich, eine nationale Wahl in den nordischen Ländern zu gewinnen, wenn man radikale wirtschaftsliberale Alternativen ankündigt. Bei den Wahlauseinandersetzungen geht es eher um einen politischen Wettbewerb um eine – den veränderten Bedingungen angemessene – bessere Ausgestaltung des „Nordischen Modells“. Gleichheitspolitik gibt es inzwischen also auch unter konservativem Vorzeichen (Palme u.a., S. 49). Das hat allerdings dazu geführt, dass den Sozialdemokraten der bisherige Alleinvertretungsanspruch für diese Modell streitig gemacht wird (Lundberg, S. 29) – dies umso mehr, als auch gerade sie heftige soziale Einschnitte vornahmen.
Zurück zur dezentralen Lohnpolitik und ein vergleichender Blick auf Deutschland:
Das dezentrale/betriebliche Element (Betriebsräte) hat ja auch bei uns institutionell an Bedeutung gewonnen (z.B. Betriebsvereinbarungen). In Deutschland hat sich jedoch bei zunehmend geschwächten Gewerkschaften nie ein vergleichbar machtvolles System betrieblicher Tarifverhandlungen entwickelt. (Es blieb grundsätzlich beim Rechtsgrundsatz: Tarifvertrag (zentral) bricht Betriebsvereinbarung.) Es ist in Deutschland nicht zu einer vergleichbar durchsetzungsstarken, gewerkschaftlichen Tarifpolitik wie in den nordischen Ländern gekommen, wo betriebliche und zentrale Tarifverhandlungen sich gegenseitig eher „hochschaukelten“, um die lohnpolitischen Verteilungsspielräume auszuschöpfen. Die erheblich schlechtere soziale Sicherung – insbesondere nach den Arbeitsmarktreformen in Deutschland – schwächte die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zusätzlich, so dass unser Lohnfindungssystem auf die schiefe Ebene geriet – mit einem enormen Sog nach unten. Im Gegensatz zum „Nordischen Modell“ führte das in Deutschland zu “einer nach unten gerichteten Flexibilisierung der Lohnkosten” (im Heft S. 11).
Dem „Fördern und Fordern“ steht bei uns anders als im Nordischen Modell keine vergleichbare Einkommenssicherung zur Seite. Das nordische Lohnfindungssystem ist gegenüber dem deutschen sowohl zentralisierter als auch dezentralisierter – sowohl was die Verhandlungsmacht als auch die möglichen Verhandlungsgegenstände anbetrifft.
Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass die Autoren des Schwerpunktheftes weiter davon ausgehen, dass der Qualifikations- und Berufsschutz ein weiteres besonderes Kennzeichen des „Nordischen Modells“ sei, das eine konservierende Rolle spielt (Dölvik, S. 12; Lundberg, S. 26).
Unbestreitbar ist, dass die Tarifmacht der Gewerkschaften durch den Wegfall einer eigenen Währungspolitik und durch die Unterordnung unter das Ziel der Inflationsbekämpfung der EZB auch in den nordischen Ländern deutlich geschwächt wurde. Noch mehr sehen eine ganze Reihe der Autoren (Lundberg, S. 27 u. 25 – Dölvik, S. 15 sowie Jochem, S. 7) den Fortbestand des „Nordischen Modells“ durch die neoliberale Prägung der EU-Verfassung in Gefahr. So hat etwa die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) bei den skandinavischen Gewerkschaften wie ein Blitz aus heiterem Himmel eingeschlagen.
Lundberg meint sogar, es gebe nur geringe Chancen zur Bewahrung der vorhandenen und verfassungsrechtlich geschützten Formen der Tarifpolitik in einem integrierten Europa. (Lundberg, S. 25)
Bislang konnten die nordischen Gewerkschaften allerdings bei allem grundsätzlichen Korporatismus (vor allem beim Strukturwandel und bei der “Modernisierung” der Wirtschaft) ihre Organisationsstärke auch in heftigen Arbeitskämpfen einsetzen (z.B. Uwe Becker, S. 242). Der „Keynesianismus“ wurde in dem auf Vollbeschäftigung als dem zentralen Ziel ausgerichteten “System” nie so weit verdrängt wie bei uns (im Heft nur am Rande erwähnt (=S.11), siehe auch Uwe Becker, S.238 – vgl. weiter den IMK-Report Nr. 15 vom Nov. 2006 “Schweden als Modell…“).
Nach wie vor könnte jedoch eine Orientierung der europäischen Gewerkschaften an den nordischen Systemen („best practice“) sowie der dortige politische Kampf für deren Erhalt auch ein Ansatz für eine Wende in Europa sein – und somit endlich ein Schritt auf ein europäisches Sozialmodell hin.
Würden sich die europäischen Gewerkschaften die ökonomischen und institutionellen Zusammenhänge des „nordischen Modells“ genauer anschauen und das Zusammenspiel von Gewerkschaften, Unternehmen und staatlicher Politik gründlich analysieren, dann könnte sie davon durchaus lernen und profitieren. Man dürfte sich dazu aber nicht hinter den immer wieder angeführten Abwiegeleien verschanzen, wonach die unterschiedlichen Traditionen sowie die gänzlich verschiedenen politischen Institutionen es verhinderten, dass die bundesdeutsche oder europäische Politik etwas von den nordischen Erfolgsmodellen abschauen könnte (Jochem, S. 4).
Man müsste sich dann jedoch auch die Mühe machen, etwa die deutschen Traditionen der Gewerkschaften mit ihrer starken staatlichen Orientierung für soziale Lösungen mit den radikal reformistischen Traditionen der nordischen Länder zu konfrontieren. Die nordischen Gewerkschaften haben eben weitgehend den „Kapitalismus“ akzeptiert und prägen ihn auch im gewerkschaftlichen Interesse.
An der Wiege des „Nordischen Modells“ zwischen den beiden Weltkriegen stand keineswegs die Absicht ein neues „Modell“ zu schaffen. Das Motiv war vielmehr, von den etablierten Schablonen – hier Kommunismus dort Kapitalismus – wegzukommen und eine Volksmehrheit zu mobilisieren für zu dieser Zeit originelle Lösungen konkreter Probleme (Lundberg, S.26). Die skandinavischen Gewerkschaften – sozusagen als festinstitutionalisierte Gegenmacht auf dem Arbeitsmarkt – haben seither immer versucht, sozusagen wie “Surfer” auf den Wellenkämmen zu gleiten – mit eben diesen enormen Erfolgen für die soziale Gleichheit. Allerdings immer auch mit der Gefahr des “Absturzes” und der Notwendigkeit, sich immer wieder auf neue Situationen einzustellen. Die kontinentaleuropäischen Gewerkschaften haben traditionell eher nach einer “Überwindung” oder „Einbindung“ des „Kapitalismus“ – vor allem mit Hilfe des Staates – geschielt. Und dabei mussten die Gewerkschaften in Deutschland in den letzten Jahren mit den sozialdemokratischen Arbeitsmarkt- und Sozial-„Reformen“ herbe Schläge hinnehmen.
Die Weltwirtschaftskrise zeigt jedoch die Grenzen für das auf internationale Wettbewerbsfähigkeit und Exportorientierung ausgerichteten „Deutsche Modell“ einer Wachstumspolitik zu Lasten der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften auf. Wann, wenn nicht angesichts der gegenwärtigen Krise, wäre die Zeit gekommen, dass sich Gewerkschaften und sozialdemokratische Politik intensiver mit dem „nordischen“ Erfolgsmodell auseinandersetzten und daraus Lehren für eine Neuausrichtung zögen. Denn so viel hat die Krise schon jetzt gezeigt, ein Weiter-So kann weder für Gewerkschaften noch für eine sozial ausgerichtete Politik die Perspektive sein.
Volker Bahl war Redakteur der „Gewerkschaftlichen Monatshefte“ und Sekretär bei verschiedenen DGB-Gewerkschaften.