Nicht wundern – handeln!
Ob Libor, Edelmetallpreise oder Devisenkurse – die Skandale um tatsächliche oder vorgebliche Manipulationen von Finanz-Referenzwerten häufen sich. Am letzten Mittwoch verdonnerte die EU-Kommission sechs Großbanken wegen der Manipulation von Zinssätzen zu einer Kartellbuße von 1,7 Milliarden Euro. Die Deutsche Bank war mit 725 Millionen Euro dabei. Dass solche Skandale immer wieder publik werden, ist schlimm genug. Erstaunlich ist jedoch die in den Medien regelmäßig artikulierte Verwunderung über die Auswüchse eines längst aus dem Ruder gelaufenen Finanzsystems. Von Günther Wierichs[*]
Diese Verwunderung ist völlig fehl am Platze, denn seit dem großen Lehmann-Knall vor gut fünf Jahren hat sich hinsichtlich einer dringend notwendigen Zähmung oder Eindämmung des spekulationsgetriebenen Agierens der Finanzmarktakteure nichts Grundlegendes geändert. Es sind vor allem zwei Faktoren, die dieses Agieren nach wie vor kennzeichnen.
- Hohe Volumen, verbunden mit ungeheuerer Marktmacht
An den internationalen Finanzmärkten werden nahezu unvorstellbare Summen gehandelt. Beispiel Devisen: Hier gehen weltweit tagtäglich etwa 5.300 Milliarden US-Dollar über den virtuellen Tisch. Dies sind, bezogen auf 24 Stunden, mehr als 61 Millionen Dollar in jeder Sekunde. (An den internationalen Devisenmärkten wird aufgrund der unterschiedlichen Zeitzonen “rund um die Uhr” gehandelt; darauf sind Devisenhändler sogar richtig stolz.) Wenn es den Händlern also gelingt, einen Kurs minimal, zum Beispiel in der vierten Nachkommastelle, auch nur für eine Sekunde zu ihrem Gunsten zu manipulieren, winkt ein Profit in fünfstelliger Höhe. Hinzu kommt die Marktmacht der big player: Allein die vier größten unter ihnen – Deutsche Bank, Citibank, Barclays und UBS – vereinigen mehr als die Hälfte des Gesamtvolumens auf sich. Immense Transaktionsgrößen und Marktmacht gehen so Hand in Hand mit einer nach wie vor signifikant ausgeprägten Renditefixierung der Branchenvertreter. (Man trägt die legendäre 25-Prozent-Vorgabe des seinerzeitigen Chefs der Deutschen Bank, Josef Ackermann, aus dem Jahr 2005 irgendwie immer noch im Herzen.) - Fehlende Kontrollen an den entscheidenden Stellen
Es ist schon makaber. Da beklagen sich die Vertreter der Finanzbranche regelmäßig über “mehr Regulierung” oder “restriktive neue Vorschriften”, gleichzeitig wird durch die jüngsten Skandale jedoch mehr als deutlich, dass die Händler der Kreditinstitute genau dort, wo ein Mindestmaß an Kontrolle und Plausibilitätssprüfung dringend erforderlich wäre, völlig frei schalten und walten können. Kommen wir wieder auf das Beispiel Devisen zurück: Täglich wird in London um 16 Uhr ein so genanntes Währungsfixing vorgenommen. Dabei werden die Kurse mehrerer Währungspaare, zum Beispiel Euro – Dollar oder Euro – Yen, in Form einer Art Blitzlicht ermittelt: Es werden alle Transaktionen erfasst, die zwischen 15 Uhr 59 und 30 Sekunden bis 16 Uhr und 30 Sekunden über das Fixing-Handelssystem abgewickelt werden. Die innerhalb dieser Minute berechneten Kurse sind dann Grundlage für viele Währungsumrechnungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Wertermittlung von ausländischen Aktien oder Anleihen eines Investmentfonds. Da Devisenhändler die jeweilige Marklage an einem Tag aufgrund der bis zum Zeitpunkt des Fixings bereits vorliegenden Aufträge recht gut abschätzen können und somit ahnen, wohin sich der Kurs entwickeln wird, können sie rechzeitig Transaktionen auf eigene Rechnung vornehmen und so einen schönen Profit herausschlagen. Zeichnet sich beispielsweise ab, dass der Euro gegenüber einer bestimmten Währung beim Fixing aufgrund einer hohen Zahl vom Euro-Verkaufsaufträgen an Wert verlieren wird, verkauft der Händler eine eigene Euro-Position zum zurvor höheren Kurs, um den erhaltenen Gegenwert nach dem Fixing wieder in einen größeren Eurobetrag umzutauschen. (Die Fremdwährung ist ja nach dem Fixing “wertvoller” geworden, daher erhält er beim Rücktausch mehr Euro, als er zuvor investiert hat.) Das Sahnehäubchen hierbei ist dann eine Manipulation des Kurses rund um das Fixing – durch Absprachen der Händler untereinander können die Transaktionen so gesteuert werden, dass eine gewünschte Kursrichtung für eine bestimmte Währung eingeschlagen wird. Solche Gewinnmitnahmen aufgrund vorgezogener Transaktionen auf eigene Rechnung und Kursmanipulationen sind in allen Fixingsystemen möglich, also nicht nur bei Devisen, sondern zum Beispiel auch im Zusammenhang mit Gold- oder Silberpreisen. Im Gegensatz zum jüngst aufgedeckten Zinsmanipulationsskandal wird hier noch ermittelt. Bereits jetzt wird jedoch deutlich, wie anfällig die ohne Kontrollmechanismen laufenden Preisfeststellungssysteme für illegales Handeln sind.Geradezu aberwitzig wird die Sache bei den Zinsfeststellungssystemen. Beispiel Libor bzw. Euribor: Hierbei handelt es sich um so genannte Referenzzinssätze, die als Grundlage für unzählige Finanzprodukte fungieren, darunter auch ganz alltägliche wie Baudarlehen oder Kontoüberziehungskredite (“Dispo”). Allein der in London ermittelte Libor vereinigt ein Geschäftsvolumen von etwa 500.000 Milliarden US-Dollar auf sich. Ermittelt wird der Libor aufgrund von Meldungen einer Handvoll Geschäftsbanken. Diese informieren eine zentrale Stelle telefonisch darüber, zu welchem Zinssatz sie einer anderen Bank einen Kredit gewähren würden. Wohlgemerkt: Würden! Es geht nämlich nicht um reale Transaktionen, die auch wirklich stattfinden bzw. stattgefunden haben (immerhin liegen solche realen Transaktionen beim Devisenfixing noch vor), sondern quasi um Absichtserklärungen. Absichten zu äußern, so wissen wir alle, ist billig; man muss die Absicht, die man kundgetan hat, ja nicht wirklich verfolgen. Absichtserklärungen, an denen Geschäftsvolumina in Billionenhöhe hängen, sind da schon eine andere Nummer. Besonders erschreckend ist hierbei, dass auch beim Zinsfixing jegliche Kontrolle fehlt. Anders kann man sich den jetzt aufgedeckten Skandal nicht erklären.
Die Fälle, in denen Banken mit satten Strafzahlungen belegt werden, häufen sich. Die von der EU-Kommission verhängten 1,7 Milliarden Euro nehmen sich, gemessen an der Rekordstrafe von umgerechnet knapp 10 Milliarden Euro, zu der kürzlich die amerikanische Großbank JP Morgan wegen ihrer dubiosen Immobilienkredite zur Kasse gebeten wurde, fast bescheiden aus. Solche Strafzahlungen sind für die betroffenen Banken gewiss schmerzlich. Angesichts des weiterhin enormen Gewinnpotenzials tun die Geldbußen ihnen jedoch nicht wirklich weh. Schlimmer ist da schon der Imageschaden. Aber was nützt das alles; es bedarf härterer Maßnahmen. Allgemein werden jetzt natürlich schärfere Kontrollen im Zusammenhang mit Zins- und Kusfeststellungssystemen gefordert. Schön und gut, aber was ist mit Maßnahmen, die nicht nur ein Herumdoktern am bestehenden System darstellen, sondern zu einem wirklichen Systemwechsel führen? Solche Maßnahmen gibt es. Sie werden bereits seit langem diskutiert und reichen von einer Finanztransaktionssteuer über ein Verbot bestimmter Derivate, ein Unterbinden von Eigenhandelstätigkeiten der Banken bis hin zur Abtrennung des spekulativen Investmentbanking vom regulären Bankgeschäft. Aber zur Umsetzung solcher Maßnahmen fehlte unseren Politikern bislang der Mut. Die Macht der Finanzlobby ist immer noch zu groß. Konsequente Maßnahmen sind jedoch notwendiger denn je. Denn dies ist das Gebot der Stunde: Nicht wundern – handeln!
[«*] Günter Wierichs (* 1955) studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und promovierte zum Dr. rer. pol. Er arbeitet als Fachleiter am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Düsseldorf und ist Autor mehrerer Lehrbücher, eines Bank- und Börsenlexikons sowie zahlreicher Aufsätze zu wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Themen. Ende August 2013 erschien im Westend-Verlag sein Buch: „Das kritische Finanzlexikon“.