Anja Reschke – Journalistin des Jahres? Unter den Blinden ist die Einäugige Königin. Die Medien schaffen es nicht, die Gründe für ihren Vertrauensverlust zu erkennen.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Am 15. Februar wurde die Chefin Innenpolitik des NDR und zugleich Moderatorin von Panorama und ZAPP zu ihrer Wahl zur „Journalistin des Jahres“ gefeiert. Prämiert wurde ihr Kommentar vom 5. August 2015 mit dem Titel „Aufstand der Anständigen“ (Anlage 2). Ihre Dankesrede wurde sehr gelobt, unter anderem vom sogenannten medienkritischen Portal „Über Medien“. Sogar die NachDenkSeiten haben diese Lobeshymne in die Hinweise übernommen. Das war ein bisschen vorschnell. Frau Reschke macht manches gut und vermutlich manches auch besser als ihre Kollegen. Aber die Hauptgründe für den Vertrauensverlust der Medien erkennt sie genauso wenig: Das Versagen der Medien als kritischer Instanz und ihre Einbindung in Kampagnen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Albrecht Müller.

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  1. Kampagnenjournalismus blüht.

    Keine der großen gesellschaftspolitischen und sicherheitspolitischen Entscheidungen ist ohne massive Meinungsmache zustande gekommen. Journalistinnen und Journalisten haben sich daran fleißig beteiligt. Wer das nicht sieht oder sogar rechtfertigt, hat keinen Preis verdient.

    Es gibt viele Beispiele und Belege dafür, dass sich JournalistInnen in Deutschland willig und ohne zu zögern in Kampagnen einspannen lassen. Kampagnen wurden gefahren

    • gegen die „Pleitegriechen“,
    • für den Jugoslawien Krieg und für andere Militäreinsätze,
    • gegen Putin und Russland,
    • für die Agenda 2010,
    • zur Beschönigung der wirtschaftlichen Lage und ohne Rücksicht auf das wirtschaftliche Wohlergehen der vernachlässigten Mehrheit unseres Volkes, „uns allen geht es gut“ wurde suggeriert,
    • für die Austeritätspolitik und die schwarze Null des Herrn Schäuble,
    • für den Exportweltmeister Deutschland, vom damit verbundenen Export von Arbeitslosigkeit haben die meisten Medien offensichtlich noch nichts gehört; sie feiern in der Regel den Exportüberschuss ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für befreundete Völker und die Eurozone,
    • für die offenen Arme von Bundeskanzlerin Merkel,
    • zur angeblichen Sozialdemokratisierung der Union,
    • gegen die roten Socken und die Linken,
    • für Hillary Clinton und gegen ihren demokratischen Widersacher Sanders.

    Die Liste ließe sich sehr verlängern. Im Einzelnen gehe ich beispielhaft auf folgende Kampagne ein:

    Kampagne zum demographischen Wandel, zur Zerstörung der Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rente und zur Förderung der privaten Altersvorsorge

    Die Versicherungswirtschaft und die Banken haben in den neunziger Jahren nach neuen Geschäftsfeldern Ausschau gehalten und in der Altersvorsorge ein solches Geschäftsfeld entdeckt. Sie haben schon im Bundestagswahlkampf 1998 mit großflächigen Anzeigen massiv für die Umstellung auf private Altersvorsorge geworben. Schon damals war für aufmerksame Zeitgenossen erkennbar, was gespielt wird.

    Die Mehrheit der JournalistInnen hat das offensichtlich nicht gemerkt. Sie hat sich stattdessen an den Kampagnen zur Dramatisierung des demographischen Wandels, zur Schmähung und Erosion des Vertrauens in die Gesetzliche Rente und zur Werbung und finanziellen Förderung für Privatvorsorge beteiligt. Es kann ganz und gar nicht ausgeschlossen werden, dass dabei neben Nichtwissen auch politische Korruption im Spiel war. Schließlich ging es um viel Geld. Und die Zeichen der politischen Korruption sind überdeutlich.

    Das Ergebnis dieser Veränderung der Altersvorsorge: Es wurden teure und ineffiziente Modelle der privaten Altersvorsorge wie etwa die Riester-Rente, die Rürup-Rente und die Entgeltumwandlung für die betriebliche Altersvorsorge eingeführt. Vieles hat sich als Flop erwiesen. Obwohl diese Erkenntnis gerade im „Spiegel“ dieser Woche von deutschen Nationalökonomen verkündet wurde und deshalb aktuell ist, ist das für die Preisträgerin Reschke wie für die anderen Journalistinnen und Journalisten, die sich über den Glaubwürdigkeitsverlust der Medien Gedanken machen, kein Thema. Ich wiederhole: die Medien sind mit ihren Kampagnen mitverantwortlich für die Altersarmut vieler Menschen. Und sie reflektieren nicht einmal über diese Mitverantwortung.

    Kampagnenjournalismus gibt es in den Augen dieser Medien nicht. Deshalb betrachten sie diese Charakterisierung als Beleidigung. Eine wahrliche Groteske.

    Es folgt hier eine Serie von Folien aus meiner PowerPoint Präsentation zum Thema demographischer Wandel und zur geforderten Umstellung auf Privatvorsorge. Dabei wird sichtbar, dass viele verschiedene Medien an dieser Kampagne mit gestrickt haben. Es gibt ein paar rühmliche Ausnahmen.

    Zu nennen ist der verstorbene Frank Schirrmacher. Er hat zunächst mit seinem Buch „Das Methusalem-Komplott“ zur Dramatisierung des demographischen Wandels beigetragen, dann aber später – im Gespräch -eingeräumt, dass er damit die schlimmen Konsequenzen für die Gestaltung der Altersvorsorge nicht anstoßen wollte. Er hat angeregt, sich gesellschaftlich auf die Veränderung der Altersstruktur einzustellen. Diese Anregung ist absolut berechtigt.

    Zu nennen ist dann die Dokumentation „Rentenangst“, die die beiden Journalisten Dietrich Krauss und Ingo Blank 2008 für den Saarländischen Rundfunk produzierten. Das ist ein Meisterstück an Aufklärung. Dietrich Krauss, der heute im Trio der Macher der Anstalt (ZDF) mitwirkt, wäre übrigens ein würdiger „Journalist des Jahres“ gewesen.

    Nun also noch einmal der Link zur PowerPoint Demonstration zum Thema demographischer Wandel und Altersvorsorge. Sie dürfen diese Folien übrigens nutzen und auch weiterverbreiten.

    Jetzt komme ich zum zweiten, anfangs genannten wichtigen Grund für den Vertrauensverlust der Medien:

  2. Das Versagen der Medien als kritischer und informierender Instanz, dargestellt und belegt am Beispiel der Preisverleihung an Frau Reschke und die anderen Preisträger.
    1. Frau Reschke hat eine Dankesrede gehalten. Das sich als medienkritisch verstehende Portal „Über Medien“ hat auf die Preisverleihung hingewiesen und zugleich die Rede von Frau Reschke veröffentlicht. „Wir dokumentieren die bemerkenswerte Rede mit freundlicher Genehmigung Reschkes in einer gegenüber dem frei gesprochenen Wort leicht redigierten und präzisierten Fassung“, heißt es bei “Über Medien“.

      Weder in Frau Reschkes Dankesrede noch in der Ankündigung des Portals „Über Medien“ werden wir über die wichtigsten Umstände der Preisverleihung informiert:

    2. Wir erfahren nicht, wer die preisverleihende Instanz genau ist. Der normale Leser zum Beispiel des Hinweises auf den NachDenkSeiten vom 19. Februar wird vermutlich annehmen, dass die Auszeichnung als „Journalistin des Jahres“ von einer anerkannten Instanz verliehen wird. Gesprochen wird darüber nicht. Warum nicht? Frau Reschke bedankt sich nicht einmal beim Stifter des Preises. Das ist ungewöhnlich. Auf dem zur Preisverleihung abgebildeten Foto erkennen wir im Hintergrund der Preisträgerin, dass der Preisverleiher offensichtlich ein Magazin mit dem Namen „medium magazin für Journalisten“ ist. Wir erfahren nicht, wer hinter diesem Magazin steckt. Wir müssen recherchieren, um ein paar Informationen über das „medium magazin“, über die Redaktion und den Eigentümer zu erhalten.
    3. Wir erfahren nicht, ob der Preis mit einer finanziellen Anerkennung verbunden ist.
    4. Wir erfahren nicht, wer die offensichtlich große und solide ausgerichtete Preisverleihung bezahlt hat.
    5. Wir würden gerne wissen, was das Portal „Über Medien“ mit der Preisverleihung zu tun hat. Schließlich soll es sich doch um ein medienkritisches Portal halten. Einer der beiden Träger des Portals, Stefan Niggemeier, macht am Rande der Feier Interviews mit verschiedenen Journalisten und anderen Personen. Irgendwie kritisch sind diese Interviews nicht. Ist „Über Medien“ mit dem Preisstifter verbandelt? Waren die Interviews eine Auftragsarbeit?
    6. Wir erfahren nicht, wer die Jury gebildet hat und welche 80 Personen für die Preisträgerin Reschke gestimmt haben.
    7. Nur mit Mühe können wir nachvollziehen, wer sonst noch unter den vielen Preisträgern dieses Jahres 2016 ist und wer früher die Journalisten des Jahres waren. Bernd Ulrich von der „Zeit“ hat den Preis für die Kategorie Politik gewonnen. Und Stefan Kornelius gehörte zu den Gründern von „medium“, also des Preisverleihers. Und Claus Kleber gehört auch zu den Preisträgern. Naja, würde Uwe Krüger dazu sagen. Eine ganze Reihe alter Bekannter aus der Atlantiker-Truppe. Siehe hier zum Vergleich.

      Immerhin könnte man zugestehen, dass Bernd Ulrich über die Steuerung deutscher Journalisten durch Washington offen geschrieben hat. Vielleicht hat er deshalb den Journalistenpreis für Politik bekommen. Wenn das so wäre, dann hätten wir Bernd Ulrich gerne gefeiert. Leider lautet die Begründung anders. Siehe unten Anhang 3.

    8. Die Dankesrede der Preisträgerin (siehe Anhang 1) ist ganz nett. Und im Anspruch groß und in Teilen selbstkritisch. Aber im Kern eben nicht: Frau Reschke sieht das Problem der Beteiligung an Kampagnen nicht. Kampagnenjournalismus gibt es für sie offenbar nicht, obwohl dieser das vorherrschende Erscheinungsbild darstellt.
    9. Die Rede ist ein bisschen nachdenklich. Aber nicht wirklich. Das wird auch sichtbar an einer Nebenbemerkung über „unser demographisches Problem“. Welches denn bitte? – In der Passage über Syrien wird sichtbar, dass auch sie zu jenen gehört, die die Geschichte dieses schrecklichen Krieges ab da erzählen, wo die Russen ins Spiel gekommen sind. Die ungefähr 250.000 Toten des Bürgerkriegs unter westlicher und saudischer Beteiligung und die von westlichen und saudischen Bomben zerstörten Städte sind bei ihr offensichtlich Vergangenheit. Will die Journalistin des Jahres mit solchen einseitigen Teilerzählungen, also mit der heute üblichen Masche, Vertrauen zurückgewinnen? – Dass die Demokratie heute Schaden leidet, dass wer über viel Geld und publizistische Macht verfügt, oft, zu oft bestimmt, welche politischen Entscheidungen getroffen werden – für Frau Reschke kein Thema. Bei diesem wichtigen Thema ist sie nicht mal so weit wie der Gründungsherausgeber der FAZ, Paul Sehte, im Jahre 1965, als dieser feststellte, Pressefreiheit sei die Freiheit von 200 Leuten, ihre Meinung zu äußern.

      Für eine aktive Frau wie Frau Reschke müsste es eine geradezu grandiose Herausforderung sein, das Frauenbündnis Merkel, Liz Mohn von Bertelsmann und Friede Springer von Springer aufzubrechen, jedenfalls aufzuspießen und nicht nur treuherzig über Demokratie zu reden, wo man über quasimonopolisierte Macht reden müsste. – „Sagen, was ist?“ So ist diese Rede überschrieben. Dass Frau Reschke darin ausreichend genug gesagt hätte, was ist, kann ich vor allem bei ihrer unkritischen Einstellung zum Zustand der demokratischen Willensbildung nicht sagen.

    10. Sagen, was ist – dieses Programm hätte auch dazu führen müssen, nach der fachlichen Qualität der meisten Journalistinnen und Journalisten zu fragen. Bei den Lobpreisungen für die Exportüberschüsse, für das Sparen und die angeblich gute Konjunktur müsste man sich dringend Journalisten wünschen, die die Problematik dieser Parolen durchschauen. Unter den heutigen Wirtschaftsjournalisten gibt es kaum welche, die dazu fähig sind. Unter den politischen Journalisten sowieso nicht, was aber nicht naturgemäß so sein müsste.
    11. Wenn Frau Reschke die Formel „Sagen was ist“ auf ihren eigenen Verantwortungsbereich angewandt hätte, dann hätte sie auch vom teilweisen Niedergang des medienkritischen Organs ZAPP sprechen müssen. In der letzten Woche gab es wieder eine Sendung. Diese war informativ und interessant in jenen Passagen, die den dänischen Fernsehjournalisten zur Sprache kommen ließen. In den Teilen über RT Deutsch und über die angebliche Querfront war die beim NDR inzwischen übliche undifferenzierte Betrachtung der Akteure zu erkennen. Wenn ein medienkritisches Organ wie ZAPP von vornherein feindselig und undifferenziert gegen alle kritischen Formate im Internet angeht, dann hat es seine Mission verfehlt. Da die NachDenkSeiten auch zum Hassobjekt von Zapp und des NDR aufgestiegen sind, wissen wir, worüber wir reden. Aber darum geht es heute nicht.

Anhang 1:

Die Preisträgerin, die Jury-Begründung und ihre Dankesrede

Anja Reschke

NDR

Kategorie: JDJ, Platz: 1

Die Jury-Begründung für die Wahl zur “Journalistin des Jahres 2015” lautet:

“Journalistin mit Profil und klarer Haltung: Im Sommer 2015 zeigte Reschke mit ihrem Kommentar ,Aufstand der Anständigen‘ in den ,Tagesthemen‘, was der Journalismus in Zeiten der ,Lügenpresse‘-Vorwürfe braucht: Haltung. Sie hat dafür einen heftigen Shitstorm in Kauf genommen – und sich davon nicht beirren lassen. Kein einzelner journalistischer Beitrag hat in diesem Jahr so viel Wirkung und Wirbel erzeugt wie dieser Kommentar von Anja Reschke. Als neue Innenpolitik-Chefin des NDR gab sie zudem dem Magazin ,Panorama‘ in diesem Jahr stärkere Relevanz und ihren Mitarbeitern die Möglichkeit für aufwendige Recherchen. Vorbildlich.“

Aber was heißt denn das: „Sagen, was ist“?

Hier die Dankesrede von Anja Reschke.

Anlage 2

Der Kommentar, der preisgekrönt worden ist:

Hetze gegen Flüchtlinge Mund aufmachen, Haltung zeigen!

Stand: 05.08.2015 20:09 Uhr

Im Internet wird die Hetze gegen Flüchtlinge immer aggressiver. Doch Strafverfolgung alleine reicht nicht. Die Hassschreiber müssen kapieren, dass die Gesellschaft diese üblen Beschimpfungen nicht akzeptiert. Jeder müsse jetzt Haltung zeigen, meint Anja Reschke.

Von Anja Reschke, NDR

Anlage 3:

Die Preisträger in den anderen Kategorien:

Ein Auszug aus der obigen Liste:

  • Bernd Ulrich
    “Die Zeit”
    Kategorie: Politik, Platz: 1
    “Bernd Ulrich kann Analyse, Einordnung, Leitartikel – zu erstaunlich vielen Themen. ,Die Naivität des Bösen‘ aus dem Oktober 2015 ist eine der pointiertesten Analysen zur Flüchtlingsthematik, die im Strom der Tausenden von Nachrichten auch Wochen und Monate nach Erscheinen noch von ungebrochener Relevanz ist. Auch seine Leitartikel zu Syrien, TTIP, Pegida und Lügenpresse stachen heraus und boten herausragende Orientierung bei der Meinungsbildung.“
  • Claus Kleber
    ZDF, heute journal
    Kategorie: Politik, Platz: 7
    “Er twittere zwischen Genialität und Wahnsinn und sei der authentischte deutsche Nachrichtenmoderator, schrieb die taz ungewohnt versöhnlich über Kleber. Auch 2015 konnte man Kleber nicht böse sein, nein, man musste seine auch selbstironische Art einfach mögen. Kleber präsentiert ansprechend Hintergründe und muss dabei sogar manchmal vor der Kamera eine Träne vergießen.”
  • Stefan Kornelius
    “Süddeutsche Zeitung”
    Kategorie: Politik, Platz: 9
    “Griechenland, Türkei, Russland, Syrien: Außenpolitik ist 2015 wieder wichtig geworden. Umso besser, dass die SZ an der Spitze ihrer außenpolitischen Redaktion einen klar denkenden und argumentierenden Kopf hat, der Orientierung geben kann dank profunder Analyse der weltpolitischen Zusammenhänge. Und der sich nicht scheut, harte Wahrheiten klar auszusprechen – so am 13.9. mit seiner schonungslosen Kritik an der Regierung und dem europäischen Kurs ‘Wir schaffen es doch nicht’ – gegen den Mainstream der medialen Willkommenskultur.”

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