Verfassungsfeinde geben den Ton an.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Wir hatten uns am 13.11. über Tonlage und Inhalt einer Sendung bei Deutschlandradio Kultur gewundert. Leser fanden, wir hätten auf die Inhalte stärker eingehen müssen. Ich hatte gedacht, der Text erschließe sich selbst. Freundlicherweise hat einer unserer Leser uns einen Brief an Deutschlandradio Kultur zur Verfügung gestellt. Siehe unten.
Das ist eine bestimmte, aber immer noch freundliche Kritik. Vielleicht verlangen aber die Zeit und das Gebot, unsere Demokratie und das Grundgesetz streitbar zu verteidigen, eine deutlichere Sprache. Aus meiner Sicht ist der Autor des Beitrags im Deutschlandradio ein Feind unserer Verfassung. Er kann sich mit dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes offensichtlich nicht anfreunden. Und er ist bei weitem nicht allein. Auch und vielleicht gerade bei Deutschlandradio Kultur findet sich eine Ansammlung davon. Acht Tage vorher lief dieses Stück „Über Gleichmacher und Abstiegsängste“ von Ulf Poschardt über den gleichen Sender. Der gleiche Geist – angefüllt von antidemokratischem, elitären Denken, und eingebettet in eine Reihe ähnlicher Stücke. Es ist an der Zeit, die Verfassungsfeindlichkeit dieser Kreise beim Namen zu nennen. Um ein Begriff des unseligen Autors zu benutzen: Auf Samtpfoten werden wir diese soziale Demokratie, soweit sie noch existiert, nicht verteidigen können.
Der Verletzung des Sozialstaatsgebots in der praktischen Politik der letzten Jahrzehnte ist Lothar Kindereit nachgegangen. Er hat sich entschlossen, gegen die Verletzung des Artikel 20 GG zu klagen. Albrecht Müller.

Lothar Kindereit sammelt seit etlichen Jahren Daten, mit denen relativ einfach belegt werden kann, wie ungemein ungerecht die Politik handelt. Wörtlich: „Nicht die schwachen Schultern werden durch die starken gestärkt, sondern es wurde und wird von unten nach oben verschoben. Nun gibt es ja aber den Artikel 20 Grundgesetz, der der Politik und den in ihr Tätigen zur Aufgabe macht, die Entwicklung der Bundesrepublik als Sozialstaat als ständige Aufgabe zu begreifen. Hiergegen ist massiv und immer wieder verstoßen worden. Also überlegte ich, wie ich mich hiergegen wehren kann. In Absprache mit der IG Metall, der ich als Mitglied angehöre, werde ich klagen, von mir aus und ggf. bis zum Bundesverfassungsgericht.“
Hier seine Sammlung von Daten zu den Verstößen gegen den Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes [PDF – 940 KB].

Und hier der Brief unseres Lesers R. Mester …

An die Redaktion des Deutschlandradio Kultur:

Ich freue mich durchaus über die Vielfalt an Meinungen, die im Programm des Deutschlandradio Kultur Niederschlag findet. Nicht selten sind dort Beiträge zu finden, mit denen ich zwar inhaltlich nicht übereinstimmen mag, die sich aber durch sprachliche Brillanz und geschliffene Argumentation auszeichnen. Umso entsetzter bin ich über das Niveau des Beitrages von Oliver Marc Hartwich vom 13.11.2007 mit dem Titel “Kein Zurück ins Paradies: oder Deutschland träumt weiter”.

Ich bin durchaus Freund einer gelungenen Polemik — denn als mehr als eine Polemik wird dieser Beitrag wohl nicht gedacht sein. Aber dennoch wünschte ich mir, dass der Autor einer solchen Schrift mehr mitzuteilen hat als eine Widergabe seiner seelischen Befindlichkeit, die sich als eine unreflektierte Ablehnung von allem zusammenfassen lässt, was “sozial” oder gar “sozialistisch” sein mag — oder von ihm unter diese Schlagworte einsortiert wird.

Ich lese da von einer “staatlichen Vollkasko-Absicherung gegen alle möglichen Unwägbarkeiten des Lebens”, die “die Gesellschaft gelähmt und tiefe Löcher in den Staatshaushalt gerissen hat”, von einem “aufgeblähten Sozialstaat mit seiner Rundumfürsorge”. Der Autor Hartwich, selbst noch relativ jung an Jahren, bleibt einen Nachweis schuldig, wann es einen solchen Staat, eine solche Vollkasko-Absicherung, eine solche Rundumfürsorge jemals gegeben habe. Im Gegensatz zu Herrn Hartwich habe ich die siebziger und achtziger Jahre der Bonner Republik selbst bewusst miterlebt und frage mich, woher der Autor derartige Zerrbilder bezieht. Eine “Rundumfürsorge” hat es nie gegeben, jedenfalls nicht für den weitaus größten Teil der Bevölkerung, aber es gab eine einigermaßen gleichmäßige Teilhabe aller Schichten am gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand. Das was erarbeitet wird – und dies ist Jahr für Jahr in der Bundesrepublik nicht gerade wenig – gerecht unter denen zu verteilen, die zu dessen Entstehung beigetragen haben, wird nämlich durch die vielbeschworene Globalisierung nicht im mindesten verhindert. Wenn es überhaupt punktuell eine “Rundumfürsorge” gibt, dann besteht diese darin, dass seit einigen Jahren die selbsternannten Eliten unseres Landes in geradezu obszöner Gier Derartiges für sich selbst fordern, und zwar in Form von Vergütungen, die schon bei kurzfristigen Tätigkeiten in Vorstandspositionen ein mehr als luxuriöses Leben für viele Jahrzehnte erlauben. Dass bei Vergütungen, die in keinerlei Verhältnis zu tatsächlichen Leistungen stehen, von Anderen Risikobereitschaft und „Eigen“verantwortung eingefordert werden, ist Alltag in Deutschland. Die Verhältnisse im Arbeitsleben der “alten” Bundesrepublik haben es im Gegensatz zu den Unverfrorenheiten, die unsere Lohn- und Vergütungsstrukturen heute bestimmen, erlaubt, dass jedermann, der sich mit Fleiß und Geschick in seinem Beruf engagiert hat, ein anständiges Auskommen hatte. Das Bedürfnis der meisten Menschen nach einem Leben in Sicherheit und Geborgenheit, ohne Ängste vor Arbeitslosigkeit, Krankheit, Verbrechen und Krieg als den “deutschen Drang zur Bequemlichkeit” und die Sehnsucht nach einem „heimeligen, risikolosen Sozialstaatsparadies” zu verhöhnen, mag man einem jungen Schnösel ohne Geschichtsbewusstsein und Lebenserfahrung noch verzeihen, aber nicht einem Chief Economist eines sogenannten Think Tanks. Denn in einem Think Tank sollte das Denken noch erlaubt, wenn nicht sogar gefordert sein.

Vor lauter eiferndem Hohn und Spott über die “Sozialstaatsfetischisten” fällt es Herr Hartwich allem Anschein gar nicht mehr auf, wie wenig er seine Polemik mit wenigstens einem Hauch von Argumenten unterfüttert; außer der alten Parole “Freiheit statt Sozialismus” kommt nicht viel – womit vermutlich die Freiheit derjenigen Bevölkerungskreise gemeint ist, die ihren Lebensunterhalt aus Finanzspekulationen “erwirtschaften” oder die sich aufgrund ihrer hervorragenden eigenen Leistung an der Spitze eines Unternehmens freigiebig aus den Erträgen von Umstrukturierungen, von Privatisierungen, von Lohnzurückhaltung und Lohnsenkungen bei Anderen (siehe Telekom) selbst beschenken. Denn Leistung findet natürlich nur an der Spitze statt, wer wollte das bestreiten? Natürlich kommen die bewährten Verdikte zum Vortrag, dass Arbeitslosigkeit selbst verschuldet ist und auf Faulheit oder Halsstarrigkeit und mangelnde Mobilität zurückzuführen ist. Natürlich darf das Abwatschen von Mitbestimmung, Kündigungsschutz und — als kleiner Gag — der Weihnachtsbutter seligen Angedenkens nicht fehlen; wenn die Argumente schon dürftig sind, so gewinnen sie doch durch stetige Wiederholung bei einfachen Gemütern an Wirkung. Nur die hohen Lohn”neben”kosten habe ich vermisst; diese gehören ja normalerweise zum Pflichtprogramm. Aber ansonsten bewegen wir uns auf vertrauten Pfaden; oft begangen, selten reflektiert. Natürlich ist es auch für Herrn Hartwich als “Chef-Ökonom” nicht nötig zu begründen, was die konjunkturelle Erholung mit dem Schröderschen “Reform”kurs zu tun hat. Natürlich befindet auch er es als unnötig, den seltsamen Widerspruch zwischen der Führungsposition Deutschlands im Export und der Notwendigkeit noch viel, viel “günstiger” zu produzieren, aufzuklären. Natürlich wird auch hier wieder gern auf unspezifische “Erfolge” der Länder mit einem “geringeren Staatsanteil” verwiesen, aber die Zustände in den Ländern mit einem höheren Staatsanteil (wie z.B. in Skandinavien) werden ausgeblendet. Wie es dort zugeht kann und darf ja offensichtlich nicht auf uns übertragen werden, denn das ist ja fast schon sozialistisch. Aber wer ist denn eigentlich dieser mysteriöse Staat, als dessen Widersacher sich Herr Hartwich allem Anschein nach empfindet?

Wenn der Beitrag von Herrn Hartwich als Bereicherung im Kultur-Ressort konzipiert war, ist er einfach nur misslungen; aber vielleicht ist ja ein Nachdruck in der Bildzeitung möglich. Als Propagandaartikel zur Festigung des Weltbildes derjenigen Zeitgenossen, denen Soziales und die sogenannte Gesellschaft (sofern es nicht die “Society” ist) sowieso zuwider ist, ist Oliver Marc Hartwichs Artikel allerdings allerbestens geeignet.

R.Mester

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