Sozialdemokraten haben sich als gestaltende Kraft verabschiedet
Es ist höchste Zeit, dass die Linke in Europa endlich wieder eine klare Orientierung bietet. Von Albrecht Müller, Frankfurter Rundschau.
Es steht nicht gut um die Linke, um Sozialdemokraten und um Grüne – in Europa und weltweit. Die Sozialdemokraten haben in wenigen Jahren die Macht in Spanien und Portugal, in Italien und Österreich, in Dänemark und Norwegen verloren; jetzt auch in Frankreich und in den Niederlanden. Mit den Wahlen haben die Sozialdemokraten und Sozialisten zugleich Einfluß auf das politische Geschehen in Europa und in der Welt eingebüßt. Die Totenstille um die sozialistische Internationale ist symptomatisch dafür. Und dies alles nach einer Blüte der Macht in der Mehrheit der Länder Europas.
In den deutschen Medien wird diese Entwicklung ausführlich kommentiert. Das ist verständlich, weil natürlich zur Diskussion steht, ob diese Entwicklung ein Omen für die Wahl in Deutschland sein wird. Es werden verschiedene Ursachen erörtert; man greift auf Dahrendorfs These vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters zurück, oder man weist den Niedergang der angeblich mangelhaften Reformbereitschaft zu und den schlechten Zeiten, die angeblich die Finanzierbarkeit des Sozialstaats verunmöglichen; oder der Undankbarkeit der Wähler. Eines der sonst gängigen Erklärungsmuster fehlt bisher noch: der Hinweis auf die mangelnde Geschlossenheit. Er fehlt zurecht, denn geschlossen sind die meisten sozialdemokratischen Parteien – bis zur Totenstarre.
Über eine andere, eigentlich naheliegende Erklärung des Niedergangs steht wenig zu lesen: die Sozialdemokraten haben sich im Laufe der letzten zehn bis zwanzig Jahren als konzeptionelle und gestaltende Kräfte, (und sogar als analytische Kraft) verabschiedet. Das ist der Kern der Entwicklung und zugleich die wichtigste Ursache ihres Niedergangs. Ihre führenden Kräfte bieten keine Perspektive, die mitreißen könnte, keine interessanten Gedanken; ihre Wertorientierung ist auf das übliche Normalmaß der Wirtschaftsliberalen eingedampft. Auch sie trauen den Menschen und sich selbst nicht mehr zu als die Orientierung am Eigennutz.Die Hegemonie über das Denken und Gestalten liegt bei den Konservativen: sie bestimmen ganz wesentlich die Außen- und Sicherheitspolitik – interessenorientiert und bereit zum Einsatz militärischer Gewalt; sie prägen vor allem die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Auch in Europa gilt das wirtschaftsliberale Glaubensbekenntnis. Auch die meisten sozialdemokratischen und grünen Parteien Europas haben sich dieser in Politik, Wissenschaft und Medien grassierenden Ideologie gebeugt, wenn auch ihre Praxis gelegentlich noch durchwirkt ist von ihren traditionellen gesellschaftspolitischen Vorstellungen und ihren guten Erfahrungen mit sozialstaatlichen Regelungen. Aber als modern gilt auch bei den Sozis und den Grünen, wer den Washington Consensus auswendig kennt: privatisieren, deregulieren, also rundum entstaatlichen, liberalisieren, flexibilisieren. Diesem Götzen haben am Ende auch jene ihr Opfer gebracht, die anders anfingen: Jospin z.B. mit einem Wahlkampf ohne eigenes Profil. Aber es hat nichts genutzt, die Wähler haben das Original gewählt oder noch weiter rechts.
Die niederländischen Sozialdemokraten waren von den Modernisierern unter den europäischen Sozialdemokraten wie eine Monstranz herumgetragen und vorgezeigt worden. Sie hatten “Reformen” am Sozialstaat betrieben, die von Neoliberalen und Modernisierern ähnlich innig gelobt worden waren. Was nun? Sie gelten neben Britisch New-Labour als Musterbeispiel für die Gewinner-Strategie des In-die-Mitte-Rückens. Was nun? Noch einen Zahn beim “Reformieren” zulegen? Einige Berater der Sozialdemokraten empfehlen diese Erhöhung der Dosis an “Reformen”und “Modernisierung”. Das wird tödlich werden, denn die Räumung der eigenen Bastion entmutigt die eigenen Anhänger, bestätigt das konservative Original und verschiebt die Ordinate zugunsten der noch weiter rechts Stehenden.
Die in den sozialdemokratischen Parteien bestimmenden Kräfte, jene, die sich auch Modernisierer nennen, sind Gefangene ihrer Anpassung an das konservative Milieu und an die dort virulenten Ideologien. Sie sind deshalb blind dafür, daß Millionen Menschen Orientierung suchen. Und sie merken gar nicht, wie modern die traditionellen Erkenntnisse der Sozialdemokratie, ihre Werte und Konzeptionen sind, und wie desavouiert und gescheitert die Wirtschaftsliberalen und Konservativen mit ihrer Ideologie sind. – Das ist schon ein Treppenwitz der Weltgeschichte: die Linke würde gerade heute als orientierende Kraft gebraucht – und hat sich als solche davongemacht. Ängstlich, defensiv, selbstkasteiend – typisch dafür das alte Schröder-Blair-Papier.
Es ist an der Zeit, den sozialdemokratischen Gestaltungswillen wieder sichtbar werden zu lassen. Es ist an der Zeit, mit eigenen Vorstellungen Orientierung zu bieten – selbstbewußt und offensiv statt die neoliberalen Parolen nachzubeten. Die Gelegenheiten sind gut:
Das neoliberale Modell ist da, wo es in der Praxis erprobt wurde, gescheitert. Die wirtschaftsliberalen Berater der Chicago Schule und der internationalen Finanzorganisatioen haben Millionen Menschen ins Unglück gestürzt. In Rußland und vielen anderen Reformstaaten Mittel- und Osteuropas hat die Wende von 1989 den Menschen dank dieser famosen Ratschläge nichts gebracht. Im Gegenteil. Rußland hat 10 Jahre nach der Wende gerade mal 64% des Bruttoinlandsprodukts von 1989 erreicht, die Ukraine nur 33,5% und Moldawien nicht einmal ein Drittel. Und die Vermögenswerte und Ressourcen dieser wie anderer sogenannter Reformstaaten sind von den eigenen Eliten im Zusammenspiel mit westlichen Politik- und Finanzkreisen ausgeplündert worden. – Mit neoliberalem Purismus wurden die Volkswirtschaften in Südostasien und Argentinien in die Krise gestürzt. Auch Europa hat sich der neoliberalen Reformpolitik verschrieben und kommt seit zehn Jahren nicht aus der Krise.
Die Sozialdemokraten hocken bisher ängstlich in der Ecke, manche von ihnen bewundern die wirtschaftliberalen Gurus. Es ist Zeit, daß sie diese Ecke verlassen und endlich alle Möglichkeiten der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik einsetzen: eine Reformpolitik zugunsten der breiten Schichten und eine expansive Konjunkturpolitik. Da sind die Amerikaner wirklich Modell. Sie haben in ihrem eigenen Laden schamlos jene Instrumente eingesetzt, die ihre neoliberalen Puristen den Europäern bisher “verboten” haben. Das ist clever und es ist dumm von den Europäern, daß sie das nicht merkten. Welch eine Chance für eine offensive Sozialdemokratie.
Es ist an der Zeit, die Vorstellung aufzugeben, Privatisierung und Deregulierung seien per se etwas Gutes. Wieviel Staat wir brauchen, was öffentlich und was privat “produziert” wird, das ist keine ideologische, sondern eine praktische Frage. Die uralte sozialdemokratische Erkenntnis, daß sich nur Reiche einen armen Staat leisten können, gilt heute in vielen Bereichen wieder. Wir brauchen öffentliche Investitionen in der Bildungspolitik, um die Begabungsreserven auch der Kinder aus den weniger begüterten Familien zu fördern. Schutz vor Verbrechen sollte bei uns in Europa in den Händen des Staates bleiben; wir wollen keine Zweiteilung, in jene, die sich Mauern und Stacheldraht um ihre Häuser leisten können und in jene, die das Geld dafür nicht haben. Und selbst den neoliberalen Briten und ihrem Premier Blair dämmert es, daß die privatisierte Eisenbahn vielleicht doch nicht das Gelbe vom Ei ist. Eine gute Infrastruktur ist ein wichtiges Pfund. Sozialdemokraten standen mal dafür, daß sie das Verhältnis von privater zu öffentlicher Organisation zu optimieren vermochten und dabei auch an die Schwächeren dachten. Sie bräuchten sich auf dieses gute Erbe nur zu besinnen statt die Parolen der Konservativen nachzuplappern. Und schon böten sie Orientierung.
Soziale Sicherheit ist das Vermögen der kleinen Leute. Das ist die Realität, die übrigens auch dadurch bestätigt wird, daß es keinen Run auf die Riesterrente gibt. Sozialstaatlichkeit ist in Deutschland sogar im Grundgesetz zugesichert. Wann endlich sagen die Sozialdemokraten einhellig, daß ein Verfassungsfeind ist, wer an die Wurzel dieser Verfassungszusage rührt?
In Erfurt zeigte sich, wie verrottet das konservative Bild vom Menschen ist. Junge Menschen werden auf Leistung getrimmt, indem man ihnen droht, sie ins Loch fallen zu lassen, wenn sie versagen. Tausende sozialdemokratischer Lehrer haben jahrzehntelang für eine andere Vorstellung von der Entwicklung junger Menschen geworben und daran gearbeitet. Die europäische Sozialdemokratie bräuchte nur auf dieses gute und durch Wissen erarbeitete Erbe zurückzugreifen. Sie läge damit meilenweit vor den ökonomistischen und engstirnigen Leistungsvorstellungen der neuen Konservativen.
Die Gelegenheiten für eine neue Offensive der Sozialdemokraten sind da, auch beim klassischen Feld der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Sie haben sich im neoliberalen Jahrzehnt in skandalöser Weise auseinander entwickelt. Die Sozialdemokraten tun gut daran, die Thematisierung und Aufarbeitung dieses Skandals nicht den LePens und Stoibers zu überlassen. LePen hat in typisch national-sozialistischer Manier das Gefühl vieler in den unteren Einkommensschichten angesprochen, ungerecht behandelt zu werden, ohnmächtig zu sein. Wenn die deutsche Antwort auf ein ähnliches Empfinden weiter Kreise bei uns “Blut, Schweiß und Tränen” sein sollte, wie es der Meinungsforscher und Kanzlerberater Güllner im “stern” empfiehlt, dann gute Nacht.
Und dann das klassische Thema: Wie sichern wir den Frieden in der Welt, wie kommen wir dem Terror bei? Wie sorgen wir dafür, daß das Geld der Steuerzahler nicht in Rüstungsprojekten verpulvert wird? Und wie dafür, nicht nur als Anhängsel der USA zu erscheinen? Auf diesem Feld hat die Linke viel Profil verloren. z.T. aus eigener Schuld: der Labour-Mann und Nato-Generalsekretär Robertsen muß sich nicht als oberster Kriegsherr aufführen, wenn es um so etwas trauriges und unsozialdemokratisches wie das Bombardement von Häusern und Fabriken in Jugoslawien geht; und der deutsche Verteidigungsminister muß zum gleichen schmutzigen Krieg nicht jeden Tag eine Pressekonferenz veranstalten. Das sind vergangene Ereignisse, aber sie haben deutlich zur Orientierungslosigkeit beigetragen. Die Linke könnte einiges wiedergutmachen, wenn sie noch klarer machen würde, daß der Kampf gegen den Terror für sie zu aller allerletzt eine militärische Angelegenheit ist, und lange vorher ein Problem der inneren Sicherheit und der Hilfe für Völker und Menschen, die meinen, Nichts mehr verlieren zu können, weil es ihnen so elend geht und weil ihre Probleme nicht gelöst werden wie etwa in Nahost.
Die Linke könnte neue Orientierung geben, wenn sie klar Position bezöge gegen das sich abzeichnende Wettrüsten zwischen Europa und den USA – ein Wahnsinn, der da ins Haus steht – und wenn sie die Profilierung Europas auch gegenüber den USA damit betreiben würde, daß dieser alte Kontinent den Frieden mit anderen Völkern und Religionen wie dem Islam sucht und nicht eine neu eingefärbte koloniale Vorherrschaft installiert.
© Frankfurter Rundschau / 27. Mai 2002