Ist die Geldschwemme Ursache der Finanzmarktkrise? Ein Anstoß zu ein paar Zweifeln an einer gängig werdenden These.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Man bekommt in der öffentlichen Debatte, in Talkshows und Interviews des Öfteren zu hören, weltweit strömten Billionen um den Globus und suchten nach Anlagemöglichkeiten. Die Geldschwemme stehe in keinem Verhältnis zu der Realwirtschaft. Jetzt bin ich einer ähnlichen Argumentation in Werken zweier Personen begegnet, die ich bisher als verlässlich analysierende Volkswirte kennen und schätzen gelernt habe: Michael Schlecht und Axel Troost. Ihre These kurz zusammengefasst: Die ungerechte Einkommensverteilung habe eine Geldschwemme verursacht, die wiederum verantwortlich sei für die Aufblähung der Finanzmärkte und die jetzige Krise. Ich fürchte, dass diese These auf einigen Denkfehlern beruht. Sicher bin ich mir nicht. Deshalb stelle ich meine Beobachtungen und Zweifel zur Diskussion. Albrecht Müller

Um Missverständnissen vorzubeugen, muss ich vorweg bekennen, dass ich zum Beispiel die Vorschläge von Michael Schlecht und seiner Abteilung Wirtschaftspolitik bei ver.di für ein großes Investitionsprogramm seit Beginn an teile und unterstütze. Und ich beklage genauso wie Axel Troost und Michael Schlecht die miserable Verteilung der Einkommen und Vermögen.
Aber: Muss man für eine gute Sache – eine Korrektur der Einkommens- und Vermögensverteilung – mit schlechten Argumenten streiten?

Nun aber zunächst zu den Dokumenten, die der Stein des Anstoßes sind:

A.
Axel Troost MdB

Folienvortrag zur Finanzmarktkrise
Hierbei insbesondere die Folien 20 und 21 und die dazugehörigen Texte.

B.
Michael Schlecht, Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE hat in den letzten Tagen zwei Texte veröffentlicht, zunächst eine Kurzfassung seiner Thesen in der „jungen Welt“ unter dem Titel:

B1: Ein Schirm für Beschäftigte
Die Binnennachfrage muß zur Überwindung der Rezession gestärkt werden. Ein durch eine Reichensteuer mitfinanziertes Investitionsprogramm schafft mittelfristig ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent und eine Million Arbeitsplätze
Quelle: junge Welt

und dann die ausführliche Fassung unter dem Titel:

B2: Absturz
Quelle: Die Linke [PDF – 544 KB]

Axel Troosts Folien (Folie 21) enthalten eine Abbildung mit dem Titel „Weltweite Kapitalströme“. Dort wird mit Bezug auf die Quelle „Grefe, Schumann 2008“ gezeigt, dass das „Weltweite Finanzvermögen“ von 1980-2005 von 12 Billionen US-Dollar auf 140 Billionen US-Dollar angestiegen sei. Auf der anderen Folie (20) heißt es: „Privater Reichtum: Deutsches Geldvermögen“. Es wird auf der Abbildung gezeigt, dass das Nettogeldvermögen sich in 17 Jahren, nämlich von 1991-2007, verdreifacht habe.

Die Zweifel – auch an Axel Troosts Folien – werden im folgenden als Kommentar zu einem Auszug aus dem Papier „Absturz“ von Michael Schlecht formuliert. Dort heißt es auf den Seiten 7-9:

Auszug:

(…)

Geldschwemme – Grundlage der Finanzmarktkrise

Die Schwäche der Binnennachfrage ist nicht neu. Gleichwohl ist sie in den letzten zehn Jahren besonders ausgeprägt. Im Verhältnis zu den Profiten steigen die Löhne schon seit Jahrzehnten viel zu wenig an. Selbst wenn man als Maßstab eine Konstanz des Teilungsverhältnisses des jeweils erarbeiteten jährlichen Reichtums zwischen den Unternehmern und den Beschäftigten nimmt – der sogenannte verteilungsneutrale Spielraum aus Produktivitäts- und Preissteigerungsrate – fällt die Bilanz ernüchternd aus. Heiner Flassbeck – ehemaliger Staatssekretär bei Lafontaine – hat gemeinsam mit Friederike Spiecker ausgerechnet, dass die Lohnerhöhungen in den 1980er und 1990er Jahren um rund 20 Prozent zu niedrig waren. Für den Zeitraum 1997 bis 2007 liegt das Minus wiederum bei 20 Prozent. Damit sind allein in den letzten zehn Jahren rund 500 Milliarden Euro zugunsten der Kapitalseite umverteilt worden. Die Steuerpolitik von Rot-Grün und auch von Schwarz-Rot hat darüber hinaus für eine weitere Umverteilung von unten nach oben in der Größenordnung von 500 Milliarden Euro gesorgt. Damit sind allein in den letzten zehn Jahren der Kapitalseite rund eine Billion Euro zugeflossen.

Wo sind die geblieben? Der Personenkreis, dem dieser Reichtum zugeflossen ist, ist viel zu klein, dass dieser Betrag auch nur ansatzweise konsumiert werden könnte. Soviele Maseratis, Rolls-Royce und Privatflugzeuge kann man sich gar nicht anschaffen, um eine Billion ernsthaft in Konsum umzusetzen. Der allergrößte Teil dieses Geldes ist zusätzlich in die Finanzmärkte geflossen. Ähnliche Entwicklungen sind in vielen anderen Ländern gelaufen. Und dies ist die entscheidende Ursache für eine wahre Geldschwemme.

1980 betrug das Volumen auf den weltweiten Finanzmärkten gerade einmal zehn Billionen Dollar. Heute liegt es bei rund 170 Billionen Dollar. Der weltweit geschaffene Reichtum hat sich in dem gleichen Zeitraum von rund zehn auf 60 Billionen Dollar erhöht. Während die Reichtumsproduktion in der Realwirtschaft um das sechsfache angestiegen ist, sind die Finanzmärkte mit dem Faktor 17 aufgebläht worden.

Entwicklung von Sozialprodukt und Finanzvermögen weltweit, 1980-2010 in Billionen US-Dollar

Die Umverteilung von unten nach oben ist eine entscheidende Ursache für die Aufblähung der Finanzmärkte. Jeder Euro, der in Lohnkämpfen nicht durchgesetzt wurde, stärkt das vagabundierende Kapital auf den Finanzmärkten. Jeder Euro, den wir uns nicht erkämpfen konnten, befördert die Anarchie der relativ verselbständigen Finanzmärkte. Jetzt in der Krise schlagen die Turbulenzen auf die Realwirtschaft zurück. Die Finanzmarktkrise hat bis zu einem bestimmten Punkt ihr anarchisches Eigenleben, aber sie ist letztlich nur möglich geworden weil in der Produktionssphäre die Beschäftigten in immer stärkerem Maße enteignet wurden. Große Teile des von
ihnen erarbeiteten Reichtums ist ihnen vorenthalten worden. Oder anders ausgedrückt: Die Beschäftigten haben sich nicht hinreichend durchsetzen können, bzw. haben die kapitalistische Verfasstheit der Produktionsweise mit all ihren Verwerfungen hingenommen. Insoweit ist die Finanzmarktkrise eine Krise der Produktionsweise.

Es gibt eine weitere Quelle für die Geldschwemme. Die Privatisierung der Altersvorsorge, vorwiegend in den angelsächsischen Ländern. Aber auch in Deutschland ist dieser verhängnisvolle Weg eingeleitet worden durch Riester. Allein ein Drittel des weltweit angelegten Vermögens steckt in Pensionsfonds – 30 bis 40 Billionen Dollar. In den USA müssen jetzt zwei Generationen von Rentnerinnen und Rentnern befürchten, dass sich ihre scheinbar sicher geglaubten Rentenansprüche zumindest zum Teil in Luft auflösen. Tüten packen im Supermarkt und Kloputzen zum Hungerlohn mit 70 Jahren, das wird für immer mehr alte Menschen die verbleibende Lebensperspektive. Deshalb muss die Privatisierung der Alterssicherung durch Kapitaldeckung gestoppt und umgekehrt werden. Viel besser ist es das solidarische Umlageverfahren zu stärken und auszubauen.

Fragen, Zweifel und Kommentar (AM):

  1. Die Stagnation der Masseneinkommen und der gleichzeitige teils zweistellige Anstieg der oberen Einkommen hat in der Tat zu großen Einkommenszuwächsen der Spitzenverdiener geführt. Aber die von Michael Schlecht gestellte Frage, wo diese Milliarden geblieben sind, scheint mir ziemlich unberechtigt zu sein. Zum Teil sind sie im simultanen Prozess in der Produktion als Investitionen in den Betrieben geblieben. Zum Teil sind sie als Dividenden oder als Spitzeneinkommen, Vergütungen, Boni und Abfindungen an die Spitzenverdiener geflossen. Aber wieso sollte man annehmen, dass dies zu einer Geldschwemme geführt hat, womit zugleich insinuiert wird, diese Einkommensbezieher wüssten nicht, wo und wie sie dieses Geld anlegen sollen? Man kann zum Beispiel davon ausgehen, dass Klaus Esser sehr wohl wusste, wo er seine 30 Millionen aus dem Vodafone-Deal anlegen könnte. Auch die Investmentbanker Londons, die noch im April aus dem letzten Abrechnungszeitraum 20,6 Milliarden € an Vergütungen bezogen haben, werden vermutlich besser gewusst haben, wo sie dieses Geld anlegen als jene Deutschen mit mittleren Einkommen, die ihre paar 1000 € bei Lehman Brothers angelegt haben und jetzt versuchen, auf dem Klageweg ihrer Bankberater haftbar zu machen. Und auch die Investmentbanker der Citigroup, Goldman Sachs und anderer, die in diesem Jahr noch 70 Milliarden (!) $ an Vergütungen und Boni bezogen haben, könnten sehr viel besser gewusst haben, wo sie mit ihrem Geld bleiben als manch biederer Bürger ansonsten.
  2. Es ist anzunehmen, dass zum Beispiel in den USA eine Reihe von Geldern der Spitzenverdiener als Kredite an jene aus der Unterschicht geflossen sind, die ihre Konsumkredite mit zuerst niedrigen und dann steigenden Zinsen bezahlt haben. Dem Zuwachs an Geldvermögen an der Spitze der Einkommenspyramide steht vermutlich eine Zunahme der Verschuldung der unteren Einkommen gegenüber. Die Vorstellung, dass nach einer solchen Kredittransformation der besonderen Art noch Geld herumschwämme, ist doch nicht sonderlich begründet?
    Schon die Tatsache, dass in den USA die Sparrate insgesamt ungefähr bei null oder sogar negativ ist, spricht doch dafür, das die Spitzenverdiener für ihre Geldvermögenszuwächse durchaus Verwendung fanden?
    Kann man unter Beachtung der verschiedenen Gesichtspunkte wirklich von „vagabundierendem Kapital“ sprechen? Ich weiß, dass so zu sprechen üblich geworden ist. In jeder zweiten Talkshow kann man davon hören. Das macht diesen Begriff aber immer noch nicht sehr treffend. Verschleiert er nicht mehr, als er offenbart?

    Fazit: Die Passage bei Michael Schlecht, wonach der allergrößte Teil dieses Geldes zusätzlich in die Finanzmärkte geflossen sei und dies die entscheidende Ursache für eine wahre Geldschwemme gewesen sei, ist nicht sonderlich schlüssig.

  3. Wenn es die Geldschwemme gegeben haben sollte, dann müsste man doch die Frage stellen dürfen, wo diese Geldschwemme inzwischen, also nach dem Sichtbarwerden der Krise, geblieben ist? Immerhin ist doch gerade die Citigroup in Not geraten, weil ihr mehrere 100 Milliarden fehlen. Andere Banken fehlen ähnliche Beträge. Wenn die Geldschwemme die Ursache oder auch nur die Grundlage der Finanzkrise wäre, dann müsste dieses Geld doch jetzt zur Verfügung stehen?
  4. Nicht die Geldschwemme, die aus einer ungerechten Einkommensverteilung angeblich folgte, ist die entscheidende Ursache der Finanzkrise. Entscheidend sind die spekulativen Elemente, entscheidend sind die kriminellen Akte, nämlich faule Forderungen verpackt zu haben und sie als hoch dotierte und hoch bewertete Wertpapiere weiterverkauft zu haben. Die Finanzkrise ist ganz wesentlich eine Folge des Eindringens von Wetten, Glücksspiel und Kettenbriefen in die angeblich solide Finanzwirtschaft. Wie anders sollte man die Krise der HRE, der Hypo Real Estate, oder den 10 Milliarden-Verlust der Industriekreditbank erklären? Mit den von Axel Troost und Michael Schlecht diagnostizierten Geldvermögenszuwächsen der Spitzenverdiener haben diese Glücksspiele und Spekulationen wenig zu tun.

    Die beiden Autoren mögen mir verzeihen, wenn ich zur Erheiterung der Leserinnen und Leser an dieser Stelle eine sehr viel bessere Erklärung des Kabarettisten Schmickler noch einmal verlinke.

  5. Im übrigen: Sind die in den beiden Diagrammen wiedergegebenen Zahlen wirklich eindrucksvoll? Sagen Sie das aus, was die Autoren daraus ablesen? Zwischen 1980 und 2005 ist das Weltsozialprodukt zu jeweiligen Preisen von 10,971 Billionen US-Dollar auf 45,053 Billionen gestiegen. Es hat sich also etwas mehr als vervierfacht. Wenn gleichzeitig das Weltweite Finanzvermögen von 12 Billionen US-Dollar auf 140 Billionen gestiegen ist, wieso regt man sich darüber auf? Das ist das 11,6fache und damit kein sonderlich großer überproportionaler Anstieg im Vergleich zu dem Vierfachen des Weltsozialproduktes.
  6. Mit diesem Vergleich habe ich mich jedoch auf einen Vergleich eingelassen, den ich schon als solchen nicht für sonderlich schlüssig und nicht für sinnvoll halte. Das eine, das Weltweite Finanzvermögen, ist eine Größe, die man zu einem gewissen Zeitpunkt misst. Korrekterweise hätte in der Grafik deshalb auch ein Zeitpunkt angegeben werden müssen, also zum Beispiel: „Finanzvermögen zum 1.1.2005“. Mit einer solchen Bestandsgröße, einem Vermögenswert, dann eine Stromgröße wie das Bruttoinlandsprodukt innerhalb eines Jahres, also innerhalb eines Zeitraums, zu vergleichen – ist das erlaubt? Bringt das etwas? (Bei Michael Schlecht kommt im Text noch eine Ungenauigkeit hinzu. Er spricht im Artikel für die „junge Welt“ von „Anlagevolumen“. Dies ist wiederum ein ganz anderer Begriff und hat auch mit den genannten Zahlen vermutlich wenig zu tun?)
    Ist der Vergleich der beiden Zahlen von Finanzvermögen einerseits und Weltsozialprodukt andererseits im Zeitablauf wirklich sinnvoll? Und ist die Dramatik, mit der die Veränderungen interpretiert werden auch nur andeutungsweise berechtigt? Es können strukturelle Verschiebungen stattgefunden haben zwischen 1980 und heute, die einen überproportionalen Bedarf oder auch nur die überproportionale Existenz von Finanzvermögen sinnvoll erscheinen lassen: Wenn zum Beispiel in Deutschland im Zuge der von Gerhard Schröder propagierten Auflösung der Deutschland AG – wie geschehen – Familienunternehmen, die teilweise als Personengesellschaften oder als Einzelfirmen geführt wurden, von PrivateEquityGruppen oder Hedgefonds oder auch nur von deutschen Aktiengesellschaften übernommen wurden, dann wurde Sachkapital in Finanzkapital umgewandelt. Die Familienmitglieder, die bis dahin Teilhaber eines Unternehmens waren, werden Aktionäre und damit Eigentümer von Finanzvermögen.

    Die Firma Friedrich Grohe zum Beispiel könnte ein solcher Fall sein. Das Unternehmen wurde in den neunziger Jahren – also zwischen 1980 und heute – eine Aktiengesellschaft. Wenn das Unternehmen vorher eine Einzelfirma oder eine Personengesellschaft war, dann fand im Kontext der Umwandlung die beschriebene und als dramatisch betrachtete Vermehrung des Finanzvermögen statt.

  7. Außerdem dürften im Zuge der steigenden Kapitalintensität der Unternehmen zwischen 1980 und 2005 schon deshalb die Finanzvermögen, zu denen Aktien, Anleihen und andere Wertpapiere gehören, kräftig gestiegen sein – eben auch überproportional zum Bruttoinlandsprodukt.

    Der als exorbitant empfundene Anstieg von 12 Billionen auf 140 Billionen dürfte sich also bei näherer Betrachtung als nicht besonders exorbitant erweisen. Aber das wäre zu prüfen.

  8. Noch eine Anmerkung zu der als besonders hoch betrachteten Höhe der Finanzvermögen von 140 Billionen $. Im Zusammenhang mit der Finanzkrise war seitens der Fachleute von ganz anderen Dimensionen die Rede, wenn über die Höhe der Derivate und anderen Finanzprodukte gesprochen und geschrieben wurde. Die Dimensionen der internationalen Wetten und des Casinobetriebs sind auch in Billionen gerechnet um vieles größer als das hier notierte Geldvermögen von 140 Billionen des Jahres 2005 oder von 170 Billionen heute. Da geht es um ganz andere Dimensionen. Auch das spricht dafür, dass die Zuwächse des so genannten Geldvermögens oder Finanzvermögens nicht die Ursache und auch nicht die Grundlage der jetzigen Finanzmarktkrise sind.
  9. Vermutlich gibt es noch sehr viel mehr dazu zu sagen. Ich wollte mit meinen Anmerkungen die Debatte über die hier skizzierte Erklärung der Finanzkrise anstoßen und im übrigen wie immer in den NachDenkSeiten unsere Leser dazu ermuntern, wieder zweifeln zu lernen.

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