Neoliberalismus ist Mist, die Riester-Rente wird scheitern – das wusste Horst Seehofer auch schon vor zwölf Jahren und wacht erst jetzt auf? Schade.
Der CSU-Vorsitzende und Bayerische Ministerpräsident Seehofer hat am Wochenende hart über den Neoliberalismus geurteilt und eine Korrektur der Rentenpolitik verlangt. (Siehe hier im Hinweis Nr. 6) Die Riester-Rente sei gescheitert. Das Rentenniveau müsse wieder angehoben werden, um die weite Kreise betreffende Altersarmut zu vermeiden. Für mich ist das wie ein Déjà-vu. Der CSU-Abgeordnete Seehofer hat am 30. August 2004 freundlicherweise (zusammen mit Wibke Bruhns) mein Buch „Die Reformlüge. 40 Denkfehler …“ vorgestellt und dabei betont, dass er praktisch mit allem übereinstimme, was in dieser Kritik des Neoliberalismus, der Agenda 2010 und insbesondere der privaten Altersvorsorge (wie Riester-Rente) zu lesen ist. Warum dieses Bekenntnis Horst Seehofers dann in den entscheidenden Jahren von 2004 bis heute keine Folgen für die praktische Politik hatte, ist nicht zu begreifen. Wie glaubwürdig ist seine Kurskorrektur heute? Albrecht Müller.
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Was wir heute über die Mängel der verschiedenen Methoden der Privatvorsorge und über die Vorteile der gesetzlichen Rente und des Umlageverfahrens wissen, wussten wir auch schon vor zwölf Jahren und früher. Zum Beispiel:
- Privatvorsorge-Modelle wie die Riester-Rente oder die Rürup-Rente sind teurer in der Verwaltung und im Betrieb und unsicherer in der Renditeentwicklung
- Der Betrieb des Umlageverfahrens kostet ca. ein Prozent der eingenommenen Beiträge, die Privatvorsorgemodelle verschlingen 10 % und weit mehr der eingenommenen Prämien. Das folgt daraus, dass bei der Privatvorsorge Vertriebskosten, Werbekosten, Verwaltungskosten und die Gewinne der Versicherungskonzerne zusätzlich anfallen.
- Wie unsicher die Renditevorstellungen sind, erleben wir heute. Am Anfang der Privatvorsorge waren zehn und sogar 11,5 % Rendite versprochen worden.
- Die Privatvorsorge ändert nichts an demographischen Veränderungen.
Obwohl man dies alles wusste, sind Millionen Menschen auf einen Irrweg geschickt worden.
- Sie haben Riesterverträge abgeschlossen und merken jetzt, dass sich das nicht rentiert, es sei denn sie werden uralt.
- Sie haben mit dem Abschluss von Verträgen für die betriebliche Altersvorsorge mit der sogenannten Entgeltumwandlung auch hingenommen, dass dadurch ihre gesetzliche Rente reduziert wird.
- Wir alle haben für diesen Irrweg gezahlt. Als Steuerzahler. Wir haben die Steuerausfälle und die Zulagen von Riester-Rente und Rürup-Rente bezahlt, obwohl dies klare Subventionen des Steuerzahlers für private Interessen sind.
- Auch jene Menschen haben als Mehrwertsteuerzahler und Lohnsteuerzahler die Subventionen mitgetragen, die angesichts ihres niedrigen Einkommens und hoher Kosten für die Familie gar kein Geld für den Abschluss einer Privatvorsorge übrig haben.
Infame Verkaufsstrategien
- Um den Verkauf der Privatvorsorge-Verträge anzukurbeln sind die erwähnten Subventionen gezahlt worden, aber nicht nur das: die Leistungsfähigkeit des Konkurrenzproduktes gesetzliche Rente wurde systematisch abgesenkt. Das ist auch bewusst so gemacht worden. Der Lobbyist der Versicherungswirtschaft und Professor Bernd Raffelhüschen hat das in einem Interview für den Film Rentenangst wunderbar bezeugt.
- Es wurde bewusst die junge Generation gegen die alte aufgehetzt, um auf diese Weise die Bereitschaft der Jungen, Privatverträge abzuschließen, zu steigern.
Was jetzt notwendig und sinnvoll ist:
- Konzentration aller Mittel auf die Gesetzliche Rente.
- Anhebung des Rentenniveaus auf den früheren Stand
- Notfalls Erhöhung der Beiträge für die gesetzliche Rente. Aber keine Sorge: jene Beiträge, die jetzt zum Beispiel für die Riester-Rente bezahlt werden müssen, sind höher, als nötig sein wird, wenn wir das Niveau der Gesetzlichen Rente erhöhen.
Fehlleistungen der Politik bleiben meist ohne Sanktionen, ohne Strafe. Das ist eine fatale Fehlentwicklung. Wenigstens sollten wir uns noch daran erinnern, wer die Hauptmatadore der Privatvorsorge waren und sind:
- Die Versicherungskonzerne und Banken. Diesen Unternehmen sollten wir ihr Eintreten für die Privatvorsorge nicht übel nehmen. Das gehört zu ihrem Geschäft. Anders sieht das mit Politik, Publizistik und Wissenschaft aus:
- Der frühere Bundeskanzler Schröder und die ihm folgende Bundeskanzlerin Merkel haben in wechselnden Funktionen die Privatisierung der Altersvorsorge betrieben. Außerdem:
- Walter Riester, der Namensgeber
- Franz Müntefering. Er hat mit unglaublichen Vergreisungsprognosen die Debatte pro Privatvorsorge angeheizt.
- Genscher und die gesamte FDP
- Auch die CSU hat mitgemacht, einschließlich Horst Seehofers.
- Die Deutsche Rentenversicherung hat sich zwischenzeitlich breitschlagen lassen, bei der Propaganda für Privatvorsorge mitzuhelfen.
- Die Wissenschaftler, oder sogenannte Wissenschaftler, in ihrer Funktion als Lobbyisten: Rürup, Raffelhüschen, Miegel, Börsch-Supan, und viele mehr.
- Der Spiegel, die Bild-Zeitung und nahezu alle Tageszeitungen
- Fernsehsender und Radiosender. Ganze Wochen wurden mit der Dramatisierung des demographischen Wandels gefüllt.
- Finanztest und an vorderer Front sein früherer Chefredakteur Hermann-Josef Tenhagen
Es waren Heerscharen von Propagandisten, die uns auf den Irrweg geschickt haben. Wissentlich. Als Lobbyisten. Deshalb bleibt wirklich die Frage, ob das für eine Demokratie wichtige Instrument von Belobigung und Sanktionen noch funktioniert. Es funktionierte in diesem Bereich nicht. Deshalb hat auch die Demokratie nicht funktioniert. Und deshalb der Irrweg.
Seehofers Strategie, eine Wahlkampfstrategie
Dass sich Horst Seehofer jetzt an frühere Erkenntnisse erinnert, hat vermutlich viel mit Wahlkämpfen zu tun. Wenn es ihm gelingt, der SPD damit auch die Chance zu klauen, endlich eine Kurskorrektur ihrer fatalen Altersvorsorge-Politik zu machen, dann wird das zu weiteren Verschiebungen der Wahlchancen zulasten der SPD und zugunsten der Union führen.
In Anhängen folgen jetzt noch einige Informationen zu oben erwähnten Dokumenten, Texten usw.:
- Anhang 1: Ein Bericht zur Buchvorstellung von Die Reformlüge mit Horst Seehofer
Alternativen zum „sozialen Ausverkauf“
Generalanzeiger Bonn 31.8.2004. Das aktuelle politische Buch – Brandts Planungschef rät Schröder zum Kurswechsel. Von Helmut Herles.
BERLIN. Es war eine Montagsdemonstration besonderer Art. Horst Seebofer (CSU) und Albrecht Müller (SPD) gemeinsam mit Wibke Bruhns als Moderatorin in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz gegen Gerhard Schröders Reformpolitik. Wobei Müller – früherer Redenschreiber bei Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller, 1972 als Öffentlichkeitsarbeiter der SPD verantwortlich für den Wahlkampf Willy Brandts und von 1973 bis 1982 Leiter der Planungsabteilung im Bonner Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt – dem CSU-Politiker in der Kritik nicht nachstand. Seehofer sagte, zum erstenmal in der Geschichte drohe die Gefahr, „dass die Kosten einer Reform höher sind als der Ertrag“. Müller warf den Modernisierern vor, sie „bewegen sich wie die Hamster im Laufrad“.
…
Der SPD- und der CSU-Poliliker sehen den Neoliberalismus ihrer Parteien als Gefahr. Müller zitiert düster George Orwells „1984″: „Wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten, wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.“ Dennoch sind Seehofer und Müller überzeugt, dass sie beide „konstruktiv und optimistisch“ seien. Das Buch widerlege Untergangsvorstellungen zur demografischen Entwicklung, den Wachstumschancen, zur mangelnden Wettbewerbsfähigkeit, der angeblichen Erosion des Normal-Arbeitsverhältnisses und beschreibt die Sozialstaatlichkeit als eine „moderne und erhaltenswerte Regel unseres Zusammenlebens“. - Anhang 2: Links zu den einschlägigen Kapiteln, den Denkfehlern Nr.5, Nr. 6 und Nr. 7:
Denkfehler 5:
»Wir werden immer weniger!«
(Ohne Link)
Denkfehler 6: »Wir werden immer älter. Der Generationenvertrag trägt nicht mehr.«
Albrecht Müller. Auszug aus „Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“ / München 2004
Quelle: Denkfehler Nr. 6: „Wir werden immer älter …“ [PDF – 117 KB]
Denkfehler 7: „Jetzt hilft nur noch private Vorsorge.“
Auszug aus dem Buch „Die Reformlüge – 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“, von Albrecht Müller.
- Anhang 3: Aufriss und Inhaltsverzeichnis von Die Reformlüge:
„Die Reformlüge – 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“.