Günter Grass lässt sich leider wieder einmal in eine Kampagne einspannen – wie schon des Öfteren seit 40 Jahren. Und diesmal besonders komisch: zugunsten des Machterhalts von Merkel.
Günter Grass meint in einem von der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Gespräch mit Manfred Bissinger, Lafontaine sei ein „Hemmnis“ auf dem Weg zu einem möglichen Bündnis zwischen SPD und Linkspartei. Lafontaine halte die Linkspartei mit seiner „Verweigerungsstrategie“ davon ab, Verantwortung zu übernehmen. Diese Attacke ist aus vielerlei Gründen absurd. Zum einen gab es diese Verweigerungsstrategie nie, sie war immer nur behauptet, von außen und von innerparteilichen Gegnern des früheren Vorsitzenden der Linkspartei; zum anderen kann Oskar Lafontaine schon deshalb kein Hemmnis mehr sein, weil er bundespolitisch – leider – keine entscheidende Rolle mehr spielt. Die abstruse Fehleinschätzung des Günter Grass passt gut ins Bild eines Intellektuellen, der gar keiner mehr ist. Er analysiert nicht eigenständig und macht sich zum Opfer clever angelegter Kampagnen. Das kam in den letzten 40 Jahren des Öfteren vor. Albrecht Müller.
„Günter Grass rechnet mit Lafontaine ab“ – das ist die – ironisch angemerkt: ungemein aktuelle -Schlagzeile der heutigen Süddeutschen Zeitung. Eine Kurzfassung der aggressiven Äußerungen zu Lafontaine findet sich in diesem Aufmacher. Das Interview selbst ist elektronisch nicht verfügbar. Es enthält aber einige erstaunliche Fehleinschätzungen und Widersprüche:
Zum Beispiel: Günter Grass beklagt, wir würden „weltweit gerade einen Höhepunkt der Bereicherung auf der einen und der Verarmung bis hin zur Verelendung auf der anderen Seite erleben“ und lobt dann Schröders Agenda-Politik als mutig und als überfällige Weichenstellung. Vermutlich durchschaut Grass gar nicht, dass die Agenda-Politik in Deutschland wesentlich zum Ausbau eines Niedriglohnsektors und damit zur Verarmung beigetragen hat. Konsequenterweise sieht er auch den Zusammenhang zwischen Agenda 2010 bedingter Niedriglohnpolitik bei uns und der Verarmung und Verelendung in südeuropäischen Staaten nicht.
Zum Beispiel: Besonders drollig ist die Vorstellung des 85-jährigen Schriftstellers zur möglichen Revision grundlegender gesellschaftspolitischer Entscheidungen. Ich zitiere eine längere Passage:
„Schröder hat mit der Agenda-Politik Mut bewiesen, aber nicht die Nerven gehabt, dieses Programm gleich bei den ersten Schwachstellen, die sich sehr rasch bemerkbar machten, zu korrigieren“.
Und weiter:
„Ich bin ein eingefleischte Revisionist und weiß, dass alles, auch jedes Unrecht, das durch eine Reform beseitigt werden soll, sofort ein neues Unrecht schafft. Die Reformer müssen dann offen dafür sein, dies zu erkennen und zu korrigieren.“
Wie soll das denn gehen, lieber Günter Grass?
- Zuerst die Arbeitslosenversicherung mit den Hartzgesetzen de facto abschaffen und dann durch Revision wieder einführen? Grass übersieht die Zerstörung der sozialen Sicherung durch die de facto Abschaffung der Arbeitslosenversicherung. Mit kleinen Revisionen lässt sich die grundsätzliche Schwächung der Arbeitnehmerschaft und der Gewerkschaften durch die Agenda 2010 nicht revidieren.
- Zuerst Arbeitsverwaltung weit gehend kommerzialisieren und dann wieder korrigieren? Wie soll das gehen? Herrn Weise wieder in die Wüste schicken? Die Gebäude und das konservative Personal der Arbeitsagenturen wieder einreisen?
- Zuerst die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rentenversicherung systematisch und in mehreren Schritten verringern, die Privatvorsorge mit Zulagen und steuerlich fördern, und dann wieder zurück? Grass hat die Dimension der Veränderungen nicht begriffen. Sein Schwadronieren von der Revision ist leichtfertig.
- Zuerst Leiharbeit fördern, entsprechende Unternehmen durch gesetzliche Förderung aufbauen, und dann sagen: Pustekuchen. Wie stellt sich Grass das vor?
- Öffentliche Unternehmen privatisieren und dann verkünden: wir haben uns getäuscht?
- Kommunale und landeseigene Wohnungsbestände an Hedgefonds verkaufen und dann, wenn die Mieter dafür blechen müssen, verkünden: es tut uns leid, wir sind Revisionisten und revidieren?
Diese Vorstellungen von politischen Abläufen und Möglichkeiten eignen sich fürs Kabarett aber nicht für die politische Wirklichkeit. Durch die Schröder’sche und die vorherige Kohl’sche Reformpolitik wurden und werden Fakten geschaffen. Nicht einmal die Steuerbefreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen, die Schröder im Rahmen seiner Agenda-Politik zum 1.1.2002 eingeführt hat, ist bisher revidiert worden.
Lieber Günter Grass, man muss ein paar Fakten parat haben, selbst dann, wenn man nur ein Revisionist sein will.
Auch die Angriffe auf Lafontaine wegen seines Rücktritts im Jahr 1999 führt Günter Grass ohne Rücksicht auf die Tatsachen. Er behauptet, Lafontaine habe damals „eine Wende um 180° inszeniert“. Offenbar hat Günter Grass keine Ahnung von den damaligen Bewegungen und Kampagnen:
- Er hat nicht mitgekriegt, dass Schröder noch vor der Wahl zum Bundeskanzler und ohne Rücksprache mit dem Vorsitzenden seiner Partei, Oskar Lafontaine, den USA die Beteiligung am Kosovo Krieg zugesagt hat.
- Grass hat offenbar nicht mitgekriegt oder verdrängt, dass Oskar Lafontaine als Bundesfinanzminister Regulierungen der Finanzmärkte in internationale Verhandlungen eingebracht hatte und deshalb auch von ausländischen Institutionen und Medien heftig attackiert wurde, zum Beispiel vom Blatt des – in der Sprache von Günter Grass: schmierigen – Medienunternehmers Murdoch, der britischen „SUN“. Das Blatt nannte den deutschen Finanzminister und SPD-Vorsitzenden den gefährlichsten Mann Europas.
Von einer Wende um 180° durch Lafontaine kann keine Rede sein. Und wenn damals ein „schmieriger Verrat“ – so der Vorwurf von Grass an Lafontaine – stattgefunden hat, dann von Seiten Schröders und seinen Freunden an den Werten der SPD. Konsequenterweise haben damals viele SPD Mitglieder die Partei verlassen.
Dass Günter Grass entgegen den Fakten heute Falsches über Lafontaines Rücktritt behaupten kann, verdankt er einer fast schon wasserdichten Kampagne gegen Oskar Lafontaine und für Militäreinsätze und für die so genannte Reformpolitik. Dass Lafontaine hingeschmissen habe, dass er seine Partei verraten habe, ist tausendfach und im Verein von Rechtskonservativen, Sozialdemokraten und den dazugehörigen Medien in die Köpfe der Menschen gehämmert worden.
Wenn dann Günter Grass gegen Ende des Gesprächs feststellt, die „freiwillige Preisgabe einer unabhängigen und widerspruchsvollen Pressekultur sei zur Zeit die größte Gefahr die unserer Demokratie droht“, dann kann man angesichts seiner eigenen Nutzung und Abhängigkeit von Kampagnen dieser Medien nur noch weinen.
Günter Grass hat zum ersten Kanzlerwechsel 1969 beigetragen. Das war sehr verdienstvoll.
Günter Grass war 1969 als Kopf der Sozialdemokratischen Wählerinitiative (SWI) ein großer Redner und Wahlkampfhelfer der SPD. Damals hatte ich als Redenschreiber des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller und zugleich als sein Beauftragter für den wirtschaftspolitischen Teil des Wahlkampfes mit Grass zu tun, dann nach der Wahl und bis 1972 als Verantwortlicher für den Wahlkampf Willy Brandts und der SPD. Günter Grass hat ohne Zweifel bewundernswert mitgeholfen, nach 20 Jahren CDU-Herrschaft 1969 den Kanzlerwechsel zu schaffen und dann auch im Wahlkampf 1972 dazu beigetragen, der SPD neue Wählerschichten zu erschließen. Mit ihm zusammenzuarbeiten war angenehm und spannend. Aber dann habe ich damals schon die andere Seite kennen lernen müssen – immer wieder ein den laufenden Kampagnen zugetaner und damit enttäuschender Günter Grass.
Das begann schon 1972 und dann vermehrt 1973 und 1974. Günter Grass hat die spätestens 1972 massiv einsetzenden Intrigen gegen Brandt nicht erkannt und die Intriganten verkannt. Typisch dafür ist die Fehleinschätzung Herbert Wehners durch Günter Grass. Ein schöner Beleg dafür findet sich in einem Brief von Günter Grass an Willy Brandt vom 22. Dezember 1972. Dort beklagte er mit Recht die Fraktionsbildung innerhalb der SPD und meinte dann: „Nur wenn es Dir und Herbert Wehner gelingt, die gefährlichste Fraktion, nämlich die der Kanalarbeiter, aufzulösen, besteht Aussicht …“ Das schrieb Grass gerade mal wenige Tage, nachdem Herbert Wehner die Aufzeichnungen des kranken Willy Brandts zu den Koalitionsverhandlungen mit der FDP in seiner Aktentasche „vergessen“ hatte und zusammen mit Helmut Schmidt den Wahlsieg Willy Brandts an die FDP verschenkt hatte. Herbert Wehner hat seit 1970 unentwegt gegen Willy Brandt gestänkert. Die Vorstellung, Wehner wäre bereit, zusammen mit Willy Brandt die Kanalarbeiter, also die Volksausgabe der damals gerade gegründeten Seeheimer, aufzulösen, musste bei Brandt Verwunderung auslösen. Es ist eine Art Treppenwitz der SPD Geschichte.
Günter Grass dachte damals, seine Wahlkampf-Arbeit für die Sozialdemokratische Wählerinitiative prädestiniere ihn zu einer Art Sonderberater Willy Brandts. Willy Brandt hat darauf mit Zurückhaltung reagiert. Das ist in des Büroleiters von Brandt, in Reinhard Wilkes Termintagebuch „Meine Jahre mit Willy Brandt“ beschrieben. Günter Grass hat sich enttäuscht dann in die Reihen der Nörgler eingereiht. Er hat damals nachgebetet, was Teil der gängigen Aggressionen gegen Brandt war – dieser sei zwar stark in der Außenpolitik aber schwach in der Innenpolitik. Das ist eine Erfindung von Brandts innerparteilichen Gegnern und der parteipolitischen Konkurrenz. Und es ist typisch, dass sich auch Günter Grass in diese gängigen Vorurteile einbettet, so auch in dem in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten Gespräch. Nebenbei: Die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Erfolgsbilanz Willy Brandts habe ich in „Meinungsmache“ und bei anderen Gelegenheiten in den NachDenkSeiten beschrieben. Aber das ist vermutlich ein vergeblicher Versuch zur Korrektur von Vorurteilen. Wenn der politische Gegner, die innerparteilichen Gegner, die Medien und die Historiker den gleichen Unsinn sagen und schreiben, dann wird die Lüge zur Wahrheit und geht in die Geschichte ein (George Orwell).
Willy Brandt war damals, 1973 und 1974, von Günter Grass enttäuscht. Später sprach er auch im Blick auf Grass von Klugscheißern – eine Verbalinjurie mit Wahrheitsgehalt.
Zusammenfassung und Fazit:
- Günter Grass hat die spätestens 1972 massiv einsetzende Kampagne gegen Brandt nicht erkannt und sich in die Reihen der Nörgler eingereiht.
- Günter Grass hat 1998 und 1999 die Vorgänge nicht annähernd richtig erfasst, die zum Rücktritt Oskar Lafontaines führten und plappert bis heute die Version nach, die im Verein von Schröders SPD, von konservativen Kreisen und der Finanzwirtschaft ausgedacht und herumposaunt wird.
- Günter Grass befürwortet Schröders Agenda 2010 und hat sich nicht gegen die Kriegseinsätze im Kosovo- und Afghanistan Krieg erhoben.
- Und jetzt klappert Günter Grass die Vorwände gegen das Zu-Stande-Kommen einer linken Alternative zu Angela Merkel nach. Ein Trauerspiel des Niedergangs eines großen Kopfes.
- Wahrscheinlich soll Grass helfen, die Wahlchancen der Linkspartei, insbesondere im Westen, zu mindern. Das ist in der Konsequenz eine Hilfe für Angela Merkel. Denn nur mit einer starken Linkspartei wird es überhaupt die Chance geben, zu einem Machtwechsel zu kommen. Wie auch immer – als linke Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei oder als Minderheitsregierung von SPD und Grünen bei Duldung durch die Linkspartei.
- Wer eine inhaltliche Veränderung will, der muss gerade den Rest der Lafontaine-Linken stärken. Sie sind die einzigen im gesamten Parteiengefüge, die auf den Abschied von der Agenda 2010 und von Militäreinsätzen als Fortsetzung der Politik pochen.
P.S.: Das Grass Interview in der Süddeutschen Zeitung stammt aus einem in diesen Tagen erscheinenden Buch über August Bebel mit dem Titel „Was würde Bebel dazu sagen?“. Nachdem das Grass-Interview erschienen ist, werde ich mir erlauben, meinen Text für dieses Buch in den nächsten Tagen auf den NachDenkSeiten zu veröffentlichen. Wenn die Süddeutsche Zeitung oder ein anderes Blatt den Text veröffentlichen will, gerne.