Sind die Reaktionen der SPD auf die gestrigen Wahlniederlagen nur ignorant oder schon arrogant?
Nach dem weitaus schlechtesten Wahlergebnis für die SPD bei einer bundesweiten Wahl kann man die Reaktionen ihrer Spitzenpolitiker über dieses Wählervotum eigentlich nur noch entweder als ignorant oder – schlimmer – als arrogant einstufen. Ignorant, weil offenbar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird (oder werden darf), dass die weit überwiegende Mehrheit den “Agenda”-Kurs ablehnt. Arrogant, weil man offenbar nicht mehr bereit (oder ideologisch, zu borniert) ist, demokratische Voten, d.h. die Meinung der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen.
Wer in der SPD nach diesem k.o.-Schlag immer noch meint, „es sei nicht gelungen die Menschen auf dem notwendigen Weg mitzunehmen“ und dass eine Korrektur des Agenda-Kurses die „Glaubwürdigkeit“ (Christoph Matschie) in Frage stelle, erinnert an die Witzfigur, die sich immer wieder ihren Schädel gegen die Mauer schlägt, um sich darüber zu freuen, dass der Schmerz nachlässt.
Man muss sich einmal vergegenwärtigen, was ein Wahlergebnis von 21,5% bei knapp über 40% Wahlbeteiligung bedeutet: Es sagt, dass nicht einmal mehr 10% der Wahlbevölkerung bereit sind, der SPD auf dem angeblich notwendigen Weg zu folgen. Wer einen solchen Vertrauensverlust nur als „Vermittlungsproblem“ oder als Ergebnis eines schädlichen Stimmengewirrs innerhalb der Regierung abtut, leidet mindestens unter Realitätsverlust. Das wäre für Politiker schon schlimm genug, aber immerhin noch menschlich verzeihlich.
Unverzeihlich im Interesse einer demokratischen Kultur wäre es, wenn das Beharren auf der „Agenda“-Ideologie nicht nur Ausdruck von Ignoranz wäre, sondern in Arroganz umschlüge. In eine Arroganz, die das Wahlvolk für zu dumm oder zu uneinsichtig hält, einen einmal eingeschlagenen politischen Kurs als richtig oder falsch, als gerecht oder ungerecht, als wirksam oder unwirksam zur Lösung von Problemen beurteilen zu können.
Franz Müntefering hat gestern Abend in der ARD einen hoffentlich nur missglückten Satz gesagt: „Wir haben offensichtlich, was die Bundespolitik angeht…noch nicht das Vertrauen der Menschen für die Inhalte unserer Politik so weit,(?) wie wir sie brauchen.“ Wollte er sagen, „wir haben das Vertrauen noch nicht so weit“ oder „wir haben sie (die Menschen) noch nicht so weit, wie wir sie brauchen“? Letzteres wäre dann nicht mehr weit weg vom Brechtschen Sarkasmus, dass es am Besten wäre, wenn sich die Regierung ein neues Volk wählte.
Hoffentlich war das nur ein Versprecher. Aber wenn man an die unternehmergesteuerten Kampagnen der in der „Aktionsgemeinschaft Deutschland“ zusammengeschlossenen Initiativen und an einen Großteil der Leitartikler in unseren Zeitungen denkt, kann man sich des Eindrucks nicht mehr erwehren, als habe die Politik insgesamt keine andere Alternative, als die Menschen so aus- (oder ab-) zurichten, wie sie für die Durchsetzung der Interessen der Wirtschaftsverbände gebraucht werden. Vieles öffentliche Gerede etwa vom angeblichen „Besitzstandsdenken“, von den „rückwärtsgewandten Gewerkschaften“, von den „Vermittlungsproblemen“ etc. deutet darauf hin, dass diese Grundeinstellung vom dummen, uneinsichtigen Volk ziemlich verbreitet ist. Das heißt politisch: Es greift ein Denken um sich, das Demokratie für untauglich, zumindest aber für lästig hält, wenn es um die Durchsetzung des anglo-amerikanischen Modells einer Wirtschaftsgesellschaft geht.
Übrigens: Wer sich in der SPD damit trösten sollte, dass bei den Europawahlen in allen Ländern vor allem die Regierungsparteien abgestraft wurden, sollte erstens nach Spanien schauen. Dort könnte er dann vielleicht lernen, wie eine die Wählermeinung ernst nehmende Sozialdemokratie auch Erfolge erzielen kann. Und zweitens sollte er nicht übersehen, dass in den meisten Ländern Europas eher die Politik neoliberaler „Reformen“ abgestraft wird, bei der es für die Wähler beliebig geworden ist, ob nun die Konservativen oder die Vertreter der „Neuen Mitte“ die Regierung bilden und den Sozialstaat abbauen.
Es tröstet auch wenig, darauf zu hoffen, dass die CDU/CSU – wenn sie denn an die Regierung käme – noch stärker abgestraft würde. Die SPD wäre dann nämlich nur noch eine kleine und schwache Oppositionspartei unter anderen. Wie viele Wahlkatastrophen braucht die SPD eigentlich noch, um sich wieder daran zu erinnern, dass sie eben nur als verlässliche Partei der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs Mehrheiten gewinnen kann? Merke: Man gewinnt Mehrheiten nicht „mit“ der Mitte sondern allenfalls „in“ der Mitte.
p.s.: „Noch hätte Gerhard Schröder – der ja die unselige Reformdebatte nicht erfunden hat – die Chance, die Bayern-Wahl zur Kurskorrektur zu nutzen. Damit zu warten, bis weitere Landtagswahlen verloren sind, macht wenig Sinn.“ So endet ein Beitrag von Albrecht Müller in der Süddeutschen Zeitung vom 25.9. letzten Jahres. Diesen Beitrag, wie auch einen weiteren zur Analyse des Europawahlergebnisses relevanten Aufsatz, abgedruckt in der FR vom 27.5.2002 (!), finden Sie in der Rubrik „Veröffentlichungen der Herausgeber“.