Können wir uns vor kollektivem Wahn und seinen Folgen schützen? Die Grundsatzfrage, die am Anfang des Projekts NachDenkSeiten stand.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Und dort immer noch steht. – Vor zwei Tagen erschien in der Süddeutschen Zeitung ein bemerkenswerter Artikel. „Die gesetzliche Rente ist viel besser als ihr Ruf“ heißt es dort. Er beginnt mit der Feststellung, „Am Anfang war eine Art kollektive Gehirnwäsche“. Gemeint ist das vor „20 Jahren“ entdeckte „neue Mantra“ von „Ökonomen, Rentenexperten, Lobbyisten der Finanzindustrie und Politiker“, die gesetzliche Rente sei eine “tickende Zeitbombe”. Deshalb brauchten wir die Privatvorsorge, so die Vorstellung. – Die späte Einsicht der Süddeutschen Zeitung muss uns deshalb interessieren, weil es andere wichtige Felder der Politik gibt, auf denen die entscheidenden Personen ähnlichen fixen Ideen (Mantra) verfallen sind oder verfallen sein werden. Albrecht Müller.

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Reihenweise Beispiele für den kollektiven Wahn der entscheidenden Personen und Institutionen

Ähnlich wie bei der Debatte um den richtigen Weg zur Altersvorsorge von vor 20 Jahren geht es zu:

  1. Bei der Frage, was zu tun wäre, um Europa zu retten und was dafür die richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik wäre. Dass sich Schäuble und Merkel mit ihrer Austeritätspolitik durchgesetzt haben und dass sie dafür den Rückhalt der Meinungsführer und Entscheidungsträger in Deutschland und darüber hinaus gefunden haben, ist Ergebnis einer „Art kollektiver Gehirnwäsche“ (Süddeutsche Zeitung).
  2. Genauso die Vorstellung, Russland habe den neuen West-Ost-Konflikt begonnen. Mit der Intervention auf der Krim.
  3. Und die damit verbundene Vorstellung, man könne Kriege führen und überstehen.
  4. Genauso der Rückfall in die Fünfzigerjahre, als man meinte, Abschreckung sei die Lösung des Problems. Von Rückfall muss man deshalb sprechen, weil wir in den sechziger und siebziger Jahren mit dem Konzept von der Gemeinsamen Sicherheit in Europa schon viel weiter waren.
  5. Genauso die Abwesenheit der eigentlich leicht zu gewinnenden Einsicht, dass die große Zahl von Flüchtlingen etwas mit den Kriegen des Westens zwischen Libyen und Afghanistan zu tun hat.
  6. Genauso die Vorstellung, es sei notwendig, niedrige Löhne und niedrige Lohnnebenkosten zu haben und die Sozialstaatlichkeit sei bei uns übertrieben worden und deshalb sei die Agenda 2010 notwendig geworden. Und wir hätten einen großen Reformbedarf gehabt. Und das Gleiche gelte jetzt für die anderen Völker um uns herum.

Die Warnungen einer Minderheit sind offensichtlich ohne Relevanz. Zum Mainstream zu gehören ist attraktiv und trägt dann die für die Entscheidungsfindung notwendige Meinungsbildung.

Zu Schäubles Austeritätspolitik, zu den Klagen über die angeblich zu hohen Löhne und Lohnnebenkosten und den angeblichen Reformbedarf gab es immer Gegenstimmen:

Heiner Flassbeck, Peter Bofinger, wir in den NachDenkSeiten und ich zuvor als Autor der „Reformlüge“ und zum Beispiel mit einem Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 12. Februar 2003, wiedergegeben am Eröffnungstag der NachDenkSeiten, dem 30.11.2003. – Wir sind bei diesen Fragen bis heute in der Minderheit geblieben. Wie aus einem Automaten kommt heute, wenn die großen Entscheider gefragt werden, was den ökonomisch schwächeren Völkern in Europa zu empfehlen wäre, der Rat: Reformen. Eine Art kollektiver Gehirnwäsche, kann man in Anlehnung an die Süddeutsche Zeitung sagen.

Beim Thema Rente, Altersvorsorge, demographischer Wandel war die Lage vor 20 Jahren nicht anders.

Es gab nicht nur die von der Süddeutschen Zeitung zitierten Lästerer und Feinde der Gesetzlichen Rente. Der von der Süddeutschen Zeitung zitierte Norbert Blüm hielt dagegen. Man machte ihn zur Witzfigur. Das DIW zum Beispiel beklagte die Belastung der gesetzlichen Rentenversicherung mit versicherungsfremden Leistungen und machte Verbesserungsvorschläge. Ich selbst machte schon im November 1999 in mehreren Beiträgen für das „Kritische Tagebuch“ des WDR auf den Propagandacharakter der Attacken auf die Gesetzliche Rente aufmerksam. Und in dem im Aufbau Verlag erschienenen Buch „Mut zur Wende“ von 1997 gibt es ein ganzes Kapitel mit dem Titel „Der Generationenvertrag zur Altersvorsorge hält“. Die einschlägigen Seiten finden Sie im Anhang.

Aber recht gehabt zu haben bringt nichts. Das ist die bittere Erkenntnis.

Was bleibt? Weitermachen. Mit Ihrer Hilfe.

Nutzen Sie bitte den Artikel aus der Süddeutschen Zeitung, um in Ihrem Umfeld darüber aufzuklären,

  • dass späte Einsichten ausgesprochen teuer sind. Die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rente absichtlich abzusenken, um der Finanzwirtschaft ein neues Geschäftsfeld zu eröffnen, um dann hinterher festzustellen, es funktioniert doch nicht, ist ein gesellschaftspolitisch ausgesprochen teures Verfahren.
  • Klären Sie bitte auf darüber, dass der Niedergang Europas und die ökonomischen Krisen in den Südländern und bei unseren Nachbarn von Frankreich bis Griechenland etwas mit dem kollektiven Wahn zu tun haben, die Austeritätspolitik der Regierung Merkel und Schäuble sei vernünftig und das Gebot der Stunde heiße „Reformen“, womit wiederum der Abbau sozialer Leistungen wie zur Zeit in Frankreich gemeint ist
  • Helfen Sie mit, darüber aufzuklären, dass der Wiederaufbau des Feindbildes Russland nicht Ergebnis vernünftiger Überlegungen, sondern das Ergebnis eines tief sitzenden kollektiven Wahns ist: der in einer langen Geschichte aufgebauten rassistischen Vorurteile gegenüber Russen und Slawen zum Beispiel.
  • Helfen Sie mit, darüber aufzuklären, dass Kriege furchtbar sind, und dass man sie nur dann führen kann, wenn man zynisch genug ist und weit weg vom Kriegsschauplatz lebt.

Wir werden auf den NachDenkSeiten demnächst verstärkt und mit Unterstützung von Videos auf die Methoden mit der Manipulation und Meinungsmache zu sprechen kommen.

Zum Schluss noch eine Bitte an die Journalistinnen und Journalisten unter unseren Leserinnen und Lesern:

Es wäre wichtig und nützlich, dass gerade auch Sie mit Bezug auf die Einsicht der Süddeutschen Zeitung beim Thema Gesetzliche Rente und Altersvorsorge ihre Kolleginnen und Kollegen darauf aufmerksam machen, dass ein solcher Umweg das Ergebnis eines kollektiven Wahns ist und ausgesprochen teuer.

Vielleicht gibt es ja doch noch Kolleginnen/en, die erkennen, dass es so dumm doch nicht ist, zunächst zu einer Minderheit zu gehören, wenn die Chance besteht, dass die Mehrheit später ein Einsehen hat.

Anhang:

Titel und Auszüge aus dem Buch „Mut zur Wende“ von Albrecht Müller, 1997